„Digitalisierung“ ist das Buzzword der letzten Jahre schlechthin. Kaum eine Veranstaltung oder Publikation zum Thema Digitalisierung ist ohne den obligatorischen Hinweis vorstellbar, dass die Digitalisierung mittlerweile omnipräsent sei. Diese gefühlte Omnipräsenz wurde durch die Corona-Pandemie nochmals verstärkt, als Home-Office, Home-Schooling und Home-Networking per Videokonferenzen während des Lockdowns über Nacht zum Allgemeingut wurden. Gut, wer da entsprechend ausgerüstet war – sowohl mit dem entsprechenden Equipment als auch einem Home-Office-fähigen Beruf. Sichtbar wurden dabei auch längst bestehende digitale Ungleichheiten (Brake 2014; Wei 2012; Min 2010). Das erinnert daran, dass Digitalisierung und Digitalität als qualitativ transformative und insofern performative Prozesse bereits seit mehr als fünf Dekaden auf das gesellschaftspolitische Miteinander einwirken – und letzten Endes auch auf die Demokratie.

1 Digitalisierung und Demokratie

Der Zusammenhang von Digitalisierung und Demokratie ist heute in einer Phase, die als Formationsphase hin zu einer digitalisierten Demokratie gelten kann und ist weiterhin Gegenstand akademischer und gesellschaftlicher Diskussionen. Bis vor wenigen Jahren dominierte ein Verständnis, wonach das Internet als eine Art Naturphänomen über die gesellschaftlichen und politischen Systeme der Welt geradezu hereinzubrechen schien, was zunächst zur Frage führte, ob diese Entwicklung positive oder negative Effekte auf die demokratischen Systeme westlicher Gesellschaften haben würde (Bieber 2001; Kneuer 2013; Marschall 1998; Weiß 1998). Die Erwartungshaltung oszillierte dabei zwischen utopischen Visionen eines technologiegestützten Auswegs aus der Krise der repräsentativen Demokratie (Rheingold 1993) und dystopischen Szenarien eines Online-Überwachungsstaats (Dahlberg 2011 für eine Übersicht; Miller und Vaccari 2020). Zwischen den Polen fand sich zudem ein Plädoyer für eine „netzrealistische Betrachtung“ (Kneuer 2013, S. 8), d. h. einer Differenzierung der Folgen der Digitalisierung in Bezug auf kleinteiligere Untersuchungsgegenstände, um in der Gesamtschau eine bessere Gegenüberstellung positiver und negativer Effekte hinsichtlich ihrer Wirkungsperspektive zu erzielen.

Obwohl Studien unter dieser Prämisse wertvolle Erkenntnisse lieferten und auch weiterhin erbringen, wächst ein Unbehagen über die unidirektionale Perspektive eines Einflusses „des Internets“ auf „die Demokratie“. Aktuelle Reflektionen kreisen daher um die Idee, dass das Internet, das Web 2.0, Algorithmen und andere digitale Anwendungen durch menschliche Entscheidungen hervorgebrachte Ausprägungen digitaler Technologie darstellen und daher nicht deterministisch verstanden werden sollten (Hofmann 2019; Helbing 2019; Schröder und Schwanebeck 2017). Statt eines neutralen Übertragungskanals bildeten die spezifischen Anwendungen, in Form neuer sozialer Medien, Möglichkeitsräume für unterschiedliche Handlungsoptionen im demokratischen System. Politisches Handeln und Kommunikationsmedien beeinflussen sich wechselseitig. Ihre gegenwärtige Form ist dabei Ausprägung vergangener Entwicklungsentscheidungen und Nutzungserfahrungen sowie umgekehrt. So wirken aktuelle Anwendungen digitaler Technologie durchaus auf die Entwicklung der Demokratie, wie es seit vielen Jahren untersucht wird; zugleich prägen allerdings gesellschaftspolitische Entwicklungen die weitere Richtung eines Formwandels der Digitalisierung, besonders sichtbar in neuen Kommunikationsmedien. Die sich herausbildenden Formen dieses ko-evolutionären Entwicklungsprozesses von Demokratie und Digitalisierung sind derzeit erst in Ansätzen erkennbar (Thaa und Volk 2018).

Dieses Heft der Zeitschrift für Politikwissenschaft erkundet die verschiedenen Bereiche des demokratischen Formwandels angesichts spezifischer Nutzungsweisen digitaler Technologie. Statt eines umfassenden und systematischen AufarbeitensFootnote 1 werden Schlaglichter auf verschiedene Phänomene geworfen, welche sich in der Gesamtschau zu einer vorläufigen Zustandsbeschreibung der digitalisierten Demokratie zusammenfügen. Gemeinsam ist den Beiträgen des Bandes die Suche nach Mustern in den sozialen Interaktionen, die auf Datafizierung, Vernetzung und Algorithmisierung in digitalen Anwendungen aufbauen. Dass dabei auch, aber nicht nur, die bekannten sozialen Medien Facebook und Twitter im Fokus stehen, verdeutlicht die angesprochene Bandbreite digitaler Möglichkeiten, die eine gegenwärtige, aber keinesfalls endgültige Form digitaler Kommunikations- und Beteiligungsmedien repräsentieren.

Im Fokus stehen einerseits digitalisierte Öffentlichkeiten, die, anders als etablierte Massenmedien, von einem aktiven, produktiven, vernetzten und permanent sendenden Publikum geprägt sind (Dohle et al. 2014; Henn et al. 2016; Hepp et al. 2018). In sozialen Medien wird Kommunikation räumlich und zeitlich entgrenzt, situativ und ständig vervielfältigt – und das bei einer Permanenz der produzierten Daten. Für eine Mediendemokratie bedeutet das eine Herausforderung bezüglich der politischen Willensbildung im herkömmlichen Sinne, da Populismus, Falschinformationen, Hass und Hetze sich schnell ausbreiten können (Tucker et al. 2017). Dies setzt Regierungen, Parteien, Medien und gesellschaftliche AkteurInnen gleichermaßen unter Druck, da politische Kommunikation selbst Teil der Politik ist (Saxer 1998, S. 25; Geisler und Sarcinelli 2002, S. 62; Korte und Fröhlich 2009, S. 101,), was insbesondere in Wahlkampfzeiten, den „Hochzeiten politischer Kommunikation“ (Korte et al. 2018, S. 194), deutlich wird.

Andererseits wird ein Blick auf aktuelle Entwicklungen im Bereich der digitalen Partizipation geworfen. Hier treffen Anwendungen digitalisierter Kommunikation und bekannte Strukturen politischer Partizipation aufeinander (Kersting 2019). Neben digitalen Formen von Wahlentscheidungen über Personen und Sachfragen geht es dabei auch um deliberative und unverbindliche Formen der digitalen Partizipation, bei denen BürgerInnen Fragen gemeinsam diskutieren und nur teilweise anschließend darüber entscheiden. Demokratietheoretisch ist die kritische Hinterfragung angebracht, inwiefern politische Institutionen digitale kommunikative Beteiligung ohne Entscheidungsrecht als postdemokratische Reaktion auf Massenkommunikation und Beteiligungsforderung in Stellung bringen (Stalder 2016, S. 206; Crouch 2008). Anwendungsfälle finden sich insbesondere auf der lokalen Ebene, z. B. bei der Planung kommunaler Infrastrukturprojekte. Von deliberativer Beteiligung unterschieden werden sollte allerdings die demonstrative Partizipation, die von Seiten der Beteiligten größtenteils auf Expressivität und nur manchmal auf Deliberation ausgerichtet ist (Kersting 2019, S. 111). Äußerungen in sozialen Medien können je nach Betrachtung deliberativen oder expressiven Charakter tragen, ähnlich wie es von Parlamentsdebatten (deliberativ) oder Demonstrationen (expressiv) bekannt ist: Nicht alle Äußerungen zielen auf argumentativen Austausch. Forschungsleitende Fragen werden in Bezug auf Anwendungsfälle digitaler Partizipation in Richtung von Zielen, Effizienz und Effektivität, Inklusivität oder Gründen für spezifische Nutzungsmuster gestellt.

Die zusammenführende Perspektive aus Betrachtungen von digitalen Anwendungen, welche von Behörden oder politischen Organisationen bereitgestellt werden, sowie Art und Umfang der Nutzung dieser Anwendungen bergen Erkenntnisse über möglicherweise darin angelegte Ungleichheiten. Somit ist die Forschung zu digitaler Partizipation grundlegend für eine normativ geleitete Weiterentwicklung digitaler Anwendungen, welche die digitalen Spaltungen in der partizipativen Demokratie verringern oder vermeiden soll.

2 Die Beiträge

Zum Auftakt des Bandes wird ein theoretisch-konzeptioneller Blick auf den Zusammenhang von Digitalisierung und Demokratie geworfen. Im ersten Beitrag erarbeiten Sebastian Berg, Niklas Rakowski und Thorsten Thiel ein politikwissenschaftliches Verständnis von Digitalisierung auf Basis der Wechselwirkung technischer und gesellschaftlicher Entwicklungen. Nach einer Rekonstruktion von Digitalisierungsverständnissen aus den Nachbardisziplinen der Soziologie und der Rechtswissenschaft (Baecker, Nassehi, Reckwitz, Stalder und Vesting) schlagen sie eine Perspektive des Formwandels der Demokratie in der digitalen Konstellation vor, deren Konzeptualisierung von Politik und Demokratie über die der Nachbardisziplinen hinausgeht. Exemplifiziert wird ihre theoretische Perspektive am Wandel der Repräsentation in der digitalen Konstellation.

Anschließend steht das Thema digitale Öffentlichkeiten im Fokus der folgenden drei Beiträge. Pablo Joost, Marc Ziegele und Teresa K. Naab widmen sich im zweiten Beitrag des Bandes dem Diskussionsklima auf Facebook. Sie untersuchen begünstigende und hemmende Bedingungen für eine digitale Zivilcourage, d. h. ein Einschreiten in Online-Diskussionen, die von Aggression, Drohungen, Beleidigungen oder Abwertungen geprägt sind. Ihr Fallbeispiel der Gruppe #ichbinhier zeigt unterschiedliche Bedingungen für ein Einschreiten mittels eigener Kommentare im Gegensatz zum Einschreiten durch Bewertung bereits vorhandener Kommentare. Eine politisch geprägte Nutzung der Plattform, ein Gefühl persönlicher Verantwortung und eine Erwartung, dass das Diskussionsklima sich nach dem Einschreiten verbessere, bilden hingegen die gemeinsame Grundlage der digitalen Zivilcourage.

Auch der dritte Beitrag beschäftigt sich mit der Kommunikation der NutzerInnen auf Facebook und betrachtet dabei den Austausch mit den politischen Parteien. Elina Spieß, Dennis Frieß und Anne Schulz widmen sich dem Phänomen des Populismus, der durch die spezifischen Strukturen sozialer Medien zu florieren scheint. Ihre explorative Untersuchung der Facebook-Seiten von AfD, CDU und SPD bringt dabei erstmals den Populismusgehalt von Parteikommunikation mit dem Populismusgehalt der NutzerInnenkommentare unter den Posts der Parteien in Verbindung. Während Initialposts der AfD den höchsten Populismusgehalt aufweisen, sind es bei den Kommentaren die NutzerInnen der CDU. Bei beiden Parteien wird zudem nachgewiesen, dass von Populismus geprägte Kommunikation der Parteien ebenfalls populistische Anschlusskommunikation nach sich zieht, was für die SPD allerdings nicht festgestellt werden konnte.

Anschließend wird im vierten Beitrag, ebenfalls zum Thema digitale Öffentlichkeiten, der Fokus auf die Rolle des Journalismus in sozialen Medien gelenkt. Christian Nuernbergk untersucht die Gruppe der NutzerInnen von Twitter, die mit PolitikjournalistInnen in direkten Kontakt treten, indem er fragt, wer den Kontakt zu PolitikjournalistInnen sucht und mit welcher Motivation dies geschieht. Er zeigt auf, dass es den Twitter-NutzerInnen vorrangig um Expressivität geht, teilweise aber auch um deliberative Motive, da auch das Weitergeben von Feedback intendiert wird.

Die folgenden drei Beiträge behandeln das Thema digitale Partizipation. Zunächst werfen Bastian Rottinghaus und Tobias Escher im fünften Beitrag des Heftes einen Blick auf digitale BürgerInnenbeteiligungsverfahren zur Fahrradinfrastruktur in den drei nordrhein-westfälischen Städten Köln, Bonn und Moers. In ihrem Beitrag spüren sie den Bedingungen nach, die eine politische Beteiligung über digitale Instrumente begünstigen oder erschweren und suchen nach Maßnahmen, die eine gleichere Beteiligung fördern könnten. Ihre Ergebnisse bestätigen frühere Erkenntnisse über eine Verzerrung der Beteiligung in Richtung männlicher Bürger mittleren Alters mit überdurchschnittlicher Bildung, überdurchschnittlichem Einkommen sowie einem ausgeprägten Gefühl von Selbstwirksamkeit. Demgegenüber zeigen sie, dass die Informationen über den Beteiligungsprozess in den von ihnen untersuchten Fällen zwar gering, dafür aber gleich verteilt war. Was die Menschen allgemein zur Beteiligung in den untersuchten Verfahren anregte, war die eigene Betroffenheit, d. h. in diesem Fall sowohl die Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Fahrradinfrastruktur, als auch das Interesse an Verbesserungen, da man die Infrastruktur selbst zu nutzen beabsichtigt. Der Umstand, dass das Verfahren digital organisiert wurde, war einigen Menschen ein Beteiligungshindernis.

Im sechsten Beitrag des Heftes untersuchen Julia Schwanholz und Lavinia Zinser die Angebotsseite digitaler Beteiligung. Sie vergleichen sechs kommunale Plattformen der digitalen BürgerInnenbeteiligung, von denen drei über die Software Adhocracy, die anderen drei über die Software LiquidFeedback umgesetzt wurden. Ihre angebotsseitige Evaluation von Kriterien wie Zugang, Freiheit der Themensetzung, Ausrichtung auf das Gemeinwohl, Interaktivität, Transparenz und Responsivität zeigen, dass Plattformen auf Basis der Software Adhocracy die angelegten Kriterien wesentlich besser erfüllen als die Plattformen auf Basis von LiquidFeedback. Allerdings wurden bei fünf der sechs Plattformen hohe Hürden bereits beim Zugang identifiziert, was die Chance einer Beteiligung über diese Plattformen hemmen kann.

Der folgende Beitrag von Jörg Radtke und Sheree May Saßmannshausen dreht sich ebenfalls um das Thema digitale Bürgerbeteiligung, wobei die technische Seite stärker im Fokus steht. In ihrer Untersuchung eines BürgerInnenbeteiligungsverfahrens in der nordrhein-westfälischen Stadt Olpe gehen sie der Frage nach, welche technischen Optionen eine bessere Rückkopplung zwischen BürgerInnen und Politik erzielen können. Im Ergebnis ihrer Analyse kommen sie zu dem Schluss, dass nicht mehr Instrumente allein, sondern eine Integration von digitalen Instrumenten gekoppelt mit einer stärkeren Rückbindung an politische Prozesse vielversprechend sei, um mehr Nähe zwischen BürgerInnen und politischen Institutionen herzustellen und somit Repräsentationsbeziehungen zu stärken.

Im abschließenden Beitrag der HerausgeberInnen dieses HeftesFootnote 2 unterziehen Isabelle Borucki, Dennis Michels und Stefan Marschall die bestehenden Modelle zur Digitaldemokratie einer kritischen Prüfung und gehen der These nach, dass eine adäquate Theoretisierung und Auseinandersetzung mit der Digitaldemokratie nur funktionieren kann, wenn man ihre Funktionslogiken anerkennt und nicht umgekehrt, die bekannten Konzepte und Formate aus der vordigitalen Zeit anwenden möchte. Sie skizzieren – auch angesichts der aktuellen technischen und gesellschaftlichen Dynamik – welchen Fragen sich die Sozialwissenschaften mit Blick auf die Digitalisierung der Demokratie zukünftig zuwenden sollten und welche methodischen wie auch theoretischen Ansätze dabei vielversprechend sein könnten.