1 Die Anerkennung digitaler Funktionslogiken als Möglichkeiten und Grenzen der Digitalisierung

Vieles spricht dafür, dass wir an einer Epochenschwelle stehen zu einer Form von Demokratie, die noch stärker als bisher von Prozessen der Digitalisierung geprägt sein wird und das Label „Digitaldemokratie“ verdienen könnte. Unter Digitaldemokratie wird im Folgenden die Herausbildung einer noch nicht final absehbaren Variante einer auf digitale Kommunikations- und Interaktionsformen basierenden Demokratie bezeichnet. Die digitalisierte Demokratie dagegen ist ein Terminus, der neben der Zustandsbeschreibung die Prozessperspektive in den Blick nimmt und hilft, diesen theoretisch wie empirisch zu fassen. In diese Sinne lassen sich die vorliegenden Forschungsbefunde als Bestandsaufnahme einer digitalisierten Demokratie dahingehend lesen, dass auch Fluchtpunkte und Perspektiven aufgezeigt werden, in die sich die Entwicklung der Digitaldemokratie noch bewegen kann.

Die Digitalisierung der Demokratie stellt die politische Praxis, aber auch die Forschung vor Herausforderungen. Dieser Beitrag geht der These nach, dass eine adäquate Theoretisierung und Auseinandersetzung mit der Digitaldemokratie nur funktionieren kann, wenn man ihre neuen Funktionslogiken anerkennt, statt umgekehrt, die bekannten Konzepte aus der vordigitalen Zeit lediglich als „verstärkt“ oder „abgeschwächt“ durch die Digitalisierung zu verstehen. Eine (aus unserer Sicht) adäquate Perspektive versteht Digitalisierung daher nicht als „Reparaturmaßnahme“ einer als defekt verstandenen Demokratie, sondern nimmt Möglichkeiten und Grenzen der Digitalisierung selbst in den Blick, die bei einer Verschränkung mit politischen Prozessen relevant werden. So trägt die gegenwärtige Forschung zu Digitalisierungsprozessen in Teilbereichen der Demokratie dazu bei, die Dynamiken der Digitalisierung im Kontext politischer Prozesse besser zu verstehen, zeigt aber auch Grenzen und neue Herausforderungen der Digitalisierung auf, die in diesen Kontexten virulent werden.

Im Folgenden wird der Vorschlag für eine zukunftsgerichtete Anschlussforschung in zwei Schritten unterbreitet: Erstens wird die gegenwärtige Forschung zur digitalisierten Demokratie anhand ihrer aktuellen theoretischen Perspektiven und einer Auswahl ihrer Forschungsfelder (kommunale Online-Beteiligung, E‑Government, digitale Parteienforschung) dargestellt. Über die Forschungsfelder hinweg wird als gemeinsame Herausforderung für die Demokratie das Thema der digitalen Spaltung („digital divide“) identifiziert. Daran anschließend folgen Zukunftsperspektiven, die sich mit den Forschungsfeldern hybride Partizipation („blended participation“) und Künstliche Intelligenz (KI) befassen könnten, beides auch als Versuch einer „Heilung“ digitaler Spaltungen. Weitere vielversprechende Forschungsfelder sind mediale Funktionslogiken in politischen Organisationen und die Untersuchung von Affordanzen sowie das Phänomen der „Dark Participation“.

2 Gegenwärtige Forschung zu digitalisierter Demokratie

2.1 Theoretische Forschungsperspektive

Dass sich politische Kommunikation und Partizipation auf allen Ebenen in einem massiven Wandel befinden, ist spätestens mit der Corona-Pandemie sichtbar geworden. Die nun offensichtlichen transformativen Kräfte sind jedoch schon länger wirkmächtig. Das Verhältnis von Digitalisierung und Demokratie wird schon seit den 1970er-Jahren, das von Demokratie und Internet spätestens Ende der 1990er Jahre intensiv beforscht. Dabei hat sich zunehmend eine netzrealistische Perspektive (Kneuer 2013, 2016) herausgebildet, die weder utopische noch dystopische Szenarien und Annahmen über die Entwicklung dieses Verhältnisses treffen möchte. Vielmehr ist es ein Anliegen dieser vermittelnden Perspektive, Wirkungsprozesse stärker empirisch-systematisch in den Mittelpunkt zu rücken. So sei eine normative Orientierung in Bezug auf die Wirkungen des Internets auf politische Prozesse und Entscheidungen nicht unbedingt zielführend (Kneuer 2017). Grundlegend gehen die Vertreterinnen von einer „Ambivalenz der Wirkungen“ aus (Kneuer 2017, S. 505), womit wiederum beide polarisierten Perspektiven in den Blick rücken.

Geht man daran anschließend von einer Veränderung der Digitalisierung im Laufe der Zeit sowie einer aktiven Konstruktion der Digitalisierung auch durch politische AkteurInnen aus, so erfährt die normative Frage nach „guten“ oder „schlechten“ Wirkungen der Digitalisierung eine Wendung: Wie sollten wir Digitalisierung konstruieren, um sie gewinnbringend für demokratische Prozesse zu gestalten? Die Aufarbeitung der ambivalenten Wirkungen der Digitalisierung auf die Demokratie ist in vollem Gange – die Erforschung verschränkter digital-demokratischer Prozesse vor dem Hintergrund der Frage nach einer Gestaltung der Digitalisierung steht noch aus.

Ein nächster Schritt der Forschung an einer digitalisierten Demokratie wäre somit, die zunehmend hybriden Prozesse, die nicht mehr klar in „analog“ und „digital“ getrennt werden können, auf die Charakteristika hin zu untersuchen, die sich als normativ „gewinnbringend“ für die Demokratie erwiesen haben. Im Sinne des ko-evolutionären Entwicklungsprozesses von Digitalisierung und Demokratie (Hofmann 2019) geht es also darum, sich der Konstruktion von Digitalisierung im Kontext demokratischer Prozesse zu widmen und dabei die Rückwirkung auf die Demokratie zu beobachten. Das zeigt auch ein Blick in gegenwärtige Forschungsfelder kommunale Online-Beteiligung, E‑Government und digitale Parteienforschung.

2.2 Einblick in aktuelle Forschungsfelder

In den bestehenden Institutionen des politischen Systems hat die Corona-Pandemie den Zustand der Digitalisierung schonungslos ans Licht gebracht. Der Zwang zur distanzierten, digitalen Interaktion in Verwaltung, Parteien, Unternehmen bis hin zum privaten Bereich brachte zum Vorschein, wie digitalisiert verschiedene gesellschaftliche und politische Segmente bereits sind, und, viel bedeutungsvoller, wo zwar viel von Digitalisierung gesprochen wird, aber Abläufe noch stets analog organisiert sind. Zwar wirkt die Pandemie auch beschleunigend – lange aufgeschobene Digitalisierungsprozesse sind vorangetrieben worden –, sie ruft allerdings auch noch einmal in Erinnerung, wie der Stand der Digitalisierung vor Corona aussah. Denn es wurde durchaus bereits seit vielen Jahren mit dem Einsatz digitaler Technologie in politischen Institutionen experimentiert, wobei sich einige Trends verstetigt haben. Das wird insbesondere mit Blick auf kommunale Online-Partizipation, die Digitalisierung der Verwaltung und die Digitalisierung der Parteien deutlich.

Auf kommunaler Ebene sind seit den 1990er Jahren aus einer Kritik am repräsentativ-demokratischen System heraus ergänzende Strukturen direkt-demokratischer (Bürgerentscheide, Bürgerbegehren) und deliberativer Art (Runde Tische, Beiräte, „mini-publics“) entstanden (Kersting 2019, S. 108). Digital wurden diese im Laufe der Jahre ergänzt durch Instrumente der Mobilisierung und Information in Bezug auf direkt-demokratische Verfahren, allerdings auch in digitaler Form, zum Beispiel in Form von Online-Petitionen oder Bürgerhaushalten mit Online-Abstimmungsmöglichkeiten (Kersting 2019, S. 110). Auch die deliberativen Instrumente sind als Diskussionsforen, Online-Konferenzen und speziellen Diskussionsplattformen wie Adhocracy und Liquid Feedback bereits online erprobt worden (Kersting 2019, S. 111).

Neben diesen auf die Ebene von Städten und Gemeinden eingesetzten Tools existieren auf das Gesamtsystem abstellende Entwürfe der so genannten Commons, die deliberierend zu einem Konsens finden sollen (Dahlberg 2011, S. 863). Damit ist die Herstellung von Allgemeingütern in dezentraler, netzwerkartiger Zusammenarbeit gemeint, bis hin zum Aufbau einer vollständig darauf aufbauenden sozio-ökonomischen Ordnung. Die in digitaler Technologie angelegte Möglichkeit der Vernetzung dient in der Vision der Commons somit als Grundlage einer neuen, deliberativen Gesellschaftsordnung. Allerdings harrt dieses Phänomen sowohl bezüglich seiner theoretischen, als auch seiner empirischen Aspekte noch einer weiteren Ausarbeitung. Zwar gibt es vielversprechende Ansätze (Fleuß et al. 2019; Rho 2019), diese übertragen aber lediglich wieder altbekannte demokratietheoretische Größen und Werte in die digitale Welt, was dieser nicht vollkommen entspricht. Insofern ist es an dieser Stelle notwendig, deutlich herauszuarbeiten, wo genau deliberative Potenziale liegen, wo aber auch Schwierigkeiten in diesem Prozess auftauchen könnten.

Dies ist auch bei der Digitalisierung der Verwaltung festzustellen, welche (ebenfalls seit den 1990er Jahren) unter dem Schlagwort „E-Government“ Karriere machte. Darunter verstand man zunächst eine im Kontext des „New Public Management“ und in Anlehnung an die Digitalisierung von Wirtschaft und Handel („E-Business“, „E-Commerce“) entstandene Nutzung des Internets durch Verwaltungen, um Abläufe zu vereinfachen, Sparpotenziale zu nutzen, Interaktionen zwischen Behörden sowie Dienstleistungen für BürgerInnen und Unternehmen effizienter anzubieten (Misgeld 2019, S. 83; Schünemann 2019, S. 17). So sollten lästige und zeitraubende Amtsgänge vermieden werden können, indem Anträge online gestellt werden oder Dokumente per E‑Mail oder in elektronischen Datenverarbeitungssystemen ausgetauscht werden. Ein Trend, der als Brücke zwischen digitaler Partizipation und E‑Government verstanden werden kann, ist zudem das so genannte „Open Government“. Darunter ist der Prozess der Weitergabe von Daten zu verstehen, die von der Verwaltung erhoben wurden und aus Transparenzzwecken sowie zur freien Nutzung durch BürgerInnen, Wissenschaft und Unternehmen veröffentlicht werden (Schünemann 2019, S. 27).

Bislang konnten nicht alle demokratiefördernden Versprechen von E‑Government und Open-Government eingelöst werden. Viele elektronischen Dienstleistungen gelten als „kleinteilig-unterschiedlich“ und „wenig miteinander kompatibel“, was schließlich als „unzureichend kooperativ-föderales E‑Government“ bezeichnet wurde (Misgeld 2019, S. 83). Insbesondere mangelnde Koordination und Kooperation zwischen Bund, Ländern und Kommunen galten lange Zeit als unüberwindbares Hindernis (Misgeld 2019, S. 84). Zudem schien der Mehrwert der bislang angebotenen Dienstleistungen aufgrund komplizierter Verfahren für die BürgerInnen gering, was eine geringe Nachfrage zur Folge hatte (Misgeld 2019, S. 89–90). Sprach man mit Blick auf europäische Nachbarn somit lange davon, dass Deutschland diese Entwicklung „verschlafen“ habe, so nimmt sie seit der Umsetzung einiger notwendiger Gesetzesänderungen 2017 (Onlinezugangsgesetz) und dem Beginn der Regierungszeit der Großen Koalition 2018, die das Thema zum Schwerpunkt erklärte und eine eigene Staatsministerin für Digitalisierung dafür einsetzte, wieder an Fahrt auf (Schünemann 2019, S. 19). Es ist davon auszugehen, dass infolge der Corona-Krise und der damit verbundenen Zwangsdigitalisierung von Verwaltungsvorgängen dieser Prozess noch beschleunigt worden ist.

Auch die politischen Parteien zeigen Tendenzen einer Digitalisierung von Organisationsstrukturen. Zu Beginn der Corona-Pandemie im Mai 2020 machten Grüne und CSU Schlagzeilen mit „digitalen Parteitagen“, die CDU mit einer digitalen Kreisvorsitzendenkonferenz und im Juni 2020 veranstaltete die SPD einen digitalen Mitgliederbeirat und die CDU ein „Digicamp“. Allerdings sind auch diese Entwicklungen nicht neu und ausschließlich Corona-bedingt. Die Nutzbarmachung digitaler Technologie in den Parteien wurde ebenfalls bereits seit den 1990er Jahren hinsichtlich der Frage diskutiert, ob dadurch die „Krise der Parteien“, gekennzeichnet durch Mitglieder- und Vertrauensschwund, überwunden werden könnte (Bieber 2001; Gibson et al. 2003; Marschall 2001). Einen virtuellen Parteitag (der Grünen), einen virtuellen Ortsverein (der SPD) und einen virtuellen Landesverband (der FDP) gab es, ohne dass dies die Parteien nachhaltig verändert hätte, bereits um die Jahrtausendwende (Bieber 2014). Frühen Experimenten mit Webseiten, Mailinglisten und internen Mitgliedernetzen, die eher zur Informationsverbreitung von Seiten der Parteiführungen genutzt wurden, folgte mit dem Erstarken der Piratenpartei eine Wende hin zu mehr experimenteller Interaktivität über digitale Instrumente (Bieber und Leggewie 2014; Klecha und Hensel 2013; Koschmieder 2016).

Mit dem Diskussions- und Abstimmungsinstrument „Liquid Feedback“ und einer „Ständigen Mitgliederversammlung“ im Internet schienen die Piraten die Organisation in Parteien generell radikal zu verändern. Rechtliche Hürden und Schwierigkeiten im Umgang mit veränderten Sozialbeziehungen im digitalen Raum ließen die Nachfrage nach den scheinbar innovativen Instrumenten jedoch schnell wieder abflauen. Allerdings ist in den anderen Parteien seitdem ein Lerneffekt zu beobachten. Behutsamere Experimente mit digitaler Kommunikation und Beteiligung setzen sich bis heute fort (Gerl et al. 2016; Hanel und Marschall 2014). Dennoch bleibt weiterhin fraglich, ob die Instrumente die innerparteiliche Demokratie effektiv stützen (sollen), oder die stärkere Steuerungsfähigkeit der politischen Eliten an der Spitze der Parteien zementieren. Letzteres wird im abschreckenden Beispiel der „Fünf Sterne Bewegung“ in Italien deutlich sichtbar, die in post-demokratischer Manier zwar massenkommunikativen Austausch fördert, Entscheidungen aber autoritär an der Spitze zentriert und somit ein Willkürregime hinter einer nur scheinbar direkt-demokratischen Organisationsstruktur verbirgt (Diehl 2018; Gerbaudo 2019).

Zusammengenommen ist mit Blick auf die Digitalisierung der Parteien noch nicht eindeutig erkennbar, welche der Instrumente sich dauerhaft bewähren und wie die neue Form einer „digitalisierten Partei“ letztlich aussehen wird. Allerdings wird ein zentrales und demokratietheoretisch relevantes Thema der digitalen Parteienforschung, das sich ebenfalls in den Forschungsfeldern zu kommunaler Online-Beteiligung und E‑Government wiederfindet, immer klarer erkennbar: die Herausforderung der digitalen Spaltung.

2.3 Zentrale demokratische Herausforderung: Digitale Spaltung

Blickt man vor dem Hintergrund der beschriebenen und vielfach beforschten Entwicklungen nun durch die Augen der Demokratie auf den Zustand der Digitalisierung, so sticht eine zentrale Herausforderung weiterhin heraus: Die Spaltung der Gesellschaft durch die Digitalisierung im politischen Kontext, in der Forschung als „digitale Spaltung“ oder „digital divide“ bezeichnet.

Verstanden werden kann digitale Spaltung als die Ungleichheit in der Teilhabe von Menschen an der digitalisierten Welt. War damit bei der Einführung des Begriffs in den 1990er Jahren noch die infrastrukturelle Anbindung an das Internet mittels eines Computers gemeint, so veränderte und differenzierte sich das Verständnis spätestens Mitte der 2000er Jahre. Zum einen wurde der Begriff des „Zugangs“ zunehmend auch als „intellektueller Zugang“ mittels digitaler Bildung, „motivationaler Zugang“, d. h. Akzeptanz der Technologie und Digitalaffinität, oder „sozialer Zugang“ als soziale Unterstützungsstruktur des Zugangs verstanden (van Dijk 2005; Yu et al. 2016). Entsprechend war dann von einer digitalen Spaltung zweiter Ordnung die Rede. Hinzu kommt, dass auch im Digitalen Mechanismen des Beteiligungsparadoxons wirkmächtig sind. Dieses bezeichnet das Phänomen, dass BürgerInnen erst am Ende eines Beteiligungsprozesses Mitwirkung nachfragen oder aber Beteiligung zwar allgemein einfordern, sie aber nicht nutzen. Das kann ebenso ein Problem für die Digitaldemokratie darstellen, die hierfür bislang keine Lösungen anzubieten hat. Die Forschung differenziert hier in Zugänge, die sich dem Empowerment durch digitale Techniken und Tools zuwenden (Lilleker 2013), der Mobilisierung und „Normalisierung“ (im Sinne einer Egalisierung, möchte man dies normativ wenden) bzw. Verstärkung (Marschall und Schultze 2012). Letztere Perspektive rückt zunehmend in den Blick, da gesellschaftliche und politische Spaltungen auch und gerade im digitalen Kontext wirkmächtig werden und bestehende Ungleichheiten verstärken oder zumindest nicht angleichen oder ausgleichen.

Folgt man der Differenzierung zwischen Inklusion und Exklusion, die nach Luhmanns (2008, S. 237–264) zweitem Exklusionsbegriff ohnehin allen Organisationen und Systemen zugrunde liegt, geht es in der digitalisierten Demokratie vor allem darum, Inklusion zu erreichen und Exklusion im Gegenzug zu minimieren. Es gilt diejenigen zu re-inkludieren, die bereits fernab der digitalisierten Systeme stehen, z. B. die als „(N)onliner“ oder „OfflinerInnen“ (Initiative D21 2020) bezeichneten Menschen, die keinen Zugang zum Internet haben, oder denen Kenntnisse für eine gewinnbringende Nutzung fehlen. Eine Prämisse hierzu ist der entsprechende Wille der jeweiligen Person, überhaupt inkludiert zu werden bzw. sich selbst zu inkludieren – eine Annahme, die gerade in der Forschung zu sozialer Ungleichheit viel Beachtung fand (Kronauer 1998, 2008). Doch was bedeutet das nun für die Auseinandersetzung mit der digitalisierten Demokratie und ihren Versprechen? Das Augenmerk liegt auf der Dichotomisierung in das Gegensatzpaar aus Inklusion und Exklusion, da die technologischen Komponenten, auch einer „Blended Participation“ (auf die im folgenden Abschnitt eingegangen wird), behindernd oder fördernd für Teilhabe an der digitalisierten Demokratie wirken können. Das ist ebenso der Fall, wie es im Bereich der „herkömmlichen“ Beteiligung und Partizipation längst gegeben ist.

Außerdem wurden in der Qualität des infrastrukturellen Zugangs Ungleichheiten festgestellt, z. B. bei der Bandbreite des Internetanschlusses. Damit zusammenhängend, aber auch darüber hinaus rückt die Frage in den Blick, welche Teile der Gesellschaft überhaupt in der Lage sind, die im Gegensatz zu früheren technologischen Innovationen wie Telefon oder Fernseher wesentlich anspruchsvollere digitale Technologie, die häufig als Plattform für Information und Wissen daherkommt, im Sinne einer informationsbezogenen oder gar politischen und partizipatorischen Art zu nutzen (Min 2010; Wei 2012). Gerade über die Fragen der Inklusion und Exklusion entscheidet sich auch die Legitimität einer Demokratie und inwiefern sie in der Lage ist, diejenigen, die nicht täglich online sind (oder sein wollen), einzubinden und mitzunehmen, was sich zunehmend in einer Polarisierung zwischen digital Inkludierten und Exkludierten zeigt (Schradie 2019, S. 15).

Die politische Polarisierung dagegen findet teilweise auf sozialen Netzwerken statt (vor allem Facebook und Twitter) und wird durch dort existierende Echo-KammernFootnote 1 weiter verfestigt (Cinelli et al. 2020). Ein damit einher gehendes bedenkliches Phänomen ist der Zusammenhang von politischer Nachrichtennutzung und politischem Interesse (Dahlgren 2019). Diese zweite Form der Polarisierung bildet einen eigenen Forschungszweig neben dem hier als digitale Spaltung eingeführten, hat aber ebenso in seinen technologischen Eigenheiten liegende, demokratietheoretische Implikationen, die insbesondere mit Blick auf digitalisierte Öffentlichkeiten thematisiert werden (Klinger 2018, 2020).

In den folgenden Abschnitten richtet sich der Blick auf die Zukunft der Forschung zur digitalisierten Demokratie. Dabei geht es um einen Einblick in die Forschungsfelder hybride Partizipation, Künstliche Intelligenz, mediale Funktionslogiken und die Perspektive, die digitale Affordanzen und „Dark Participation“ ins Zentrum rückt.

3 Zukünftige Forschungsperspektiven der digitalisierten Demokratie

3.1 Hybride Partizipation

Ob kommunale Online-Beteiligung, digitalisierte Verwaltung oder digitalisierte Partei: Die Experimente mit Digitalisierung politischer Institutionen haben Spaltungstendenzen nochmals sichtbarer gemacht. Nach der Erforschung dieser Wirkung der Digitalisierung auf die Demokratie geht es daher nun um die Erforschung der Gestaltung von Digitalisierung im Kontext demokratischer Prozesse. Beispielhaft wird dies am Thema hybride Partizipation oder „blended participation“ klar. Blended participation kann dabei als Chance verstanden werden, die mittlerweile mehr und mehr verschmelzenden Prozesse von analoger und digitaler Demokratie so auszurichten, dass Digitalisierung die Demokratie erweitert und gleichzeitig die spaltenden Elemente der Digitalisierung eingedämmt werden.

Blended participation wird definiert als hybrider Mix aus verschiedenen Elementen der politischen Beteiligung, die je nach Bedarf, Temporalität, Format, Zielgruppe und Personal sowie Instrument entweder offline oder online abgehalten werden. Dabei stehen beide Formen, offline und online, gleichberechtigt nebeneinander und sind wechselseitig miteinander verschränkt. Auf Kerstings (2013) Verständnis der blended democracy basierend ist blended participation eine ergänzende Mesoperspektive. Je nach Situation, avisierten TeilnehmerInnen und Finalität des Verfahrens bzw. dessen Verlauf kann jeweils das Verhältnis zwischen online und offline abgewogen werden. So ergibt sich eine flexible und anpassungsfähige Möglichkeit, bspw. Ältere mittels Mentoring durch Jüngere in gemischten Formaten an digitale Tools heranzuführen oder aufgrund von Kontaktbeschränkungen nahezu unmögliche Begegnungen durch digitale Formate wieder erfahrbar zu machen.

Im Sinne eines künftigen Forschungsfeldes kann blended participation somit als Beispiel für mögliche verschränkte und vermittelnde Instrumente dienen. Eine ganzheitliche Betrachtung der Konstellation aus Digitalisierung und Demokratie (Hofmann 2019; Berg et al. in diesem Heft) nimmt politische Prozesse so in den Blick, dass sowohl die Gestaltung der Demokratie, als auch die Gestaltung der Digitalisierung als möglich gelten, um neue Ordnungen und Formationen hervorzubringen. Die Bevorteilung von digitalaffinen Menschen oder die verzerrte Beteiligung in Richtung männlicher, jüngerer Menschen im digitalen Raum können mit dem Ziel einer demokratischen Gestaltung der Digitalisierung vermieden werden. Die Vorteile der Digitalisierung, wie räumliche und zeitliche Entgrenzung oder Speicherung und Vervielfältigung von Daten, können demokratische Prozesse erweitern, während die Nachteile der Digitalisierung, wie digitale Spaltung, aber auch Tendenzen zu Hass und Hetze in digitaler Massenkommunikation im demokratischen Sinne durch gesteuerte Digitalisierung vermieden werden sollten. Inwiefern das gelingen kann, sollte zukünftige Forschung an der digitalisierten Demokratie theoretisch und empirisch in den Blick nehmen. Eine Hybridität von Beteiligungs- und Kommunikationsprozessen kann dabei vorläufig als vielversprechend gelten, was bei sorgfältig reflektierter Programmierung auch für Algorithmen gilt, die als Künstliche Intelligenz gegen digitale Spaltungen und Polarisierung eingesetzt werden können.

3.2 Künstliche Intelligenz

In den vergangenen Jahren hat sich der Bereich der Generierung und Verarbeitung von sozial und politisch relevanten Daten massiv weiterentwickelt. Zum einen sind große und verästelte Datensätze entstanden – als Folge einer zunehmenden Digitalisierung sozialer Interaktionen. Dadurch dass zahlreiche soziale Kommunikationen und Transaktionen mittlerweile in digitalisierter Form und online stattfinden und damit letzten Endes für unbestimmte Zeit potenziell sichtbar sind und dokumentiert werden können, ergeben sich neue Möglichkeiten der Beobachtung, der Vorhersage, aber auch der Manipulation von potenziell politisch relevantem Verhalten. Zum anderen sind neue Methoden der Aufbereitung und Auswertung von Daten entwickelt worden. Hierbei spielt die Debatte um die Rolle und Macht der Algorithmen mit hinein, die bis hin zur These einer politischen Herrschaft der Algorithmen geführt hat (Hofstetter 2016). Diese „Berechnungsvorschriften“ basieren auf einer Auswertung vorliegender Daten, die dann wiederum eine bestimmte Ausgabe von Daten oder sonstige politische und soziale Maßnahmen nahelegt.

Die Frage nach Chancen und Risiken der KI betrifft in Bezug auf die Demokratie vor allem Fragen der Meinungsbildung und Willensbildung, zur Einbindung von Interessen und Präferenzen sowie der additiven Kompensation bisheriger Beteiligungen (Mannino et al. 2016). Allerdings sind damit auch Risiken wie fake news, deep fakes sowie Überwachung verbunden. KI ist somit für die politische Kommunikations- und Partizipationsforschung thematisch interessant und relevant geworden, aber zugleich auch für die politische Praxis selbst in ihren Implikationen nicht zu unterschätzen. Dabei tauchen auch normative Herausforderungen auf. So zeigen jüngste sozialwissenschaftliche Auseinandersetzungen mit den Potenzialen von KI, dass diese durchaus vorsichtig einzusetzen ist, da Algorithmen nicht wertfrei sein können. Neue Arten der Spaltung werden darüber hinaus in diskriminierenden Algorithmen, d. h. in Anwendungen der künstlichen Intelligenz sichtbar, die teilweise unfaire und intransparente Entscheidungen treffen (Weyerer und Langer 2020; Marcinkowski und Starke 2019).

Eine weitere normative Herausforderung stellt der Komplex des Datenschutzes und den ethischen Umgang mit KI angesichts von Big Data und modernen Datenanalysetechniken dar (Larsson 2020). Bei „Big Data“ handelt es sich um die Aggregation und Summe individuumsbezogener Informationen, die im Umkehrschluss durch die Kombination einzelner Datensätze die Rückverfolgung und Entwicklung von individuellen Datenprofilen erlaubt. Die Möglichkeiten der letzten Endes personalisierten Profilierung von Menschen über ihr datendokumentiertes Kommunikations- und Konsumverhalten ist nicht nur für wirtschaftliche AkteurInnen verlockend (z. B. Customizing der Werbung), sondern ebenso für politische Instanzen attraktiv – etwa im Wahlkampf mit all den Gefahren der Manipulation (Marsden et al. 2020). Diese Tendenzen sowie der Einsatz von KI im Bereich der Kriegsführung und der Public Diplomacy wie überhaupt KI in digitalen Desinformationskampagnen (deep fakes, fake news, bots), haben Künstliche Intelligenz zu einem kontroversen und kritisch betrachteten Phänomen werden lassen (Suchman 2020).

Mitunter werden damit aber die demokratisch relevanten Potenziale von KI überdeckt. Zum einen können KI und Deep Learning zur Entwicklung von Tools beitragen, mit deren Hilfe Meinungsbildungsprozesse deliberativer stattfinden können. Zum anderen können mittels KI Repräsentations- und Partizipationslücken geschlossen werden, wenn die Präferenzen von sich politisch nicht beteiligenden oder nicht repräsentierten Bevölkerungsteilen über Datenauswertungsstrategien erhoben und auf anderen Wegen in den politischen Prozess eingebracht werden können.

Dabei ist KI für die politische Kommunikations- und Partizipationsforschung nicht nur ein dynamischer Gegenstand, sondern zugleich auch ein Tool, um Erkenntnisse zu sammeln und Vorhersagen zu treffen (Blätte et al. 2018). KI-basierte Techniken erlauben, größere Datenmengen in einer Form auszuwerten, die über die üblichen Instrumente der statistischen Datenanalyse hinausgehen. Insbesondere Maschinelles Lernen ermöglicht es, Vorhersagen oder systematische Beobachtungen (bis hin zu Kausalitätsbeziehungen) zu machen, dabei aus Fehlern der Datenanalyse zu lernen und diese zu optimieren. Auf der Grundlage des Lernens an vorliegenden Daten können neue Daten systematischer und effizienter analysiert werden. Um diese Techniken anzuwenden, bedarf es nicht nur entsprechender leistungsstarker Rechner, sondern auch einer Expertise im Bereich der Data Analytics, die in den Sozialwissenschaften nicht immer anzutreffen ist. Hier liegt die Kooperation mit InformatikerInnen auf der Hand; diese wird zunehmend zum Standard auch in der Politikwissenschaft (siehe z. B. Wiedemann und Niekler 2016).

KI führt letzten Endes aber nicht zu einer Erweiterung bestehender Forschungsstrategien, sondern zu einem Kulturwandel in der Erforschung politischer Kommunikation und Partizipation. Methodische Paradigmen, die von der Probabilistik geprägt worden sind, werden ersetzt durch stärker deterministische Ansätze. Konzepte wie Stichprobe, Signifikanz und Repräsentativität verlieren an Relevanz. Insofern stellen diese Entwicklungen die Kommunikations- und Partizipationsforschung und ihre traditionellen Ansätze vor neue Herausforderungen, da Theorien und Methoden aus der Zeit der analogen Massenkommunikationsforschung heute zunehmend anachronistisch wirken.

3.3 Mediale Funktionslogiken in politischen Organisationen

Ein weiterer, künftig stärker forschend in den Blick zu nehmender Aspekt ist die Funktionslogik digitaler Medien in politischen Organisationen. Dabei geht es grundsätzlich um die stärkere Verschränkung der verschiedenen Funktionslogiken sowohl des politischen, als auch des medialen Systems (Tenscher und Borucki 2015). Gerade die zentralen AkteurInnen des politischen Systems, Regierungen und Parteien, stehen unter Druck, digitale Medienlogiken (Multioptionalität, Gleichzeitigkeit, Vereinfachung, Interaktivität, Transparenz, Viralität, Konnektivität) mit ihren politischen Handlungslogiken zu verschränken. Multioptionalität, Interaktivität sowie Konnektivität sind wesentliche, über die klassischen Massenmedien hinausgehende, Kennzeichen der Digitalität. Für Organisationen in digitalen Umwelten bedeutet das, zwischen den jeweiligen eigenen Logiken und den Netzwerklogiken abzuwägen und zu übersetzen.Footnote 2

Die temporale Dimension von Medialisierung ist für politische AkteurInnen entscheidend, wenn zwischen Kampagnenlogik oder Aushandlungs- und Entscheidungslogik gewechselt werden soll. Zudem besteht zwischen beiden eine analytische Trennung. Für die digitale Parteienforschung bedeutet das beispielsweise, zwischen Mitgliedschaftslogik und Organisations- bzw. Effizienzlogik oder Netzwerklogik zu differenzieren. Hier zeigt sich eine vom Digitalcharakter bestimmte Partei resilienter gegenüber von außen wie von innen an sie herangetragenen Erwartungen, als eine von formalen Abläufen und Organisation bestimmte Partei. Die verschiedenen Logiken sind jedoch nicht als „entweder-oder“-Schematisierung, sondern als multioptionales Kontinuum zu verstehen: Das Konzept der Medialisierung und damit verbunden auch jenes der Medienlogiken ist multioptional zu interpretieren, womit die Gleichzeitigkeit mehrerer optional nutzbarer Kanäle und Instrumente gemeint ist.

Derzeit scheint sich eine mit Blick auf die Geschichte der Digitalisierung zwar späte, aber dennoch substanzielle Anpassungsfähigkeit politischer Organisationen abzuzeichnen. Gerade Parteien profitieren bei der (selbstgestalteten und auch steuernden) Anpassung an die aus den medialen Funktionslogiken entspringenden Erwartungen von ihrer Rolle als vermittelnde Instanz, da sie sowohl im politischen System als auch im medialen Kosmos eingebunden und zugleich in der Gesellschaft verwurzelt sind. Sie könnten darauf aufbauend als ein Transmissionsmittel neben anderen fungieren – vor allem, was das Zueinanderfließen von Protest- in Bewegungsorganisationen und parteiartige Verbünde anbelangt, die bereits in der digitalen Medienlogik „geboren“ sind. Hier zeigt sich die Hybridität zwischen und durch Organisationen und ein möglicher Formwandel der Partei in Richtung einer stärkeren Bewegungsförmigkeit (Chadwick und Stromer-Galley 2016).

Als Herausforderung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt – und damit für die Demokratie – bleibt bei aller Anpassungsfähigkeit und Resilienz politischer Organisationen die Segmentierung politischer Partizipationsformen und Kommunikation bestehen. So zeigen sich auch innerhalb medial veränderter politischer Organisationen weiterhin digitale Spaltungen, Tendenzen zur Exklusion sowie eine Fragmentierung von Kommunikationsräumen. Als Daueraufgabe einer künftigen Forschungsperspektive der digitalisierten Demokratie muss dies somit im Forschungsfeld medialisierter politischer Organisationen stets mitgedacht werden, um nicht Digitalisierung als schlichte „Verstärkung“ oder „Erweiterung“ bereits bestehender Formen und Prozesse politischer Organisationen fehl zu deuten.

3.4 Möglichkeitsräume des Digitalen: Affordanzen und Plattformarchitekturen

Einen interessanten Aspekt digitaler Technologie im Zusammenhang mit Demokratie stellen Affordanzen und Plattformarchitekturen dar. Der Begriff der Affordanz beschreibt ursprünglich die ermöglichenden und beschränkenden Faktoren von Medientechnologie (Hjarvard 2008, S. 14). Eine aktuelle Definition (Kreiss et al. 2018, S. 12) versteht Affordanzen als „what platforms are actually capable of doing and perceptions of what they enable, along with the actual practices that emerge as people interact with them“. Es wird klar, dass je nach Definition die Architektur digitaler Plattformen eng mit Affordanzen im Sinne von Handlungsmöglichkeiten auf Basis digitaler Technologie zusammenhängt.

Dahlberg (2011) hat verschiedene Lesarten digitaler Demokratie rekonstruiert, wie sie in Wissenschaft, Journalismus und Politik verwendet werden und diese über ihre Konzeption des demokratischen Subjekts, der Demokratie und der mit ihr verbundenen Affordanzen digitaler Technologie beschrieben. Seine Perspektive leistet damit einen Beitrag zur theoretischen Konzeption der Digitaldemokratie sowohl aus den Augen der Demokratie, als auch aus den Augen der Digitalisierung – mit Hilfe von Affordanzen, welche ein bislang eher randständiger Aspekt der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit digitalisierter Demokratie darstellen (für eine Ausnahme siehe den Beitrag von Berg et al. in diesem Heft). Insbesondere, da die Reflexion über die Konsequenzen vorgesehener Möglichkeiten der Interaktion mit digitaler Technologie überhaupt erst sichtbar macht, welche Konsequenzen die Gestaltung der Digitalisierung für die Demokratie hat, ist seine Perspektive als wichtiger Ansatzpunkt für eine künftige wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Digitalisierung und Demokratie zu verstehen.

Aus den verschiedenen Lesarten der Affordanzen im Zusammenhang mit spezifischen Sichtweisen auf die Demokratie entwickelt Dahlberg (2011, S. 865) vier Lesarten von digitalisierter Demokratie, die als Idealtypen zu verstehen sind: den liberal-individualistischen Typus, den deliberativen Typus, den Typus der Gegenöffentlichkeiten und autonom-marxistischen Typus der Digitaldemokratie. Die beiden letzteren nehmen auch revolutionäre, der letztere teils anti-demokratische Züge an. Als Affordanzen der liberal-individualistischen Digitaldemokratie nennt er z. B. aggregieren, kalkulieren, wählen, oder konkurrieren, aber auch fundraisen oder Anträge stellen. In der deliberativen Digitaldemokratie sind typische Affordanzen z. B. argumentieren, streiten, übereinstimmen, widersprechen, reflektieren, sich treffen. In der Digitaldemokratie der Gegenöffentlichkeit hingegen sind es z. B. artikulieren, protestieren, zusammenschließen, infrage stellen, organisieren und in der Digitaldemokratie autonom-marxistischen Typs kooperieren, verteilen, austauschen, netzwerken, teilhaben und teilen. So formen die verschiedenen Möglichkeitsräume, die digitale Technologie je nach Design zur Verfügung stellt, verschiedene Ausprägungen von Demokratie zumindest mit.

Eine Alternative zur Affordanz stellt die Architektur von Plattformmedien dar (Bossetta 2018), die vielmehr die Beschaffenheit der digitalen Umgebung erfassen hilft. So unterscheiden sich beispielsweise Twitter und Facebook massiv darin, wie einerseits audiovisuelle Inhalte und andererseits Sprache zum Transport von Botschaften eingesetzt werden. Die Architektur, also das Design der Plattform ist der regulierende Mechanismus, was im Grunde der ursprünglichen Definition von Medienlogiken entspricht, die Form und das Format an den Anfang zu setzen und erst anschließend den Inhalt zu betrachten (Altheide und Snow 1979).Footnote 3 Für Politikwissenschaftler spannend wird der Plattform- und Architekturbegriff dann, wenn es darum geht, diese zu regulieren (Gorwa 2019).

Zwar enthalten die von Dahlberg formulierten Affordanzen Bezüge auf handelnde Personen und verschiedene Demokratieverständnisse, die von ihm vorgestellten Lesarten der Digitaldemokratie basieren ihre Affordanzen allerdings größtenteils auf die aus einer analogen Logik gedachten Handlungsmöglichkeiten und buchstabieren eine Vernetzungs- und Netzwerklogik, wie wir sie nun schon länger beobachten können und wie sie durch Multioptionalität und Konnektivität beschrieben wird (Bennett und Segerberg 2012) somit nicht vollständig aus.Footnote 4

Einen Vorschlag zur alternativen Definition von Affordanzen – dem Herzstück von Dahlbergs Lesarten – unterbreitet u. a. Deseriis (2020). Seinem Verständnis nach könnten Affordanzen als primäre Ausprägung digitaler Medien die Partizipationskosten senken. Ebenso wie Dahlberg liefert er jedoch wenig Antworten darauf, wie digitalen Spaltungen oder Diskriminierungen durch KI mit Hilfe von spezifischen Affordanzen begegnet werden kann. Gerade wenn es um Fragen der Online-Partizipation in Form von Diskussionen geht, ist die Annahme verbreitet, dass es entweder eine Deliberation gibt bzw. deliberative Diskussionen stattfinden, oder eine Fragmentierung und Segmentierung öffentlicher Sphären zu beobachten sei. Beide Perspektiven, Deliberation oder Fragmentierung, scheinen retrospektiv ähnlich holzschnittartig wie die Dichotomisierung in Utopisten und Dystopisten digitaler Demokratie zu Beginn des Internetzeitalters. Auch eine Aktualisierung solcher Dichotomien bzw. der Versuch der Loslösung durch Freelon (2015) mittels Kommunitarismus und Liberalindividualismus sowie Deliberation unter Berücksichtigung von Plattformdesigns erscheint technodeterministisch. Möglicherweise haben all diese Ansätze deshalb wenig Platz für funktionalistische und instrumentelle Perspektiven, etwa auf die Funktionsweise des Internets, weil sie normativ argumentieren und hier auch starke Argumente für oder wider entsprechende Ausprägungen digitaler Demokratie formulieren. Für eine dem netzrealistischen Paradigma folgende Betrachtung ist eine solch normative Grundlage jedoch nicht zielführend. Dies ist im Sinne dieses Abschnitts hervorzuheben, weil es angemessen sein kann, die Logik umzudrehen und von Digitalität und ihrer Funktionsweise auf Demokratie zu schauen und nicht anders herum. Als abschließende Darstellung künftiger Forschungsfelder der digitalisierten Demokratie folgt eine Betrachtung des Aspektes der „Dark Participation“.

3.5 Dark Participation

Eine zum Thema Affordanzen komplementäre Sichtweise ist die auf die sogenannte Dark Participation, also eine negativ gewendete und absichtsvoll destruktive Form der Beteiligung in digitalen Sphären. Das Phänomen der dunklen Partizipation wird hier verstanden als scheinbare Beteiligung an Diskussionen und politischen Formaten (etwa Kommentierungen auf Sozialen Medien oder unter journalistischen Beiträgen), die jedoch zum Ziel hat, den Diskurs negativ zu beeinflussen und umzudeuten oder gar zu sabotieren. Zwar gibt es bereits Ansätze zur Erforschung (Bello 2012; Casemajor et al. 2015; Helbing 2018; Armingeon und Schädel 2015; Quandt 2018; Morozov 2011), diese sind jedoch weder politikwissenschaftlich, noch demokratietheoretisch gesättigt ausgearbeitet. Insbesondere zu den Motivlagen und Antrieben, in Beteiligungsformaten destruktiv zu agieren, gibt es bislang nur wenig Forschung. Die Einteilung von Quandt (2018) bzw. Lutz und Hoffmann (2017) erlaubt eine Klassifizierung dieser destruktiven Formen. Und, was bereits angesprochen wurde: manche entscheiden sich aktiv, sich nicht zu beteiligen. Dies kann genauso für die genannten destruktiven Formen von Partizipation der Fall sein. Nicht-Partizipation kann aber auch aus Angst oder ungewolltem Ausschluss – etwa durch digitale Spaltungen – begründet sein (Lutz und Hoffmann 2017; Bello 2012).

Der zweidimensionale Raum aus Abb. 1 zeigt indirekte aktive, indirekte passive und direkte aktive und passive Praktiken von Partizipation, die wir im Internet beobachten können. Die in diesem Schema verorteten Formen sind beispielhaft zu verstehen, um zu veranschaulichen, wie Partizipationsformen erfasst werden könnten. Indirekt–direkt bezeichnet die Auswirkungen partizipatorischer Formen auf Organisationen oder das System. Kurz gesagt, der/die BürgerIn sollte das Internet wie im Athener Modell selbst nutzen können (Kneuer 2013, S. 16). Allerdings, und hier setzen dunkle Formen der Partizipation an, gibt es nicht nur das Problem der sozialen Selektivität und die Entstehung einer Internet-Elite. Digitale Kommunikation, Interaktion und vor allem Formen dunkler Partizipation treten an jedem Ort in diesem zweidimensionalen Raum auf, was es notwendig macht, diese ebenso wie klassische Partizipationsformate zu untersuchen. Aktive Beteiligungsformen können in diesem Rahmen als solche verstanden werden, durch die ein Akteur, indem er über seine Fähigkeiten nachdenkt, versucht, in einer Weise zu handeln, die ein beabsichtigtes politisches Ziel fördert. Passiv sind umgekehrt jene Engagements, die weder den Willen noch die Absicht in Richtung eines bestimmten politischen Ziels widerspiegeln (Casemajor et al. 2015, S. 856). Auch unbeabsichtigte Effekte wie eine unfreiwillige Exposition zum Beispiel auf einem Foto auf Facebook sind im aktiven Bereich möglich. Exodus beispielsweise bedeutet die Vermeidung oder Umgehung eines ganzen Dienstes, etwa Gmail und andere Google-Dienste, um eine mögliche allgegenwärtige Überwachung zu vermeiden.

Abb. 1
figure 1

Mögliche Formate von Dark Participation (in Blau) sowie Darstellungen von Partizipation. Quelle: Eigene Darstellung, angelehnt an die Differenzierung von Casemajor et al. (2015)

Was also in der digitaldemokratischen Auseinandersetzung fehlt, ist ein Denken des Anderen, der Logiken und der Alternativen „auf der anderen Seite“: Insofern kann die digitalisierte Demokratie bis dato als durch Multioptionalität und Netzwerklogik bestimmtes Gebilde gelesen werden, deren Subjekt – die Demokratie – gerade in Zeiten der Krise wie der Corona-Pandemie äußerst fragil ist. Deshalb muss auch gefragt und erörtert werden, was mit digitalisierten Systemen geschieht, die nicht demokratisch bzw. liberal orientiert sind, sondern illiberal und autokratisch – oder sich zunehmend in eine solche Richtung entwickeln, etwa über den Zwischenschritt einer digitalisierten Postdemokratie.

4 Schluss

Dieser Beitrag hatte zum Ziel, der These nach einer Anerkennung der digitalen Funktionslogiken stärker in den Mittelpunkt der Betrachtung der digitalisierten Demokratie zu rücken und weniger mit althergebrachten Konzepten aus der analogen Zeit zu arbeiten. Alternative Forschungsperspektiven zur Untersuchung der jetzt sichtbaren digitalisierten Demokratie sind vor allem an folgenden Punkten festzumachen:

Hybride Partizipation stellt eine Chance dar, digitale Spaltungen über eine sorgfältige Kombination aus online- und offline-Elementen in Beteiligungsprozessen zu vermeiden. Allerdings fehlt es bislang an empirischen Erkenntnissen darüber, wie die entsprechende Gestaltung der Prozesse aussehen müsste, um gewünschte Effekte hinsichtlich einer inklusiven demokratischen Partizipation zu erzielen.

Außerdem wird Künstliche Intelligenz ein zentrales Thema und eine relevante Herausforderung für die empirische Demokratieforschung werden. Zum einen verändern Algorithmen effektiv die Machtstrukturen, weil sie politischen AkteurInnen neue Ressourcen zur Verfügung stellen. Das muss eine – auch gestaltende – Digitalisierungsforschung in den Blick nehmen. Zum anderen bietet KI neue Instrumente zur Erschließung von Kommunikation und Partizipation. Hierzu gehört auch, Fragen nach möglichen Machtasymmetrien durch und hinter Algorithmen stärker in den Blick zu nehmen und hierbei Öffentlichkeit relational zu denken.

Die auch Corona-bedingte zunehmende Digitalisierung politischer Organisationen wird daraufhin zu analysieren sein, wie digitale Medienlogiken und Organisationslogiken sich miteinander verschränken. Digitale Spaltungen innerhalb von Organisationen haben Auswirkungen auf die Demokratie insgesamt, insbesondere da z. B. Parteien als Transmissionsriemen zwischen Gesellschaft und Staat zu verstehen sind. Zugleich bietet ihre Stellung zwischen Politik, Medien und Gesellschaft allerdings auch die Chance, eine funktionierende Integration medialer Funktionslogiken zu erproben. Die digitale Transformation anderer Intermediäre wie Verbände, Interessengruppen und NGOs stärker zu fokussieren, würde in einem vergleichenden Design Aufschluss darüber geben, welche Art von Wandel und Change-Process hinter der digitalen Transformation steckt und worin sich die Organisationen unterscheiden. Der Digitalwandel stellt sich im Vergleich zu anderen Wandelprozessen dahingehend als anders dar, dass darin umfassend, schnell, multimodal und vernetzt informelle wie formelle Strukturen gleichermaßen erfasst werden.

Auch ethische Fragen von Wahlkämpfen (Bieber 2013) stellen keine neuerliche Beschäftigung der digitalen Parteienforschung dar. Dieses Feld sollte jedoch intensiviert und deutlicher gemacht werden, was mit Microtargeting und Tracking innerhalb von Wahlkämpfen hinsichtlich der Einschränkung von Grundrechten möglich ist.

Schließlich kann mit der Digitalisierung als sozialer Praktik innerhalb politischer Organisationen eine alternative Position dahingehend eingenommen werden, als dass digitale Transformation dann nicht von außen als kausaler Faktor auf Parteien einwirkt, sondern durch ihre Mitglieder und deren Gewohnheiten in die Parteien hineingetragen wird. Folgte man dieser These, wären die Parteien notwendigerweise einer Art Verjüngungskur ausgesetzt – oder sterben aus.

Als weiteres Forschungsfeld im Sinne der Untersuchung, wie Digitalisierung im Kontext der Demokratie gestaltet werden kann, ist das der Affordanzen als Möglichkeitsräume digitalisierter Demokratie. Sie können als das fehlende Glied in der Kette zwischen technologischem Design und Handlungsorientierungen der Menschen verstanden werden und ihre Erforschung somit zu einem Verständnis beitragen, wie sich verschieden zueinander in Stellung gebrachte Formationen von Digitalisierung und Demokratie zu unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Ordnungen führen.

Hieraus ergibt sich unter anderem folgende mögliche Anschlussperspektive: Dark Participation stellt sowohl inner- als auch außerhalb politischer Organisationen ein demokratietheoretisches Problem dar. Was ist zu tun, wenn zu Beteiligung aufgerufen wird, dann aber Stalking, Mobbing und Hate Speech folgen? Was folgt, wenn illegale Machenschaften über legale Portale der Beteiligung weiter kolportiert werden?

Im Sinne der forschenden Gestaltung von Digitalisierung muss der Blick gelenkt werden auf die Möglichkeiten, über Digitalisierung bestehende Demokratiedefizite ausgleichen zu können. Dieses „democratic engineering“ bedarf gleichwohl nicht nur einer systematisch-empirischen Erfolgsevaluation, sondern ebenso einer grundlegenden Reflexion über normative Kriterien und Zielsetzungen. Digitalisierung sollte dabei allerdings keineswegs als simple Reparaturmaßnahme der Demokratie verstanden werden, sondern die digitalisierte Demokratie mit all ihren digitalspezifischen Funktionslogiken, aber auch neuen digitalen Spaltungen und Verwerfungen als genuines Phänomen ernst genommen werden.