MSK – Muskuloskelettale Physiotherapie 2021; 25(05): 213
DOI: 10.1055/a-1676-3359
Forum

Leserbrief (in Anlehnung an den Blog von Adam Meakins „Manual Therapy Demon Strawmen“) zu: Cook CE. Die Dämonisierung der Manuellen Therapie. MSK 2021; 25: 125–131

Martin Römhild

Im ersten Moment stach mir direkt der reißerische Titel des Artikels „Die Dämonisierung der Manuellen Therapie“ ins Auge. Und wie die Überschrift ankündigt, zieht sich diese reißerische Art m. E. durch den gesamten Artikel. In dem Artikel versucht Chad Cook, sämtliche Kritik an der Manuellen Therapie (MT) zu schwächen, indem er diese – versehentlich oder absichtlich – falsch und übertrieben darstellt. Dies geschieht schon anhand der wertenden Bezeichnung der Kritikpunkte als „Dämonisierung“. Man kennt diese Vorgehensweise der Dramatisierung aus sensationsjournalistischen Boulevard-Blättern. In der Fachpresse ist dies eher ungewöhnlich.

Zunächst bezeichnet Chad Cook in dem Artikel einige Blogs und Äußerungen von Adam Meakins als dämonisierend, destruktiv und ungenau gegenüber der MT, um im Anschluss fortzufahren, dass dies international Besorgnis erregt und negative Folgen für die Physiotherapie und deren Patient(inn)en hat. Der Versuch, die Kritik an der Überkomplexität, Überbewertung, Überbeanspruchung und dem allgemeinen Ego und Elitismus rund um die MT als dämonisierend, destruktiv und ungenau zu positionieren, ist m. E. eine klassische Taktik, um abzulenken.

Diese Art der Ablenkung geschieht z. B. unter dem Punkt „MT hat keine eigenen eindeutigen spezifischen Effekte.“ Anders als im Artikel dargestellt, bezieht sich die eigentliche Kritik an der MT bzgl. der Effekte nicht darauf, dass MT KEINE (neuro-)physiologischen Wirkungen erzeugen kann, sondern richtet sich gegen die Überzeugungen, dass die MT eine besondere, umfangreiche und teure Ausbildung benötigt und auf eine bestimmte Weise angewandt werden muss. Ferner umfasst die Kritik an der MT die Annahme von nicht haltbaren physiologischen Effekten wie Repositionierung, Lockerung von Gewebe, Lösen von Faszien, Adhäsionen oder Narbengewebe. Außerdem sind alle sogenannten spezifischen neurophysiologischen schmerzmodulierenden Effekte, die in diesem Artikel der MT zugeschrieben werden, eben nicht auf diese beschränkt, sondern auch durch körperliche Aktivität auslösbar.

Weiterhin wird die Kritik an der MT, dass sie „ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Patient und Therapeut schafft und zu geringerer Selbstwirksamkeit führt“, damit abgetan, dass es keine Evidenz für dieses Chronifizierungsrisiko gebe. Es wurde allerdings auch niemals behauptet, dass diese Evidenz vorliegt, vielmehr wird seitens der Kritiker(innen) auf eigene und von Kolleg(inn)en überlieferte Erfahrung verwiesen. Immer wieder sehe ich Patient(inn)en, die das Verlangen haben, dass z. B. ihr ISG eingerenkt oder ihre Verklebungen regelmäßig gelöst werden müssten. Betroffene erzählen, dass sie seit Jahren Therapeut(inn)en besuchen, die diese Art von Behandlung, mit all diesen falschen Informationen und Überzeugungen, durchführen. Es gibt Patient(inn)en, die davon überzeugt sind, ohne diese Art der Behandlung nicht schmerzfrei zu werden oder mit Bewegung bzw. Belastung noch mehr Schaden anzurichten. Die einzig mir bekannte Arbeit, die zumindest die Herkunft solcher negativ besetzten biomechanischen Irrtümer liefert, ist eine Befragung von chronischen Schmerzpatient(inn)en [1]. Diese gaben an, dass sie ihre Überzeugungen von Ärzt(inn)en und Therapeut(inn)en erlernt haben. Wenn das keine Definition von Abhängigkeit und Verlust der Selbstwirksamkeit ist, dann weiß ich nicht, was es sonst sein soll.

Diese Art des Umgangs mit Kritik zieht sich durch den Artikel – für mich ein klassisches Beispiel von Relativismus.

Schlussfolgerungen Ich möchte klarstellen, dass ich diesen Leserbrief mit vollem Respekt gegenüber Chad Cook sowie dem Herausgeber- und Verlagsteam des Artikels verfasst habe. Gleichwohl gehe ich nicht mit der Art und dem Inhalt d’accord. Außerdem soll betont werden, dass mit der Bezeichnung Manualtherapeut(inn)en (MTs) niemals ALLE gemeint sind. Ich kenne aus meiner Sicht ausgezeichnete MTs, die ihre manuellen Fähigkeiten anhand der aktuellen Evidenz differenziert einsetzen. Ich glaube auch nicht, dass die meisten MTs aus Böswilligkeit diesen Fehlinformationen folgen, sondern nur befolgen, was sie vom Lehrpersonal, das sie respektieren und dem sie vertrauen, beigebracht bekommen. Des Weiteren reduziert sich die Kritik der veralteten und falschen Überzeugungen und Behandlungstechniken nicht nur auf den Bereich der MT, sondern erstreckt sich auch auf Korrekturübungen, Elektrotherapie, Kraft- und Konditionstraining und die Chirurgie.

Somit geht die Bitte an alle, die in der Physiotherapie involviert sind, weiter zu hinterfragen, herauszufordern, zu debattieren und anderer Meinung zu sein über alle möglichen Dinge. Lasst euch niemals von Autoritätspositionen davon abhalten.

Schließen möchte ich mit einem Zitat von Adam Meakins:

„Denn wenn es ihnen gelingt, Debatten und Kritik zu unterbinden und zu stoppen, sind wir als Berufsstand verloren.“

Martin Römhild

Hinweis: Aus redaktionellen Gründen wurde ich gebeten, meinen Leserbrief zu kürzen. Dadurch sind viele Punkte etwas plakativ und pragmatisch dargestellt. Ich bitte Sie daher sehr darum, den vollständigen Leserbrief zu lesen. Sie finden ihn unter: https://www.fieom.de/blog.



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Article published online:
14 December 2021

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