Zusammenfassung
Wenn wir Zeitgenossen glauben sollen, so hat sich die Moral in Bayern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einfach aufgelöst. In diesen Jahren wurden die Klagen über den Verfall der Tugend und die Ablehnung sozialer Autorität mit derartigem Ingrimm ausgestoßen, wie es ihn im Jahrhundert zuvor und in den darauffolgenclen Jahren — bis zur Weimarer Republik1 — noch nicht gegeben hatte. Diese Tiraden gegen den Moralverfall sind natürlich schon für sich genommen interessant, weil sie uns über die Klagenden Auskunft geben, über die etablierten gesellschaftlichen Eliten und besonders die staatlichen Verwaltungsbeamten der unteren Ränge, deren Wehgeschrei in den Staatsarchiven aufbewahrt wurde.
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Anmerkungen
Zum Ausbruch moralischer Entrüstung für die Jahre 1848–1849 siehe Edward Shorter, Middle-Class Anxiety in the German Revolution of 1848, in: Journal of Social History 2 (1969), S. 189–215.
Für eine Anzahl quantitativerer Vorgehensweisen bei der Analyse des »Volkslebens« siehe Werner K. Blessing, Zur Analyse politischer Mentalität und Ideologie der Unterschichten im 19. Jahrhundert: Aspekte, Methoden und Quellen am bayerischen Beispiel, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 34 (1971), S. 768–816.
Ich danke Herrn Professor Karl Bosl, der mir sowohl die Hilfskräfte des Instituts für Bayerische Geschichte zugänglich machte, als auch mich an seinem enormen Wissen über die Entwicklung sozialer Bräuche teilhaben ließ.
Soweit nicht anders vermerkt, kann das gesamte Quellenmaterial im Bayerischen Hauptstaatsarchiv gefunden werden; MI bezeichnet Ministerium des Innern, MH Ministerium des Handels. MI 15396: öffentliche Sitten. Zustand der Sittlichkeit. Auszüge aus den dreijährigen Verwaltungsberichten, 1830–1833. In allen Fällen habe ich die Namen gebraucht, die die Regierungsbezirke des Königreichs bei der Neugestaltung von 1837 erhielten.
MI 39092, Nr. 586, 14. 7. 1823.
MI 39095, 4. 5. 1829.
Ebda., 1836/37, Amts-Inspektionen.
In: Georg Döllinger, Sammlung der im Gebiete der inneren Staats-Verwaltung des Königreichs Bayern bestehenden Verordnungen, 33 Bde., München 1835–54, Bd. 26, S. 628. Verordnung vom 6. 1. 1851. Aus dem Englischen ins Deutsche rückübersetzt (Anmerk. d. Übersetzers).
Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des Königreichs Bayern, 1831, VII. Beilage Band, S. 61.
MI 46546, 23. 5. 1820.
Ebd., 4. 9. 1820.
Ebd., 11. 10. 1820.
MI 15436.
Siehe MI 46548, bes. 24. 6. 1848, Mittelfranken an das MI. Rolf Engelsing liefert einen unabhängigen Beweis für wachsende Autonomie und Unabhängigkeit unter Dienstboten gegen Ende des 18. Jahrhunderts in seinem bedeutenden Artikel »Dienstbotenlektüre im 18. und 19. Jahrhundert in Deutschland«, in: International Review of Social History 13 (1968), S. 384–429.
Bayerische Staatsbibliothek, Handschriftenabteilung, Cod.Ger. 6874 (10).
MI 46560, 4. 6. 1837. Zur Haltung der katholischen Kirche zu Fragen der Moral siehe Fintan Michael Phayer, Religion und das gewöhnliche Volk in Bayern in der Zeit von 1750 bis 1850 (Neue Schriftenreihe des Staatsarchivs München: Miscellanea Bavarica Monacensia, Heft 1), München 1970.
MI 15396.
MI 15436.
Zur Geschichte der europäischen Jugend siehe den 1971 verschickten Artikel von John R. Gillis, Youth and History: An Introduction. Kate Millet meint in Sexual Politics, New York 1970, daß die Militanz unter emanzipierten Frauen der Mittelschicht in England zumindest im frühen 19. Jahrhundert begann; Oliven Huftony Women in Revolution, 1789–1796, in: Past and Present 53 (Nov. 1971), S. 90–108, schweigt zu Langzeitveränderungen, beschreibt aber die aktive Teilnahme der Frauen an der Revolution. Zur Aufständigkeit ländlicher Arbeitskräfte unter kapitalistischer Landwirtschaft siehe Eric Hobsbawm und George Rude, Captain Swing, New York 1968, und Helmut Bleiber, Zwischen Reform und Revolution: Lage und Kämpfe der schlesischen Bauern und Landarbeiter im Vormärz, 1840–1847, Ost-Berlin 1966, bes. S. 57–81. Eine monographische Bearbeitung dieser Themen — Jugend, Frauen oder Dienstboten im 19. Jahrhundert — ist meines Wissens für Bayern niemals erfolgt.
Statistische Aufschlüsse über das Herzogthum Baiern…, 11 Bde., Nürnberg 1801–1808, Bd. 4, S. 144–145.
Über das Gewerbe in Baiern, München 1818, S. 95–96.
Ansbac, 1830, S. 572. Herrn Dr. Leonard Link bin ich für diesen Hinweis dankbar.
MI 52136, 1. 12. 1840.
MI 15436; MI 46548, 12. 7. 1848.
MH 9612, Preisausschreiben Nr. 33, 30. 12. 1848.
Ich habe die Verbreitung von Wirtshäusern im Laufe der Zeit berechnet in Social Change und Social Policy in Bavaria, 1800–1860, Dissertation an der Harvard Universität 1967, S. 463–464. Der durchschnittliche Bierverbrauch pro Kopf stieg von 1.15 Hektolitern im Jahre 1807/1808 auf 1.60 Hl. im Jahre 1858/1859. Siehe Emil Struve, Die Entwicklung des Bayerischen Braugewerbes im neunzehnten Jahrhundert, Leipzig 1893, S. 65.
MI 15394.
MI 58366, 11.5. 1835.
Für eine typische Klage, siehe den Bericht über Armut in der Gemeinde von Wolfsmünster (Unterfranken), MI 59432, 19. 1. 1844.
Statistische Aufschlüsse, a.a.O., III (3), S. 1130.
Generalien-Sammlung der Erzdiözese München und Freising. Die oberhirtlichen Verordnungen und allgemeinen Erlässe von 1821–1846, 3 Bde., München 1847–48, Bd. 2, S. 491.
MI 46560, 14. 8. 1835.
Ebd., im Anhang an den Brief vom 18. 1. 1835. Ich habe mich bereits auf diese Anekdote bezogen in Sexual Change and Illegitimacy: The European Experience, in: Robert J. Bezucha, Hrsg., Modern European Social History, Lexington, Mass., S. 231–269.
Ansichten über Staats-und öffentliches Leben, Nürnberg 1843, S. 92–93.
Bayerische Staatsbibliothek, Handschriftenabteilung, Cod.Germ. 6874 (2), Beilage 2.
Magnus Jocbam, Memoiren eines Obskuranten. Eine Selbstbiographie. Hrsg. von P. Magnus Sattler, Kempten 1896, S. 377–378.
MH 6143, irgendwann im März 1849.
MI 45786, 29. 10. 1849.
Generalien-Sammlung, a.a.O., II, S. 490.
Ebd., IL, S. 491–492.
Unter den neueren Arbeiten, die den kulturellen Kontext des Sexualverhaltens betonen, siehe William Simon und John H. Gagnon, Psychosexual Development, in: dies..Hrsg., The Sexual Scene, New York 1970, S. 23–41; Michael Schofield, The Sexual Behavior of Young People, Harmondsworth, Middlesex, 1968.
MI 46556, 22. 2.1837.
Statistische Aufschlüsse, a.a.O., III, 1131–32; Landgericht Griesbach.
MI 15394, 1833.
Statistische Aufschlüsse, a.a.O., III, S. 193, 657.
MI 15396.
MI 46556, 30. 2.1839.
Ebd., 22. 2.1837.
MI 52137, 12.2. 1854.
Stephan Glonner, Bevölkerungs-Bewegung von sieben Pfarreien im Kgl. Bayerischen Bezirksamte Tölz seit Ende des XVI. Jahrhunderts, in: Allgemeines Statistisches Archiv 4 (1896), S. 263–279; Michael Phayer stellte mir von ihm gesammelte Daten zu unehelichen Geburten in 16 oberbayerischen Dörfern für die Zeitspanne 1760–1825 zur Verfügung; Ludwig Schmidt-Kehl, Wandel im Erb-und Rassengefüge zweier Rhönorte, 1700–1936, in: Archiv für Bevölkerungswissenschaft 7 (1937), S. 176–199.
Friedrich Lindner, Die unehelichen Geburten als Sozialphänomen: Ein Beitrag zur Statistik der Bevölkerungsbewegung im Königreich Bayern, Leipzig 1900, S. 217.
John Knödel, Two and a Half Centuries of Demographic History in a Bavarian Village (Anhausen), in: Population Studies 24 (1970), S. 353–376; Jacques Houdaille, Quelques résultats sur la démographie de trois villages d’Allemagne de 1750 à 1879, in: Population 25 (1970), S. 649–654.
Unter zahlreichen Arbeiten über England, siehe D. E. C. Eversley, The Home Market and Economic Growth in England, 1750–1780, in: E. L. Jones und G. E. Mingay, Hrsg., Land, Labour and Population in the Industrial Revolution: Essays Presented to J. D. Chambers, London 1967, S. 206–259, bes. S. 212. Für Frankreich ist dieses Thema weniger untersucht worden. Hierzu aber kürzlich, mit Betonung der Haltung der Kirche, siehe Theodore Zeldin, The Conflict of Moralities: Confession, Sin and Pleasure in the Nineteenth Century, in: Ders., Hrsg., Conflicts in French Society, London 1970, S. 13–50.
Nur eine sorgfältige historische Untersuchung, die explizite Vergleiche zwischen diesen Gesellschaften zieht, wird diese Verallgemeinerung stützen. Sollten jedoch die Klagen über Moral in der unteren Provence über ein Flüstern hinausgekommen sein, so kann man annehmen, daß Maurice Agulhon sie in einem seiner maßgeblichen Werke erwähnt hatte: Pénitents et francs-maçons de l’ancienne Provence, Paris 1968; ders., La vie sociale en Provence intérieure au lendemain de la Révolution, Paris 1970; ders., La République au village, Paris 1970. Was ich — wie unsystematisch und unvollständig meine zögernden Untersuchungen auch gewesen sein mögen — über die polemische Literatur in anderen »abgelegenen« Ecken Europas wie Nordschweden oder Süditalien habe feststellen können, läßt annehmen, daß der »Moral ver fall« eine recht niedrige Position in der Liste der Dinge einnahm, die die Leute an ihrer Gesellschaft bemängelten. Ich bin mir jedoch über die Gefahren der Behauptung über das Schweigen im klaren und wage diesen internationalen Vergleich nur probeweise.
Edward Shorter, Illegitimacy, Sexual Revolution and Social Change in Modern Europe, in: Journal of Interdisciplinary History 2 (1971), S. 237–272, überprüft die zugänglichen Statistiken zu unehelichen Geburten für die Zeit von 1750–1850.
Unter der Literatur über Alkoholismus und Alkoholverbrauch siehe Brian Harrison, Drink and the Victorians: The Temperance Question in England, 1815–1872, London 1971. William Langer, Political and Social Upheaval, 1832–1852, New York 1969, S. 14, zitiert irische und schwedische Daten und nennt den Vormärz »das goldene Zeitalter der Trunkenheit«. Zu Veränderungen der Formen von Freizeitbeschäftigungen siehe die Annahmen von Joffre Dumaze-dier, Vers une civilisation du loisir?, Paris 1962. Zum gleichen Thema hinsichtlich Fabrikarbeitern im 19. Jahrhundert, siehe Georges Duveau, La vie ouvrière en France sous le Second Empire, 2. Aufl., Paris 1946, bes. S. 467. Zur Veränderung des Familienlebens unter dem Einfluß der Industrialisation, siehe schließlich Rudolf Braun, Industrialisierung und Volksleben: Die Veränderungen der Lebensformen in einem ländlichen Industriegebiet vor 1800 (Zürcher Oberland), Erlenbach-Zürich 1960; und Neil J. Smelser, Social Change in the Industrial Revolution: An Application of Theory to the British Cotton Industry, 1770–1840, Chicago 1959.
Fred Weinstein und Gerald Platt, The Wish to be Free: Society, Psyche, and Value Change, Berkeley, Cal., 1969.
Aus dem Englischen übersetzt von Axel Schmalfuß
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Shorter, E. (1972). »La Vie Intime« Beiträge zu Seiner Geschichte am Beispiel des Kulturellen Wandels in den Bayerischen Unterschichten im 19. Jahrhundert. In: Ludz, P.C. (eds) Soziologie und Sozialgeschichte. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-83551-2_22
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