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1 Von individueller zu institutioneller Wahrnehmung

Unsere Wahrnehmung ist wesentlich räumlich. Vermittelt über unseren Körper geht unser In-der-Welt-Sein andauernd und immer wieder damit einher, dass wir Orte kategorisieren. So entstehen etwa vertraute und unbekannte, einladende und abweisende, sichere und gefährliche Orte. In diese Kategorisierungen gehen eigene oder berichtete Erfahrungen, Diskurse und Institutionalisierungen ein.Footnote 1 Sie passieren weitgehend ganz von selbst und machen das Leben einfacher, ja sie sind zur Orientierung lebensnotwendig. Dabei neigen wir sowohl bei den Räumen unseres Alltags, mit denen wir besonders vertraut sind, als auch bei jenen, die wir nur ganz oberflächlich kennen, dazu, recht feste und unhinterfragte Kategorisierungen vorzunehmen. Obwohl wir diese Kategorisierungen subjektiv und selbst vornehmen, erscheinen sie uns dann häufig so selbstverständlich, dass sie wie objektiv und gegeben wirken. Die Räume „sind“ dann so und scheinen Einfluss auf uns auszuüben. Je nachdem, in welchem Raum wir uns wähnen, werden wir uns unterschiedlich fühlen und handeln – locker oder angespannt, offen oder abweisend, sicher oder vorsichtig, vielleicht sogar ängstlich oder aggressiv. Indem wir unsere Wahrnehmung von Räumen nicht mehr hinterfragen, erlauben wir ihnen, unsere Praxis anzuleiten. Die einerseits notwendige verräumlichte Wahrnehmung kann also andererseits folgenreich sein.

Auch Polizist:innen auf Steife, im Einsatz und bei der Planung kategorisieren die Orte, die sie polizieren. Auch sie schreiben den Räumen, in denen sie agieren und interagieren, Bedeutungen zu, die oft stabil und kaum hinterfragt sind, und sie fühlen und handeln entsprechend dieser Kategorien. Erhard Blankenburg und Johannes Feest haben bereits 1972 in ihrer begriffsbildenden Studie Die Definitionsmacht der Polizei in teilnehmender Beobachtung feststellen können, dass Polizist:innen in „ordentlichen Gegenden“ weit seltener kontrollieren als in „verdächtigen Gegenden“. Weil solche Wahrnehmungen innerhalb der Polizei zirkulieren, schon in der Ausbildung weitergegeben und in Gesprächen und Erzählungen immer wieder aktualisiert werden, verfestigen sie sich zu institutionell geteilten Bedeutungszuschreibungen. Deshalb gilt: „Bevor ein Polizist erstmals mit gefährlichen Menschen an gefährlichen Orten zusammentrifft, hat er schon eine (wenn auch diffuse) Vorstellung davon, wie er sich wem gegenüber zu welchen Zeiten an welchen Orten zu verhalten hat.“Footnote 2 So kommt es, „dass die Polizei ihr Handeln entlang räumlicher Einteilungen strukturiert“Footnote 3. Dies kann etwa dazu führen, dass dieselbe wahrgenommene Ordnungswidrigkeit auch in Abhängigkeit des Ortes der Kontrolle unterschiedlich geregelt wird.Footnote 4

Basierend auf seiner Auswertung von Interviews mit Bereitschaftspolizist:innen, die im Frankfurter Bahnhofsviertel u. a. die offene Drogenszene zu polizieren haben, hält Behr beispielhaft fest:

„[Sie] wissen wenig von den Lebenszusammenhängen ihrer Klientel. Es fällt ihnen deshalb schwer, sich ein angemessenes Bild von den tatsächlichen Gefährdungen zu machen. Da alles diffus ist, werden die schlimmsten Fälle angenommen und kommuniziert, und gegen diese Vorstellungen bleibt ihnen nur ein hermetischer Schutz. Der besteht darin, das ganze Gebiet für verseucht und zu einem gefährlichen Ort zu erklären.“Footnote 5

Wenn er weiter ausführt, dass die unter den Interviewten geteilte Einsicht, nach der „die Drogenabhängigen Kranke und keine Kriminellen seien […] in der Aussage [untergeht], in einem gefährlichen Raum zu arbeiten“Footnote 6, dann illustriert das präzise ein theoretisches Argument, dass anderswo entwickelt wurdeFootnote 7: indem Vorstellungen von Orten für die Polizei handlungsleitend werden, tendieren sie dazu, das in Erfahrungen oder durch Reflexion erworbene und oft weit komplexere und reflektiertere Wissen über Situationen, Menschen und Gruppen zu überlagern. Die lebensnotwendige Kategorisierung von Räumen resultiert, wenn Räume seitens der Institution Polizei als „kriminelle Räume“ wahrgenommen werden, darin, dass tendenziell von gesellschaftlichen Prozessen und Zuschreibungen abgesehen wird. Was oder wer „gefährlich“ und potenziell „kriminell“ ist, entscheiden dann nicht mehr Beobachtung, Erfahrung und Reflexion, sondern die verfestigte verräumlichte Wahrnehmung. Das ist ein Problem.

Hunold, Dangelmaier und Brauer konstatieren auf Basis ihrer empirischen Forschung, dass „institutionell gebundene Raumdeutungen vor allem soziale Merkmale wie Geschlecht, Ethnie und Klasse [reflektieren], über die Ein- und Ausschlussprozesse durch die damit verknüpften und legitimierten polizeilichen Maßnahmen strukturiert werden“Footnote 8. Das Problem verfestigter verräumlichter Wahrnehmung besteht darin, dass auf ihrer Grundlage Menschen nach (vermutetem) sozialen Status, nach Hautfarbe, Alter und Geschlecht sowie nach (vermuteter) Religionszugehörigkeit unterschiedlich behandelt werden. Die institutionalisierten Raumvorstellungen können zu einer ungleichen, diskriminierenden und sogar rassistischen Polizeipraxis führen. Für die aktuelle Diskussion um Racial ProfilingFootnote 9 heißt das: Insbesondere bei anlasslosen Kontrollen im öffentlichen Raum kann so die Praxis auch dezidiert nicht rassistischer oder gar anti-rassistischer Polizist:innen nach rassistischen Kriterien erfolgen. Der Aktivist Bislap Basu beschreibt die Logik des Racial Profiling in „kriminellen Räumen“ in einem Interview zugespitzt aber treffend: „Normalerweise findet erst eine Straftat statt und dann wird ein Täter gesucht. Hier sucht man erst Personen und findet dann eine Straftat.“Footnote 10 Dies verdeutlichen zwei aktuelle Untersuchungen, die in verschiedenen Kontexten und mit komplett unterschiedlichen Methoden zum selben Ergebnis kommen. Koefoed und Simonsen berichten, dass alle Polizist:innen, mit denen sie in Kopenhagen Interviews geführt haben, in Gegenden, die als „Ghettos“ gelten, tendenziell alle jungen Männer im öffentlichen Raum für potentielle Kriminelle halten.Footnote 11 Die Analyse von Daten zu Verkehrskontrollen durch die Polizei von Houston zusammen mit solchen zur Bevölkerungszusammensetzung in verschiedenen Teilen der Stadt durch Zhang und Zhang zeigt, dass in Gegenden mit mehrheitlich schwarzer und hispanischer Bevölkerung unabhängig von der registrierten Kriminalitätsbelastung deutlich mehr Kontrollen stattfanden, und dass Schwarze und Hispanics in heterogenen Stadtteilen deutlich seltener kontrolliert werden.Footnote 12 In Deutschland gibt es von wenigen Ausnahmen abgesehen kaum Forschung, die sich explizit dieses Zusammenhanges annimmt.Footnote 13

2 Beispiele institutionalisierter Verräumlichung

Dass die verräumlichte Wahrnehmung das polizeiliche Wissen um die Komplexität der sozialen und Zuschreibungsprozesse und mitunter auch um die rechtsstaatlich gebotenen Regeln ihres Tuns überlagert, wird durch Institutionalisierungen in Recht, Ideologie und Technologie verstärkt. Diese werden im Folgenden jeweils exemplarisch diskutiert.

2.1 Recht: z. B. Gefahrengebiete

Im Recht gelten zunächst und grundlegend rechtsstaatliche Verfahren, die polizeiliche Kontrollen und Gewaltanwendung an das Vorliegen zumindest eines konkreten Verdachtes knüpfen, sowie das Diskriminierungsverbot. Eine Art, in der „kriminelle Räume“ diese Anforderungen im Recht selbst überlagern, ist die Standardmaßnahme „gefährliche“ oder „kriminalitätsbelastete Orte“ bzw. „Gefahrengebiet“ im Polizeirecht. Solche kann die Polizei in allen Bundesländern ausweisen und sich dabei selbst weitreichende Kompetenzen in Bezug auf verdachtsunabhängige Kontrollen und mitunter auch Durchsuchungen geben. Einen Überblick der 16 unterschiedlichen Normen und der – teils beträchtlichen – Varianz zwischen ihnen liefert KeitzelFootnote 14. Zentral für die Ausweisung sind üblicherweise die rechtlich unbestimmten Begriffe der „Lageerkenntnis“ bzw. des „Lagebildes“, die sich „auf polizeiliche Analysen, Prognosen, Vermutungen, Auswertungen bisheriger Einsätze, kurzum auf polizeiliches Erfahrungswissen [stützen]“Footnote 15. Wo sich in der Polizei die o. g. „kriminellen Räume“ als Alltagswissen herausgebildet haben, kann sich dieselbe Polizei zusätzliche Kompetenzen geben, die grundlegende rechtsstaatliche Verfahren überlagern und über den „Umweg“ des Raums zu Diskriminierungen führen.

Ähnlich funktioniert die Verräumlichung der Wahrnehmung im Bundespolizeigesetz (BPolG). Nach § 22 Abs. 1a BPolG darf die Bundespolizei „[z]ur Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das Bundesgebiet […] in Zügen und auf dem Gebiet der Bahnanlagen der Eisenbahnen des Bundes, soweit auf Grund von Lageerkenntnissen oder grenzpolizeilicher Erfahrung anzunehmen ist, daß diese zur unerlaubten Einreise genutzt werden, […] jede Person kurzzeitig anhalten, befragen und verlangen, daß mitgeführte Ausweispapiere oder Grenzübertrittspapiere zur Prüfung ausgehändigt werden, sowie mitgeführte Sachen in Augenschein nehmen“. Städtische Bahnhöfe werden damit zu Orten, an denen nach der oben beschriebenen Logik anlasslos kontrolliert wird.Footnote 16

Außerdem weisen Kommunen im Form von Verordnungen Bereiche aus, in deren öffentlichen Räumen bestimmte Tätigkeiten wie Betteln, Lagern und Alkoholkonsum untersagt sindFootnote 17 und die mitunter von eigenen Ordnungsdiensten umgesetzt werden. Auch diese Verordnungen dienen dazu, bestimmte Gruppen von Menschen zu kriminalisieren:

„Bettel- und Alkoholverbote adressieren nicht die Bevölkerung im Allgemeinen, sondern spezifische soziale Randgruppen. Mithilfe der genannten Verordnungen wird den Behörden, also der Polizei und dem KAD [der Ordnungsbehörde der Stadt München; B.B.] das Einschreiten gegen diese Gruppen ermöglicht.“Footnote 18

Erneut erfolgt dies über den „Umweg“ institutionalisierter Raumwahrnehmungen, indem nicht Armut und Alkoholkrankheit kriminalisiert werden, sondern die Anwesenheit armer und alkoholkranker Menschen in bestimmten Räumen.

2.2 Ideologie: z. B. Broken Windows

Ende der 1990er Jahre schwappte aus New York eine Ideologie in die deutschsprachige DebatteFootnote 19, die sich als wissenschaftliche Theorie verkleidete und in perfider Weise Randgruppen kriminalisierte, ohne sie als Gruppen, sondern mittels Raum zu kriminalisieren.Footnote 20 Die Broken Windows-These wurde von Wilson und Kelling in einem Essay in der Monatszeitschrift Atlantic Monthly entworfen. Im Kern behauptet sie: „[E]rnsthafte Straßenkriminalität gedeiht in Gegenden, in denen unordentliches Verhalten unkontrolliert durchgeht.“Footnote 21 Sichtbare Zeichen für diesen Mangel an Kontrolle und die Akzeptanz von „unordentlichem Verhalten“ seien physischer Verfall (die namensgebenden „zerbrochenen Fensterscheiben“) ebenso wie „sozialer Verfall“, der sich in der Anwesenheit „unordentlicher Leute“ äußere. Beide Verfallsformen werden von Wilson und Kelling als sichtbare Zeichen mangelnder Kontrolle gleichgesetzt: „Der unkontrollierte Bettler ist tatsächlich die erste zerbrochene Fensterscheibe.“Footnote 22 Der kausale Zusammenhang von physischer und sozialer Unordnung mit schwerer Kriminalität funktioniert über den Zwischenschritt ihrer Wahrnehmung durch potentielle Straftäter:innen. Diesen vermittle eine heruntergekommene Gegend den Eindruck, dass in ihr die soziale Kontrolle niedrig sei und das Einhalten von Normen nicht sanktioniert werde. Deshalb lade sie zu abweichenden Verhaltensweisen inklusive schwerer Verbrechen geradezu ein. Verstärkt werde dieser Zusammenhang durch die Wahrnehmung der Bewohner:innen, die ihrerseits die Wahrnehmung der Verbrecher:innen antizipierten. Deshalb fürchteten sie sich, unabhängig von tatsächlicher schwerer Kriminalität, wegen des Verfalls ihrer Wohngegend verstärkt vor Verbrechen und zögen sich aus dem öffentlichen Leben zurück, bzw. aus der Nachbarschaft weg. Die ganze Argumentation steht und fällt also mit der Behauptung, dass schwere Verbrechen begangen würden, weil eine Gegend von potentiellen Straftäter:innen als unordentlich wahrgenommen wird. Sie behauptet: „[D]isorder left untended […] leads to […] more serious crime.“Footnote 23 Auf diese Weise werden aus „unordentlichen Gegenden“ „gefährliche Gegenden“.

Für diesen Zusammenhang gibt es nicht nur keinen empirischen BelegFootnote 24, vor allem basiert die Broken Windows-These auf einer durch nichts als die Moralvorstellungen der Autor:innen gestützte Einteilung von Menschen in zwei Gruppen: ordentliche und unordentliche. Zu letzteren zählen „zwielichtige oder widerspenstige oder unberechenbare Leute: Bettler, Betrunkene, Süchtige, herumstreunende Jugendliche, Prostituierte, Herumlungernde, geistig Behinderte“Footnote 25. Der Kunstgriff besteht darin, diese Leute indirekt zu kriminalisieren. Es wird nicht behauptet, dass die diversen Randgruppen wegen ihrer moralischen Inferiorität auch kriminell seien. Stattdessen behauptet Broken Windows, dass die schiere sichtbare Anwesenheit solcher Gruppen Schwerkriminelle und -kriminalität anzögen. Um schwere Verbrechen zu verhindern, müsse die Polizei, so die Logik und die Forderung, arme oder sonst wie missliebige Menschen von Straßen und Plätzen vertreiben.

2.3 Technologie: z. B. Predictive Policing

Auch mittels Technologien wird die verräumlichte Wahrnehmung institutionalisiert. Besonders deutlich wird das beim Predictive PolicingFootnote 26, dem „routinemäßigen Einsatz von EDV-Apparaten durch Polizierende mit dem Ziel, Vorhersagen über Orte und Zeiten von kriminalisierbaren Handlungen zu treffen, die präzise genug sind, um gezielte Maßnahmen zu deren Bekämpfung zu ergreifen“Footnote 27. Am bekanntesten ist das Produkt des US-amerikanischen Marktführers PredPol, das auf Basis registrierter Kriminalität ebensolche Zeiten und Orte identifiziert, die dann intensiver polizeilich bestreift werden. Zu Recht kritisiert werden an Predictive Policing VerdrängungseffekteFootnote 28, allgemein die Qualität der genutzten Daten und der Grundannahmen und besonders deren rassistische TendenzenFootnote 29, sowie grundlegend das Ausblenden sozialer VerhältnisseFootnote 30. All das basiert darauf, dass die Karten, die anzeigen, wo und wann angeblich mit vermehrtem Kriminalitätsaufkommen zu rechnen ist, die Verselbständigung der räumlichen Wahrnehmung auf die Spitze treiben.

Wie in der Welt von Big Data üblich, wird die umfangreiche Forschung in diesem Feld weit überwiegend von Naturwissenschaftler:innen und Computerspezialist:innen betrieben. Für diese ist Verbrechensvorhersage nur ein weiterer Anwendungsbereich, in dem sich ihre Methoden zu bewähren und an dem ihre Algorithmen zu lernen haben. Wie weit dabei von ernsthaften Versuchen abgesehen wird, die sozialen und Zuschreibungsprozesse, die „Kriminalität“ hervorbringen, zu erklären, illustriert die selbstbewusste Formulierung aus einem State-of-the-Art-Aufsatz zu Statistical Physics of Crime: „Although our understanding of the mechanisms that drive the emergence and diffusion of crime is still incomplete, recent research highlights applied mathematics and methods of statistical physics as valuable theoretical resources that may help us better understand criminal activity.“Footnote 31 Die Ineinssetzung von Methode und Theorie ist kein Zufall. Dank der neuen Methoden entstünde „eine neue Art der Wissenschaft der Verbrechensverhinderung“Footnote 32, die sich ganz offensichtlich um eine Erklärung des Phänomens „Kriminalität“ nicht schert – auch dies typisch für die Welt von Big Data, in der gilt: „[W]e usually don’t know about causation, and we often don’t necessarily care […] the objective is more to predict than it is to understand the world […] It just needs to work; prediction trumps explanation.“Footnote 33 Indem die Daten aus der Polizeiarbeit, die auf Basis „krimineller Räume“ stattfindet, als Grundlage aller Berechnungen genutzt wird, werden die verselbständigten verräumlichen Vorstellungen reproduziert – und aufgrund der Technologiefixierung noch weniger hinterfragt.

3 Fazit: nicht „kriminelle Räume“, sondern Situationen polizieren!

Verräumlichte Wahrnehmung ist lebensnotwendig, wird aber zum Problem, wenn sie sich verselbständigt und als solche in der Praxis der Institution Polizei handlungsleitend wird. Ohne, dass einzelne Polizist:innen es wollen oder bemerken müssen, wird die Polizeiarbeit diskriminierend, wenn sie auf Basis der Vorstellung „krimineller Räume“ erfolgt. Die Kriminalisierung von Räumen geschieht zudem häufig aus Gründen, die mit Gefahr und Kriminalität gar nichts zu tun haben, etwa in Zusammenhang mit GentrifizierungFootnote 34 oder in Wahlkämpfen, wie Bürk und Höhne in Bezug auf Kreuzberg plakativ formulieren: „Offenbar sind die Straßen und öffentlichen Räume Kreuzbergs in den Monaten vor Wahlen ganz besonders böse und gefährlich.“Footnote 35 Polizist:innen wissen häufig ganz gut, dass Menschen nicht allein deshalb schon gefährlich, verdächtig oder gar kriminell sind, weil sie aufgrund ihrer Klasse, ihrer Herkunft, ihrer Religion, ihres Geschlechts oder ihres Alters von gewissen Normalitätsvorstellungen abweichen. Sobald sie aber Räume polizieren, die als „kriminelle Räume“ gelten und meist eben die Gegenden sind, an denen sich viele Menschen finden, die Minderheiten und Randgruppen zugerechnet werden, werden sie automatisch diskriminierend vorgehen, wenn sie ihre verräumlichten Wahrnehmung nicht hinterfragen. Dass dies in Einzelfällen passiert, ist ein Hoffnungsschimmer. In einer aktuellen Untersuchung rekonstruiert Beer aus Interviews mit Polizeibeamt:innen, dass diesen das „Potenzial der rechtlichen Legitimation verdachtsunabhängiger Kontrollen an gefährlichen Orten, stigmatisierende und diskriminierende Tendenzen in polizeilichen Kontrollstrategien zu ermöglichen“Footnote 36 teilweise bewusst ist; dass allerdings andere die überproportionale Kontrolle von People of Color in „kriminellen Räumen“ legitimieren oder bestreiten.

Darauf zu hoffen, dass Polizist:innen die machtvollen Institutionalisierungen verräumlichter Wahrnehmung durchschauen und in ihrer Praxis durchbrechen, ist für einen Rechtsstaat zu wenig. Vielmehr müssen, erstens, alle Institutionalisierungen „krimineller Räume“ abgebaut werden, mithin die oben genannten Gesetze geändert sowie Ideologien wie Broken Windows und Technologien wie Predictive Policing abgelehnt werden. Um besser zu verstehen, in welcher Weise „kriminelle Räume“ tatsächlich handlungsleitend für die Polizeiarbeit sind, bedarf es, zweitens, weiterer empirischer Forschung. Um quantitative Studien hierzu in Deutschland möglich zu machen, müsste die Polizei auch hierzulande dokumentieren, wen sie wo warum kontrolliert – und diese Angaben auch mit den Kontrollierten in Form z. B. schriftlicher Quittungen teilen. Dies wäre, drittens, ein Teil von Maßnahmen, die an der Polizeipraxis ansetzen, zu denen zudem unabhängige BeschwerdestellenFootnote 37, polizeiliche Kennzeichnungspflicht, das Kennenlernen der Lebensrealität in „kriminellen Räumen“ durch Polizist:innen etwa mittels Sozialpraktika und andere zählen. Um viertens die gesellschaftliche Debatte zu verschieben, helfen alle Initiativen, die der verräumlichten Wahrnehmung der Institution Polizei andere Narrative entgegensetzen. Würden in Politik und Medien prominenter die Positionen reflektierter Polizist:innen und vor allem von Betroffenen von Racial Profiling an „kriminellen Orten“Footnote 38 Gehör finden, hätte das Auswirkungen auf die Ausgestaltung des Rechts, die Wirkmächtigkeit von Ideologien und das Vertrauen in Technologien sowie auch die individuelle und institutionelle räumliche Wahrnehmung durch Polizist:innen und Polizeien. Über allem, was in Forschung, Politik und Polizeipraxis angesichts der Diskriminierung über den „Umweg“ des Raums zu tun wäre, sollte als Leitschnur stehen nicht Räume zu polizieren, sondern Situationen, und zwar transparent, diskriminierungsfrei und rechtsstaatlich.