Zusammenfassung
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1.
Chironomus tentans besitzt haploid drei lange, V-förmige und ein kurzes, stabförmiges Chromosom. Zwei der langen Chromosomen tragen einen Nukleolus.
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2.
Der Streckungszustand der 4 Riesenchromosomen bei ausgewachsenen Larven (gemessen als Durchmesser/Längen-Verhältnis) ist gewebespezifisch und individuell verschieden; gewebespezifisch ist ferner ihr Habitus: Die Speicheldrüsen-Chromosomen sind kompakt-zylindrisch, die Malpighigefäß- und in geringem Maße die Rectum-Chromosomen besitzen „Mäander“-Struktur, während die Mitteldarm-Chromosomen schraubig gewundene, nahezu glatte Bänder darstellen. In der Paarung der Homologen und in der Neigung zu terminalen Bindungen finden sich ebenfalls gewebespezifische Unterschiede.
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3.
Vom Querscheibenmuster der Speicheldrüsen-Chromosomen wurden Chromosomenkarten aufgenommen. In allen Zellen der Speicheldrüsen und bei allen Individuen finden sich an homologen Chromosomenarten in der Regel Scheiben gleicher Ausprägung; das Querscheibenmuster ist, von Inversionen abgesehen, überall gleich. Unterschiede in der Anzahl der erkennbaren Querscheiben haben zum Teil präparative Ursachen, zum Teil hängen sie mit dem Kontraktionszustand der Chromosomen und der Exaktheit des Scheibenbaues zusammen.
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4.
In der Entwicklung der Speicheldrüsen-Chromosomen werden folgende, durch fließende Übergänge verbundenen Stadien durchlaufen: Frühstadium, Knäuelstadium, Spiralstadium, Mäanderstadium und zylindrisches Endstadium. Dieser Entwicklungsprozeß ist von kontinuierlicher Längen- und Dickenzunahme der Chromosomen begleitet. Nach dem Spiralstadium tritt keine äußere Abwicklung der Spirale ein; die Schraubenstruktur bleibt als spiralige Aufwindung der Einzel-Längselemente auch im äußerlich zylindrischen, großen Speicheldrüsenchromosom erhalten.
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5.
In Kernen von 8gm Durchmesser zeigen die Chromosomen bereits deutlichen Querscheibenbau und sind vollständig gepaart. Die Anzahl der erkennbaren Querscheiben nimmt mit fortschreitender Länge der Chromosomen zu; schon zu Beginn des Spiralstadiums läßt sich die Homologie des Musters der dickeren Querscheiben mit dem Muster der Speicheldrüsen-Chromosomen erwachsener Larven erkennen.
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6.
Das Querscheibenmuster des 3. Chromosoms aus Malpighigefäßen. Rectum und Mitteldarm der erwachsenen Larven wurde mit dem des 3. Speicheldrüsen-Chromosoms verglichen. Die Homologisierung wird durch die großen Unterschiede im Habitus erschwert, und die Anzahl der erkennbaren Scheiben wechselt stark; sie ist am höchsten in Mitteldarm-Chromosomen, am niedrigsten in den Rectum-Chromosomen. Der Vergleich der Chromosomenkarten zeigt aber, daß das Querscheibenmuster der Chromosomen verschiedener Gewebe übereinstimmt.
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7.
Die Struktur der Querscheiben kann sekundär modifiziert sein. Solche lokalen Strukturmodifikationen sind die Balbiani-Ringe und die in größerer Anzahl beobachteten Anschwellungen und diffusen Zonen bzw. Querscheiben („puffs“ und „bulbs“ der früheren Autoren), deren Entstehung sich in allen Fällen auf einzelne Querscheiben zurückführen läßt. Die strukturmodifizierten Stellen sind wahrscheinlich Orte besonders hohen Stoffumsatzes, wie sich am Beispiel der Balbiani-Tlinge experimentell zeigen läßt.
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8.
Auftreten und Ausprägung der verschiedenen Strukturmodifikationen sind variabel; innerhalb der Zellen eines Organes finden sich nur unwesentliche, von. Gewebe zu Gewebe dagegen deutliche spezifische Unterschiede, derart, daß man von. einem gewebespezifischen Muster der Strukturmodifikationen sprechen kann. Auch zwischen Larven und Vorpuppen bestehen Unterschiede: Einige Strukturmodifikationen werden rückgebildet, andere treten neu auf. Die Balbiani-Ringe des 4. Chromosoms finden sich nur in der Speicheldrüse. Die genetischen und umweltbedingten individuellen Schwankungen treten demgegenüber zurück.
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9.
Die Ergebnisse bilden eine weitere Bestätigung der Polytäniehypothese; schraubig gewundene Längselemente sind die Grundlage der verschiedenen Strukturzustände der Riesenchromosomen; auch die Struktur der Balbiani-Ringe wird auf die Schraubenstruktur zurückgeführt, — Die Befunde über die Strukturmodifikationen sind der erste unmittelbare cytologische Hinweis dafür, daß die einzelnen Elemente des Genoms auf die inneren wie auf die äußeren Bedingungen differentiell reagieren.
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Beermann, W. Chromomerenkonstanz und spezifische Modifikationen der Chromosomenstruktur in der Entwicklung und Organdifferenzierung von Chironomus tentans. Chromosoma 5, 139–198 (1953). https://doi.org/10.1007/BF01271486
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