Einführung

BMBF-Förderkennzeichen: 01ET0708–01ET0712

W. von Renteln-Kruse, J. Anders, U. Dapp

Die pointierte und geradezu programmatische Feststellung „Age is something that doesn’t matter, unless you are cheese“ [2] provoziert die Frage „So what does really matter?“. Das Älterwerden ist zwar nicht gleichzusetzen mit Krankheit, aber die Wahrscheinlichkeit für ein Leben mit insbesondere chronischen Krankheiten ist erhöht. Ein einfaches Konzept mit der zentralen Frage, was denn nun zählt, wendet sich rasch weiteren Fragen nach Krankheitsfolgen, Alltagsgestaltung bzw. -bewältigung und damit auch – aus altersmedizinischer, also geriatrischer Sicht – der Frage nach der funktionalen Kompetenz älter werdender Menschen bzw. alt gewordener Patienten zu [13]. Erlebter Verlust von Fähigkeiten bestimmt Bedürfnisse älter werdender Menschen erheblich und ebenso ihre Sorge um die Aufrechterhaltung von Selbstbestimmung und Unabhängigkeit [3, 8], zu Recht [1, 6, 10, 12, 14]. Das Konzept berücksichtigt allerdings auch zunehmende Hinweise auf eine mögliche Gesundheitsförderung, Prävention und therapeutische Intervention im Alter (Abb. 2).

Abb. 1
figure 1

Präventionsansatz, extrinsisches Altern, Krankheit und funktionale Alltagskommpetenz

Gründend auf der Annahme eines wahrscheinlich günstig beeinflussbaren Prozesses der Entwicklung von Gebrechlichkeit (Frailty) stehen Fragen nach dem Erhalt funktionaler Kompetenz, der frühen Erkennung präklinischer Anzeichen für die Entwicklung sowie der Vermeidung unerwünschter Auswirkungen von Gebrechlichkeit im Zentrum der Arbeiten der Teilprojekte des Hamburger LUCAS-Verbunds [5, 7, 9, 11].

Im LUCAS-Verbund arbeiten universitäre sowie außeruniversitäre Institutionen zusammen und untersuchen interdisziplinär ausgewählte Themenbereiche, deren Fragestellungen z. T. direkt aus dem Kontext praktischer Versorgungsbereiche für ältere Patienten stammen. Einige der Ergebnisse der ersten Förderphase der durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Förderprogramm „Gesundheit im Alter“ geförderten Arbeiten werden im Folgenden dargestellt. Wie dort im Einzelnen ausgeführt, betrafen viele der Untersuchungen während der ersten Phase dieses Förderprogramms zunächst die Sammlung von Daten, z. B. durch Rerekrutierung der LUCAS-Langzeitkohorte (s. Teilprojekt 1), den Aufbau und Ausbau vorhandener Datenbanken sowie die Entwicklung und erste Erprobungen von Instrumenten, Untersuchungsverfahren oder modellhaften Interventionsansätzen in Studien mit Pilotcharakter. Vorausgegangen waren die Erstellung von Studien- und Auswertungsplänen, die für alle Teilprojekte positive Voten der zuständigen Ethikkommission erhielten, sodass die Einhaltung der Datenschutzbestimmungen, der Regelungen der Deklaration von Helsinki sowie der Richtlinien einer guten klinischen Praxis gewährleistet sind.

So wurden in fast allen Teilprojekten die Grundlagen für Interventionsstudien gelegt, die in der zweiten Förderphase durchgeführt und evaluiert werden sollen. Für andere, bereits durchgeführte bzw. begonnene Interventionen ist die zweite Förderphase erforderlich, weil für den Nachweis der Effekte entweder längere Beobachtungszeiträume oder umfangreichere Fallzahlen nötig sind.

Die angestrebten Ergebnisse werden größtenteils in die Gesundheitsförderung, Vorbeugung und medizinisch-pflegerische Versorgungspraxis für ältere Menschen [4, 9] und den Wissenstransfer (Aus-, Fort- und Weiterbildung) einfließen. Die Konzeption des LUCAS-Verbunds sichert durch seine, auch transsektoral zusammenarbeitenden Partner die Berücksichtigung verschiedener Versorgungsbereiche sowie den kommunalen Raum in der Metropole Hamburg. Damit sind die Voraussetzungen für die Wissensverbreitung sowie Umsetzung bzw. Anwendung durch vorhandene Netzwerke sehr günstig.

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. W. von Renteln-Kruse

Medizinisch-Geriatrische Klinik,

Albertinen-Haus, Zentrum für Geriatrie und Gerontologie,

Wissenschaftliche Einrichtung an der Universität Hamburg

und Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE)

Sellhopsweg 18-22

22459 Hamburg

w.renteln-kruse@albertinen.de

Literatur

1. Bakker FC, Robben SHM, Olde Rikkert MGM (2011) Effects of hospital-wide interventions to improve care for frail older inpatients: a systematic review. BMJ Qual Saf 20:680–691. DOI 10.1136/bmjqs.2010.047138

2. Burke B, Harkins K (2002) Social gerontology. In: Rai GS, Mulley G (Hrsg) Elderly medicine – a training guide. Martin Dunitz, London

3. Dapp U, Lorentz CH, Laub S et al (2009) Im Alter aktiv und gesund leben – Ergebnisse einer repräsentativen Seniorenbefragung in Hamburg. Z Gerontol Geriat 42:245–255

4. De Lepeleire J, Degryse J, Iliffe S et al (2008) Family physicians need easy instruments for frailty. Age Ageing 37:484

5. Fried LP, Tangen CM, Walston J et al (2001) Cardiovascular Health Study Collaborative Research Group. Frailty in older adults: evidence for a phenotype. J Gerontol A Biol Sci Med Sci 56:146–156

6. Gill TM, Gahbauer EA, Allore HG, Han L (2006) Transitions between frailty states among community-living older persons. Ann Intern Med 166:418–423

7. Guralnik JM, Kritchevsky SB (2010) Translating research to promote healthy aging: the complementary role of longitudinal studies and clinical trials. J Am Geriatr Soc 58:337–342

8. Phelan EA, Anderson LA, LaCroix AZ, Larson EB (2004) Older adults‘ view of „successful aging“ – how do they compare with researchers‘ definitions? J Am Geriatr Soc 52:211–216

9. Renteln-Kruse W von, Dapp U, Anders J et al (2011) The LUCAS consortium – background and objectives of interdisciplinary research on selected aspects of ageing and health-care in an ageing urban community. Z Gerontol Geriatr 44:250–255

10. Rochat S, Cumming RG, Blyth F et al (2010) Frailty and use of health and community services by community-dwelling older men: the Concord Health and Ageing in Men Study. Age Ageing 39:228–233

11. Rubenstein LZ, Wieland D, Bernabei R (Hrsg) (1995) Geriatric assessment technology: the state of the art. Editrice Kurtis, Milano

12. Santos-Eggimann B, Cuénoud P, Spagnoli J, Junod J (2009) Prevalence of frailty in middle-aged and older community-dwelling Europeans living in 10 countries. J Gerontol A Biol Sci Med Sci 64A:675–681

13. Tinetti ME, Fried T (2004) The end of the disease era. JAMA 116:179–185

14. Xue Q-L, Fried LP, Glass TA et al (2007) Life-space constriction, development of frailty, and the competing risk of mortality. The Women’s Health and Aging Study I. Am J Epidemiol. DOI 10.1093/aje/kwm270

LUCAS Teilprojekt 1: Altern der LUCAS-Langzeitkohorte seit dem Jahr 2000

BMBF-Förderkennzeichen: 01ET0708

U. Dapp, J. Anders, S. Laub, S. Golgert, C. Rohn, Ch. Minder

Hintergrund und Fragestellung

Wenig ist bekannt zum normalen Alternsverlauf heutiger Generationen im höheren Lebensalter. Ziel des Teilprojekts 1 im Rahmen der BMBF-Ausschreibung „Gesundheit im Alter“ ist, einen Beitrag zur Schließung dieser Forschungslücke zu leisten durch:

  1. 1.

    Analysen von krankheits- und behinderungsfreier Zeit, funktionellem Abbau, Pflegebedürftigkeit (Pflegestufe), Institutionalisierung und Mortalität zum besseren Verständnis des natürlichen Alterungsprozesses,

  2. 2.

    die Bereitstellung von Informationen über (prä-)klinische Marker der Entwicklung von funktionellem Abbau sowie die Erkennung und Einschätzung älterer Menschen durch eine geriatrische Funktionsskala,

  3. 3.

    die Analyse nachhaltiger Effekte gesundheitsfördernder und präventiver Interventionen, die den Studienteilnehmern im Rahmen einer randomisierten, kontrollierten Studie (RCT) angeboten wurden,

  4. 4.

    Validierung von Instrumenten zur Erkennung verschiedener Stadien von Mobilität, Sturzrisiko und Frailty.

Studiendesign und Methoden

Zur Erreichung dieser Ziele werden im Langzeitverlauf seit über 10 Jahren Veränderungen des Gesundheitszustands; von Funktion und Aktivitäten; des Gesundheitsverhaltens; der Einstellungen zur Gesundheit sowie der Inanspruchnahme des Gesundheitssystems in einer Langzeitkohortenstudie beobachtet und dokumentiert. Die Basis dieser multidimensionalen Datenbasis mit individuumsbezogenen Daten bildeten im Jahr 2000/2001 (Studienbeginn) 3326 ältere Menschen ab 60 Jahren aus 21 Hausarztpraxen, die damals selbstständig, ohne Pflegestufe und ohne Hinweise auf demenzielle Erkrankungen in Hamburg lebten.

Mit diesen individuumsbezogenen Verlaufsdaten liegt eine Grundlage vor, die multidimensionale Gesundheitsaspekte derselben Individuen zu mehreren definierten Messzeitpunkten enthält. Seit Studienbeginn werden Risiken und Ressourcen (Baseline-, 1-, 7- und 9-Jahresverlauf) erhoben und über vertiefende Assessments in LUCAS-Teilprojekten überprüft bzw. validiert. Der Fokus liegt auf der interdisziplinären Generierung neuer Erkenntnisse über das Frailty-Konzept sowie Interaktionen zwischen Gesundheit, Verlust funktionaler Kompetenz, Behinderung, Multimorbidität und Pflegebedürftigkeit.

Durchführung der Kohortenstudie

Unseres Wissens ist dies die erste deutsche Langzeitkohortenstudie, die in einem interdisziplinären Prozess entwickelt wurde, um individuelle Alternsverläufe in einer ehemals selbstständig lebenden, nicht pflegebedürftigen urbanen Kohorte älterer Menschen über den Verlauf von bisher 10 Jahren aufzudecken (Abb. 3).

Abb. 2
figure 2

Rekrutierung und Durchführung der LUCAS-Langzeitkohortenstudie seit dem Jahr 2000. aDetails s. Abb. 1 in [4] und Abb. 3 in [8]. HA Hausarzt; BADL „basic activities of daily living“; HRA-O „health risk appraisal for older people“; QZ Qualitätszirkel

Rekrutierung und Randomisierung

Im Durchschnitt schlossen im Jahr 2000 alle teilnehmenden Hausarztpraxen jeden zehnten ihrer älteren Patienten (Liste aller Patienten ≥60 Jahren) den Kriterien gemäß aus:

  • Abhängigkeit in Aktivitäten des täglichen Lebens/Pflegestufe,

  • demenzielle Auffälligkeiten,

  • terminale Erkrankung und

  • keine Deutschkenntnisse.

Von den Verbliebenen willigte jeder zweite Patient schriftlich in das Langzeitprojekt ein (n=3326) und füllte einen Fragebogen zu gesundheitlicher Situation und (Multi-)Morbidität aus. Der Vergleich zwischen Teilnehmern und Ablehnern der angefragten Patienten (n=553) einer der teilnehmenden Hausarztpraxen ergab keine signifikanten Unterschiede bezüglich Alter, Geschlecht und Komorbidität [3].

Die 21 Hausarztpraxen wurden, vergleichbar nach Alter, Geschlecht und Ausbildung, eingeteilt in Hausärzte mit (n=14) und ohne geriatrisches Training (n=7). Die Hausärzte der Trainingsgruppe nehmen seit Studienbeginn 2-monatlich an einem akkreditierten, curricularen geriatrischen Qualitätszirkel teil. Sie verfügen so über aktuelle Kenntnisse zu Alterung, Altersmedizin, Assessment und Prävention [8].

Mit Studienbeginn wurde in den 14 Hausarztpraxen eine RCT eingebettet mit Interventions- (n=878) und Kontrollgruppe (n=1702) und einer Patientenvergleichsgruppe aller Patienten (n=746) der übrigen 7 Hausarztpraxen.

Erhebungswelle 1 (1-Jahres-Follow-up)

Der Interventionsgruppe wurde die kostenfreie Teilnahme:

  • an einer Kleingruppenberatung durch ein interdisziplinäres Gesundheitsberater-Expertenteam am geriatrischen Zentrum im Programm „Aktive Gesundheitsförderung im Alter“ [1, 6] oder

  • an Einzelberatungen durch eine Fachpflegekraft in präventiven Hausbesuchen [5, 7]

angeboten.

Die Kontroll- und Vergleichsgruppe erhielten die übliche Versorgung. Die Ergebnisse des multidimensionalen 1-Jahres-Follow-up wurden kürzlich veröffentlicht [4].

Die signifikanten Effekte des Programms „Aktive Gesundheitsförderung im Alter“, die positive Resonanz der Studienteilnehmer, des Gesundheitsberater-Expertenteams und der Wunsch der Hausärzte waren Gründe zur Weiterführung des Programms. Nach Abschluss des RCT wurde das Programm 2003 für die Kontrollgruppe sowie Interessierte in Hamburg geöffnet (Finanzierung gemäß § 20 SGB V). Zur Kohorte wurde regelmäßig Kontakt gehalten (Telefonhotline, Newsletter, Zwischentelefonate, indirekt über den Hausärztlichen Qualitätszirkel). Das Programm „Aktive Gesundheitsförderung im Alter“ (Kleeblatt-Programm) wurde 2005 mit dem 1. Preis des Deutschen Präventionspreises ausgezeichnet (http://www.deutscherpraeventionspreis.de/praeventionspreis/2005/index.php). Der Bedarf an Schulungen von Multiplikatorenteams zur Durchführung des Programms stieg (Informationen: http://www.geriatrie-forschung.de). Drei zertifizierte Teams (Übersicht in [2]) sind aktiver Bestandteil des Programms „Gesundes Kinzigtal“ (http://www.gesundes-kinzigtal.de/).

Erhebungswelle 2 (7-Jahres-Follow-up)

Direkt nach der LUCAS-Projektbewilligung wurde 2007/2008 die Rerekrutierung durchgeführt. Jeder Teilnehmer aus 2000/2001 erhielt individuell 7 Jahre später seinen Fragebogen. Von den verbliebenen 2482 Teilnehmern der longitudinalen Kohorte konnten 2012 Studienteilnehmer (1269 Frauen, 743 Männer) rerekrutiert werden; 647 von 3326 Personen (19,5%) waren zwischenzeitlich verstorben und 197 von 3.326 Personen (5,9%) unbekannt verzogen. Nur 470 kontaktierbare Personen gaben keine zweite schriftliche Einwilligung zur weiteren Teilnahme am Projekt (originäre Langzeitkohorte). Zusätzlich wurden 2007/2008 zusätzlich 391 Patienten einer neu rekrutierten Hausarztpraxis für zukünftige Vorprüfungen eingeschlossen (additive Kohorte). Insgesamt liegen für Welle 2 multidimensionale Gesundheitsinformationen von 2403 Teilnehmern vor (dynamische epidemiologische Datenbasis der Langzeitkohortenstudie).

Subgruppen FIT, pre-FRAIL, FRAIL

Eingebettet in Erhebungswelle 2 erfolgte die Zuweisung der 2012 Teilnehmer der originären Langzeitkohorte in die Subgruppen FIT (n=876), pre-FRAIL (n=558) oder FRAIL (n=578) gemäß ihren Fragebogenangaben zum Funktionsstatus. Für vertiefende Assessments wurde eine randomisierte Auswahl dieser Subgruppen gezogen. So wurde bei je 11% ein Assessment in der Mobilitätsambulanz am Albertinen-Haus (TP3 FIT) oder im Hausbesuch (TP5 FRAIL) durchgeführt. Ein drittes LUCAS-Teilprojekt führte vertiefende Befragungen von Personen durch, die im Fragebogen angegeben hatten, Flucht oder Vertreibung aufgrund des Zweiten Weltkriegs erlebt zu haben, und verglich diese mit Angaben von Teilnehmern der Langzeitkohorte ohne Flucht oder Vertreibung (TP4 FORCED).

Zwischen den Erhebungswellen 2 und 3 erfolgte der Abgleich der Angaben zur Pflegebedürftigkeit (Pflegestufe und Eintrittsdatum) mit Registerdaten des Medizinischen Diensts der Krankenversicherung (MDK) Nord. Für verstorbene Teilnehmer wurde die Ermittlung des exakten Todesdatums mithilfe des zentralen Melderegisters (Fachamt Einwohnerwesen der Freien und Hansestadt Hamburg) durchgeführt.

Erhebungswelle 3 (9-Jahres-Follow-up)

2009/2010 erhielten alle Teilnehmer der Befragungswelle 2 den Fragebogen der Befragungswelle 3. Er wurde von insgesamt 1954 Studienteilnehmern (1627 aus der originären, 327 aus der additiven Kohorte) ausgefüllt (Abb. 3).

Diskussion

Diese Langzeitkohortenstudie hat das Potenzial, neue Einsichten in den Alterungsprozess zu generieren. Sie hält eine umfangreiche Datenbasis von Screening- und Assessmentbefunden vor, die in den vergangenen 10 Jahren bei denselben Individuen kontinuierlich erweitert und interdisziplinär interpretiert wurde. Dies war nur möglich aufgrund der kontinuierlichen, intensiven „Pflege“ der Kohorte:

  • durch ein und dieselbe Bezugsperson (Telefonhotline, Zwischentelefonate) und

  • attraktive Angebote durch das Forschungs- und Interventionsteam (Informationen, Interventionen, Tage der offenen Tür, Radio- und TV-Beiträge u. a.).

Außerdem ist ein strukturiertes Datenmanagementtool erforderlich, in dem retrospektiv alle Informationen aller Individuen zu allen Erhebungswellen verfügbar sind und das prospektiv für zukünftige Erhebungsergebnisse und Anforderungen ausgebaut (programmiert) werden kann.

Es gelang, ein neuartiges Instrument zu entwickeln, das die heterogene Gruppe älterer Menschen gemäß dem Funktionsstatus klassifiziert. Das Verfahren gründet auf der internationalen Literatur zum Frailty-Prozess mit seinen Risikoindikatoren. Diese Indikatoren wurden im LUCAS-Projekt um geeignete Indikatoren zur Ermittlung individueller Ressourcen (salutogenetische Perspektive) ergänzt. Die hierauf basierende Klassifikation korreliert mit etablierten Gesundheitsmessungen wie beispielsweise der selbst empfundenen Gesundheit. Weiter zeigt die Analyse dieses Instruments im Zeitverlauf, dass es:

  • probat für die Klassifizierung in die Gruppen FIT, pre-FRAIL und FRAIL,

  • prädiktiv für die Entwicklung von Pflegebedürftigkeit sowie

  • prädiktiv für die Mortalität

ist.

Alle Indikatoren stammen aus validen Instrumenten und können kostengünstig in Selbstausfüllbefragungen erhoben werden. Somit erscheint dieses Verfahren zur Klassifizierung des Funktionsstatus geeignet für den Einsatz in der Hausarztpraxis.

Dies führt zur Verbesserung von Instrumenten und abgeleiteten Interventionen zum Erhalt von Gesundheit, Selbstständigkeit und Autonomie im Alter. Außerdem dienen diese Erkenntnisse als Planungsgrundlage im Gesundheitssystem. Es können z. B. Zielgruppen älterer Menschen größenordnungsmäßig zur Planung von Interventionsangeboten definiert werden. Auch die Aus-, Fort- und Weiterbildung für verschiedene Professionen im Gesundheitswesen und für Laien könnten hierdurch spezifiziert werden, wenn entsprechende Angebote nicht durch kalendarische Altersgrenzen bestimmt werden.

Ausblick bis 2013

Über 90% der Studienteilnehmer der dritten Erhebung wünschten die Fortführung der Forschungsarbeit im direkten Kontakt durch Befragung und Überprüfung praktischer Angebote. Aufgrund anhaltend positiver Resonanz der Langzeitkohorte und sehr hoher Rücklaufraten wird in der nächsten Förderphase eine weitere Befragungswelle im 11-Jahres-Follow-up durchgeführt. Geplant ist ein Abgleich des Status quo (Pflegebedürftigkeit, Mortalität) mit Registerdaten des MDK Nord, des Instituts für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) sowie des Fachamts Einwohnerwesen – Zentrale Meldeangelegenheiten der Freien und Hansestadt Hamburg. Das entwickelte Instrument zur funktionellen Einschätzung wird weiter spezifiziert. Schließlich werden Erfahrungen und Befunde aus LUCAS-Teilprojekt 1 in die kommunal koordinierte Plattform „Pakt für Prävention – gesund alt werden in Hamburg“ der Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz der Freien und Hansestadt Hamburg einfließen.

Korrespondenzadresse

Dr. rer. nat. U. Dapp

Forschungsabteilung,

Albertinen-Haus, Zentrum für Geriatrie und Gerontologie,

Wissenschaftliche Einrichtung an der Universität Hamburg

Sellhopsweg 18-22

22459 Hamburg

ulrike.dapp@albertinen.de

http://www.geriatrie-forschung.de

http://www.albertinen.de

Literatur

1. Dapp U, Anders J, Renteln-Kruse W von, Meier-Baumgartner HP (2005) Active health promotion in old age: methodology of a preventive intervention programme provided by an interdisciplinary health advisory team for independent older people. J Publ Health 13:122–127

2. Dapp U (2009) Gesundheitsförderung bei älteren Menschen. In: Renz G; Marckmann G; Gesundheitsrat Südwest (Hrsg) Die medizinisch-pflegerische Versorgung älterer Menschen. edition akademie 24, Evangelische Akademie, Bad Boll, S 128–138

3. Dapp U (2008) Gesundheitsförderung und Prävention selbständig lebender älterer Menschen. Eine medizinisch-geographische Untersuchung. Kohlhammer, Stuttgart

4. Dapp U, Anders JAM, Renteln-Kruse W von et al (2011) A randomized trial of effects of health risk appraisal combined with group sessions or home visits on preventive behaviors in older adults. J Gerontol A Biol Sci Med Sci 66:591–598

5. Meier-Baumgartner HP, Anders J, Dapp U (2005) Präventive Hausbesuche. Gesundheitsberatung für ein erfolgreiches Altern – als Arbeitsfeld für Pflegekräfte. Vincentz, Hannover

6. Meier-Baumgartner HP, Dapp U, Anders J (2006) Aktive Gesundheitsförderung im Alter, 2. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart

7. Renteln-Kruse W von, Anders J, Dapp U, Meier-Baumgartner HP (2003) Präventive Hausbesuche durch eine speziell fortgebildete Pflegefachkraft bei 60-jährigen und älteren Personen in Hamburg. Z Gerontol Geriatr 36:378–391

8. Stuck AE, Kharicha K, Dapp U et al (2007) An international randomised controlled study of health risk appraisal for older persons based in general practice (ISRCTN28458424). BMC Med Res Methodol 7:2

LUCAS-Teilprojekt 2: Befragung „Gesundheit älterer Menschen in Hamburg“

BMBF-Förderkennzeichen: 01ET0709

R. Fertmann, T. Kröpelin

Hintergrund und Fragestellung

Ziel dieses Projektes war die Erhebung, Beschreibung und Bewertung von Informationen zur Gesundheit bei einer altersrepräsentativen Stichprobe von Hamburger Senioren ab 60 Jahren. Von Interesse waren Gesundheitszustand, Lebensqualität, Ressourcen und die Kompetenz bezüglich gesundheitlich relevanter Themen. Auf dieser Grundlage sollen gesundheitsfördernde und präventive Maßnahmen für Senioren zielgerecht verbessert werden. Darüber hinaus ermöglicht der Datenbestand einen Vergleich mit den in der LUCAS-Kohorte und in Teilgruppen erhobenen Daten.

Studiendesign und Methoden

Der gewählte Ansatz wurde vorab mit dem Hamburgischen Datenschutzbeauftragten und der Ethik-Kommission der Ärztekammer Hamburg abgestimmt. In einem persönlichen Anschreiben mit Informationen über die geplante Befragung wurden Hamburger ab 60 Jahren (Zufallsauswahl des Amts für zentrale Meldeangelegenheit) schriftlich kontaktiert und informiert, dann angerufen und um Teilnahme gebeten. Wenn kein Telefonkontakt hergestellt werden konnte, wurden die potenziellen Teilnehmer erneut schriftlich eingeladen, sich zu beteiligen. Diesem Schreiben war ein kurzer schriftlicher Fragebogen beigelegt.

Die Interviewbefragung wurde in Anlehnung an die telefonischen Umfragen des Robert Koch-Instituts und den schriftlichen Fragebogen („minimal data set“) der Langzeiterhebung (LUCAS-Teilprojekt 1) entwickelt und auf Deutsch, Englisch, Französisch, Türkisch und Polnisch angeboten. Insgesamt wurden fast 8000 Hamburger Senioren angeschrieben. Für das Telefoninterview wurde in der Zufallsstichprobe eine vergleichsweise gute Response von 37% erreicht, in der Stichprobe mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit lag diese bei 28%. Der Abgleich mit den Daten der Nonresponder bzw. den Angaben in den Kurzfragebögen lässt darauf schließen, dass eine valide Datengrundlage besteht. Die Zielstichprobe der Interviewten umfasst geschlechterproportional in allen 5-Jahresaltersgruppen jeweils mindestens 200 Personen. Die altersrepräsentativen Ergebnisse beruhen auf der gewichteten Analyse.

Die Auswertung erfolgte überwiegend uni- und bivariat für die mehr als 100 Einzelitems und die abgeleiteten Indizes. Die Darstellung und Bewertung der Ergebnisse erfolgt im Rahmen der Hamburger Gesundheitsberichterstattung. Beispielhaft werden im Folgenden die Zusammenhänge zwischen soziodemografischen Merkmalen und dem Gesundheitszustand beschrieben sowie in diesem Kontext die Angaben zur Teilnahme an der Gesundheitsförderung.

Ergebnisse

Die altersrepräsentative Stichprobe enthielt etwas mehr Frauen (57%) als Männer (43%). Der reelle Altersdurchschnitt lag bei 71±7 Jahren, das gefühlte Alter mit einem Mittelwert von 61±11 Jahren (nicht tabelliert) deutlich darunter. Aufgrund der Auskünfte zur Schulbildung, beruflichen Ausbildung und zum Nettoeinkommen waren 41% der Älteren einem geringen sozioökonomischen Status zuzuordnen, 27% einem mittleren und 32% einem höheren sozioökonomischen Status (in Anlehnung an [1]). Die kleine Gruppe von gesondert befragten Migranten (hier: Personen nichtdeutscher Staatsangehörigkeit) war im Schnitt etwas jünger (Mittelwert: 67±7 Jahre) und in sozioökonomischer Hinsicht höher als erwartet einzuordnen.

Gesundheitszustand

Getrennt nach sozioökonomischem Status und Geschlecht fasst Tab. 1 die Angaben zum Gesundheitszustand zusammen.

Tab. 1 Gesundheitsmerkmale differenziert nach soziökonomischem Status und Geschlecht (n=1094)

Ein sehr guter oder guter Gesundheitszustand war bei höherem soziökonomischem Status häufiger. Dementsprechend ist die Prävalenz von chronischen Erkrankungen, ständigen Schmerzen und gesundheitlich bedingten Einschränkungen im Alltag bei geringem und mittlerem sozioökonomischem Status häufiger. Migranten (Personen mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit) gaben zu 64% einen guten oder sehr guten Gesundheitszustand an; mehr als die Hälfte der Migranten hatte chronische Erkrankungen (57%), ein etwas geringerer Anteil ständige Schmerzen (40%). Mit diesen Prävalenzen entsprachen Migranten etwa dem mittleren sozioökonomischen Status.

Gesundheitsförderung

Etwa ein Drittel der Befragten hatte Erfahrungen mit Maßnahmen zur Gesundheitsförderung (36%), zwei Drittel hingegen bislang nicht. Maßnahmen zur Verbesserung der Fitness und Beweglichkeit waren die beliebtesten (28%), gefolgt von Ernährung und Abnehmen (14%) sowie Stressbewältigung (11%). Auch ein Drittel der Migranten (30%) hatte bereits Erfahrungen mit gesundheitsfördernden Maßnahmen.

Personen, die bereits Erfahrungen mit der Gesundheitsförderung gemacht hatten, stimmten in Alter und Geschlecht mit den restlichen Personen überein; der mittlere sozioökonomische Status war gleich häufig vertreten, der höhere Status etwas häufiger bei denjenigen mit Erfahrung (36% vs. 29%; nicht tabelliert). Die Teilgruppen ähnelten sich in Hinblick auf den Gesundheitszustand. Chronische Erkrankungen, Schmerzen und die Erfahrung, im Alltag eingeschränkt zu sein, waren jedoch häufiger in der Gruppe der Teilnehmer an Gesundheitsförderungsmaßnahmen vertreten (Tab. 2).

Tab. 2 Gesundheitsmerkmale differenziert nach der Teilnahme an gesundheitsfördernden Maßnahmen (n=1094)

Unter dem Vorbehalt kleiner Zahlen lassen sich diese Beobachtungen in der Stichprobe der Migranten bestätigen.

Diskussion

Die Hamburger Daten bestätigen den aus anderen Studien (beispielsweise [2]) bekannten Sozialgradienten in gesundheitsrelevanten Merkmalen: je höher der sozioökonomische Status, desto besser der Gesundheitszustand. In der Hamburger Befragung waren die Personen der höheren soziökonomischen Schicht durchschnittlich 3 Jahre jünger (69 statt 72 Jahre). Dieses Artefakt ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass das Nettoeinkommen bei noch bestehender Berufstätigkeit höher ausfällt; dies hat die Einordnung jüngerer Personen in die höhere sozioökonomische Stufe begünstigt. Eine Bewertung der gesundheitsrelevanten Differenzen in Zusammenhang mit dem soziökonomischen Status muss diesen Altersunterschied berücksichtigen.

In Bezug auf den allgemeinen Gesundheitszustand profitieren Männer scheinbar noch stärker von den sozioökomischen Unterschieden als Frauen; alle Differenzen sind größer als bei Frauen. Unter den befragten Migranten sind höhere Ausbildungsabschlüsse überproportional vertreten; hier war die Erhebung selektiv und nicht repräsentativ.

Ältere Personen, die Erfahrungen mit Gesundheitsförderungsmaßnahmen gemacht haben, zeichnen sich insgesamt durch mehr gesundheitliche Einschränkungen aus. Sie sind möglicherweise durch eine höhere Präsenz von Krankheiten oder Beschwerden motiviert worden, sich an gesundheitsfördernden Angeboten zu beteiligen. Gleichzeitig gaben diese Personen an, überzeugt zu sein, (sehr) viel zur eigenen Gesundheit beitragen zu können (79% vs. 68%). Es lässt sich nur vermuten, dass diese Beobachtungen auch auf die Migranten übertragbar sind.

Schlussfolgerungen

Der Zugang durch eine schriftliche Vorabinformation und die Transparenz im Erhebungsverfahren haben unseres Erachtens zu einer guten Response beigetragen, sodass für die Hamburger Gesundheitsberichterstattung eine solide Datenbasis besteht. Zugleich konnten mittels fremdsprachiger Informationen und Interviewangeboten Migranten mit geringen Deutschkenntnissen in die Auswertung einbezogen werden. Komplementär zum ersten Bericht zur Gesundheit im Alter werden im zweiten Bericht (http://www.hamburg.de/gesundheitsberichte/) weitere Ergebnisse der telefonischen Befragung beschrieben. Diese und weitere Ergebnisse, auch aus dem LUCAS-Verbund, fließen in den Pakt für Prävention (http://www.hamburg.de/pakt-fuer-praevention) ein.

Korrespondenzadresse

Dr. R. Fertmann

BGV – Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz,

Abteilung Gesundheit,

Gesundheitsberichterstattung und Gesundheitsförderung

Billstrasse 80a

20539 Hamburg

regina.fertmann@bgv.hamburg.de

Literatur

1. Jöckel KH, Babitsch B, Bellach BM et al (1998) Messung und Quantifizierung soziodemographischer Merkmale in epidemiologischen Studien. In: Ahrens W (Hrsg) Messung soziodemographischer Merkmale in der Epidemiologie. Robert Koch-Institut. MMV Medizin, München, S 7–38

2. Lampert T, Ziese T (2005) Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Armut, soziale Ungleichheit und Gesundheit. Expertise des Robert Koch-Instituts zum 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Robert Koch-Institut, Berlin

LUCAS-Teilprojekt 3: Mobile Senioren in der Metropolregion Hamburg – Idee, Durchführung und Perspektiven

BMBF-Förderkennzeichen: 01ET0708

J. Anders, U. Dapp, B. Haller, S. Golgert, V. Kowalewski, C. Rohn

Hintergrund

Das LUCAS-Projekt ist ein Vorhaben, das der Beschreibung des Alterungsprozesses aus verschiedenen Perspektiven sowie dem Verständnis von Determinanten und Wechselwirkungen dient. Zudem werden Strategien für eine lebensphasenorientierte Gesundheitsförderung und medizinische Versorgung entwickelt sowie Langzeiteffekte präventiver Interventionen geprüft.

Das Teilprojekt 3 sollte eine repräsentative Stichprobe der anteilig größten Bevölkerungsgruppe älterer Menschen, die selbstständig ohne professionelle Hilfeleistung Lebenden, erfassen, den gesundheitlichen, v. a. funktionellen Status basierend auf dem biopsychosozialen Modell mit Referenzwerten beschreiben und die Validität der in Teilprojekt 1 erhobenen Selbstauskünfte mit objektiven Messmethoden belegen. Dies ist sinnvoll, da vorhandene Daten zu älteren Menschen eher bereits erkrankte oder funktional beeinträchtigte Personen beschreiben, was eine Abgrenzung natürlicher Alterserscheinungen von behandlungsbedürftigen Störungen erschwert. Weiter unterscheiden sich gegenwärtig lebende ältere Menschen von vorhergehenden Generationen, etwa durch einen besseren Zugang zu gesundheitsfördernden Angeboten [6, 8].

Hieraus leiteten sich die wesentlichen Fragestellungen ab:

  • Wie stellen sich in Phänotyp und Funktionsstatus die Teilpopulation der mehrheitlich rüstigen (gesunden bzw. noch nicht funktionell eingeschränkten) älteren Menschen dar?

  • Welche Instrumente sind besonders geeignet, um Gesundheitszustand und funktionale Fähigkeiten dieser Zielgruppe zu erfassen?

Studiendesign und Methoden

Es erfolgte zunächst die Zusammenstellung eines geeigneten Instrumentariums, im Kern geriatrische Instrumente wie der I-ADL-Status und Performance-Tests wie der Timed-up-and-go-Test, die auch für das hausärztliche Basis-Assessment (OPS 03341, EBM 2000plus) empfohlen sind. Um Ceiling-Effekte zu vermeiden, wurden zusätzlich Instrumente neu entwickelt wie der Sturzrisikocheck [2] bzw. adaptiert wie der Fear-of-falling Questionnaire als Weiterentwicklung zum Mobilitätsprotokoll [3]. Da Mobilität und Gangsicherheit Schwerpunkte sind, wurden zusätzlich technische Ganganalysen entsprechend den europäischen Leitlinien durchgeführt. Weiterhin wurden standardisierte Interviewleitfäden zu motorischer Entwicklung, Bildung, Beruf, Biografie, Resilienz und außergewöhnlichen Belastungen im Lebenslauf entwickelt und eingesetzt. Das Assessment war hierfür sehr umfassend angelegt (Abb. 3) und wird als „Erweitertes Gerontologisch-Geriatrisches Assessment“ (EGGA) bezeichnet. Eine Kurzform für die Praxis soll von den Ergebnissen und Verlaufsbeobachtungen der Teilnehmer (Erhebungswellen 2009 und 2011) abgeleitet werden. Bestandteil des Verfahrens war ebenfalls eine beratende Intervention (Ableitung individueller Empfehlungen zur Gesundheitsförderung). Zudem erhielten die Hausärzte Befundberichte [1].

Abb. 3
figure 3

Erweitertes Gerontologisch-Geriatrisches Assessment (EGGA) in der Mobilitäts-Ambulanz. Teilnahme und Ablauf. CCT Clock-completion-Test; MNA „mini nutrional assessment“; PHQ-D Patient Health Questionnaire, deutsche Version

Nach Schulung des Teams und Vorprüfungen an einer additiven Stichprobe wurden geeignete ältere Teilnehmer durch das LUCAS-Koordinationszentrum rekrutiert. Wie im Teilprojekt 1 beschrieben, erfüllten 876 LUCAS-Studienteilnehmer (etwa jeder Zweite) die Kriterien der funktionellen Klassifizierung für die rüstige, im geriatrischen Sinne als „FIT“ bezeichnete Gruppe. Diese verfügt laut Selbstausfüllerfragebogen (zweite Erhebungswelle 2007) über mindestens 3 von 6 positiven (Ressourcen) und weniger als 3 von 6 negativen Indikatoren (Anzeichen für Gebrechlichkeit). Um mindestens 10% dieser Zielgruppe zu untersuchen, wurde in einem gestaffelten Zufallsverfahren etwa 1 Drittel mehr Personen als notwendig aus der originären Langzeitkohorte gezogen. Weiter wurden im gleichen Haushalt lebende Ehepartner zur Untersuchung zugelassen, wenn sie gleichfalls zur originären Kohorte zählten und als „FIT“ klassifiziert waren. Dadurch sind Vergleiche zwischen allein und in Ehe Lebenden möglich, z. B. in Bezug auf Lebensqualität und Arbeitsteilung im Haushalt.

Ergebnisse

Zufällig ausgewählt wurden 143 Personen aus 125 Haushalten, von denen 102 (71,3%) ihre schriftliche Einwilligung erteilten. Aufgrund hoher Motivation und guter Belastbarkeit konnten bei allen 102 Teilnehmern (84 und 18 vergleichbare Ehepartner; 47 Männer und 55 Frauen) das vollständige EGGA durchgeführt und ausgewertet werden. Der Altersmedian zum Untersuchungszeitpunkt lag bei 72,8 Jahren mit einer hohen Spannbreite von 67,5 bis 85 Jahren.

Die Befunde können hier nur exemplarisch dargestellt werden, weisen aber darauf hin, dass die über Teilprojekt 1 mittels 12 Indikatoren vorgenommene funktionelle Klassifikation als „FIT“ zutreffend war. Die teilnehmenden 102 Personen attestierten sich selbst überwiegend eine gute bis ausgezeichnete Gesundheit (90%) und führten ein aktives Leben. Dennoch wurde im Median über 4 chronische Erkrankungen berichtet (Bereich: 1–10), von denen mehr als die Hälfte (Median: 2,5; Bereich: 0–9) mit spürbaren Beschwerden wie leichten Schmerzen einherging.

Im Interview zur Biographie erinnerten sich 61 Personen daran, lebensbedrohliche Krankheiten überstanden zu haben. Eine etwas geringere Zahl von 41 Personen erwähnte nicht vollkommen bewältigte, kritische Ereignisse im Lebenslauf wie z. B. den Verlust eines Kinds (vgl. Teilprojekt 4). Antworten auf Fragen zum Verhalten belegten einen aktiven Lebensstil: Ein Anteil von 90,2% der Teilstichprobe war regelmäßig mindestens einmal pro Woche sportlich aktiv, davon 16 Personen (15,7%) in mindestens 3 unterschiedlichen Sportarten mit sämtlichen 3 empfohlenen Trainingsinhalten (Kraft, Koordination, Ausdauer). Die Teilstichprobe FIT meisterte nicht nur den Alltag; 2 Drittel der Teilnehmer engagierten sich ehrenamtlich in herausfordernden Tätigkeiten wie Museumsdiensten und Sterbebegleitung, leiteten Bildungsangebote oder Sportgruppen. Bei 33 Personen wurde gemäß Sturzrisikocheck kein erhöhtes Sturzrisiko nachgewiesen (0–3 Risikofaktoren), 58 lagen im Bereich eines leicht erhöhten Sturzrisikos (4–7 Risikofaktoren), während nur 11 Personen mit mindestens 8 von 13 Risikofaktoren im Hochrisikobereich lagen. Stürze erinnerten nur 15%, 84% fuhren noch regelmäßig Fahrrad.

Das Assessment mit teils anspruchsvollen Performance-Tests wurde überwiegend innerhalb der aktuellen strengen Grenzwerte für selbstständig lebende ältere Menschen absolviert (z. B. ein Median von 9 s im Timed-up-and-go-Test). Die Resultate unterschieden sich kaum von den Leistungen Jüngerer mit geringen Abstrichen bei der Handkraft (Median: 64 kPa, bei großer interindividueller Varianz von 35–100 kPa), Balance (40% unsicher beim Gehen über einen 10 cm schmalen Schaumstoffbalken) und kognitiven Leistung (in 33% der Fälle keine perfekte Leistung im Clock-completion-Test). Auch die qualitativen und technischen Analysen zum Gangbild ergaben kaum auffällige Befunde, auch nicht in einer Mehrfachanforderungssituation wie dem Vorwärtsgehen oder Rückwärtszählen (Basel-Stress-Test, [5]). Die meisten Teilnehmer bestimmten und nutzten ihren Mobilitätsradius innerhalb der Metropolregion Hamburg uneingeschränkt für selbst gewählte Aktivitäten einschließlich Fernreisen.

Diskussion

Auch 7 Jahre nach Studienbeginn konnte die Mehrheit der älteren Teilnehmer aus der originären Kohorte als „FIT“ in Phänotyp und Funktion bezeichnet werden [2]. Die Stichprobe „FIT“ ist daher nicht nur im geriatrischen Sinne rüstig, selbstständig und mobil, sondern unterscheidet sich in ihren Möglichkeiten, Aktivitäten und damit verbundenen Reichweiten im Aktionsraum (geographische Mobilität) kaum von jungen Erwachsenen, aber deutlich von gebrechlichen, jedoch noch gerade selbstständigen LUCAS-Teilnehmern (Teilprojekt 5, Stichprobe „FRAIL“). Zur Differenzierung haben sich die neu entwickelten Instrumente wie der Sturzrisikocheck bewährt (einschließlich Manual frei verfügbar unter: http://www.bzga.de/themenschwerpunkte/gesundheitaelterermenschen).

Obwohl keine schwerwiegenden kognitiven Einschränkungen gefunden wurden, fiel doch eine unerwartet hohe Zahl der körperlich stabilen Teilnehmer durch leichte Auffälligkeiten im kognitiven Bereich auf (Screening mittels Clock-completion-Test). Das Teilprojekt 3 wurde deshalb um eine neuropsychologische Untersuchung der kognitiven und psychischen Leistungsfähigkeit ergänzt [1]. Die vorläufigen Ergebnisse sind in der Aussagekraft eingeschränkt, da überwiegend Personen mit auffälligen Befunden in diesen beiden Bereichen eine weiterführende psychologische Untersuchung ablehnten. Die Verlaufsbeobachtung der Kohorte wird ggf. Aufschluss über das Auftreten demenzieller Erkrankungen geben können [4]. Die derzeit vorliegenden Daten der Erhebungswelle 2009 weisen den funktionellen Zustand des überwiegenden Teils der 102 Teilnehmer der Assessments in Teilprojekt 3 weiterhin als „FIT“ aus.

Schlussfolgerungen

Gesundheit und aktive Lebensführung sind für die Mehrheit der älteren Bevölkerung möglich und bereits Realität, wenn Zugang und Nutzungsmöglichkeiten (Bildung, Gesundheitsbewusstsein) zu einer Reserven ausbauenden Lebensführung (Empowerment, aktive Gesundheitsförderung) und entsprechenden hausärztlichen Begleitung (Vorsorge, altersmedizinische Fertigkeiten, Behandlung chronischer Erkrankungen) bestehen [6]. Beim Auftreten erster Probleme mit oft unspezifischer Symptomatik aus verschiedenen Gesundheitsbereichen erscheint ein holistischer Ansatz sinnvoll. Die bisherigen Erfahrungen im LUCAS-Verbund unterstreichen die Bedeutung eines regelmäßig angebotenen Basis-Assessments zur Früherkennung einer funktionellen Verschlechterung [7].

Ob kognitiver Abbau, psychische Erkrankungen oder somatische Krankheitsfolgen Anlass zu plötzlichem Reservenabbau und Eintritt in das Frailty-Syndrom sind und welche Maßnahmen dann indiziert sein könnten, soll die Anschlussstudie zu klären helfen. Zusammen mit den kooperierenden Hausärzten sind in der Mobilitätsambulanz im Rahmen einer randomisierten, kontrollierten Studie erweiterte Assessments (EGGA) bei denjenigen Personen geplant, die gerade in die Frailty-Kaskade eintreten [5, 8].

Korrespondenzadresse

Dr. J. Anders

Forschungsabteilung,

Albertinen-Haus, Zentrum für Geriatrie und Gerontologie,

Wissenschaftliche Einrichtung an der Universität Hamburg

Sellhopsweg 18-22

22459 Hamburg

jenny.anders@albertinen.de

http://www.geriatrie-forschung.de

http://www.albertinen.de

Literatur

1. Anders J, Kowalewski V, Golgert S et al (2010) Frühe Abklärung physischer und psychischer Risiken im Alter, 3. Bd. Versorgungsforschung der Bundesärztekammer. Deutscher Ärzteverlag, Köln, S 77–86

2. Anders J, Dapp U, Laub S, Renteln-Kruse W von (2007) Einfluss von Sturzgefährdung und Sturzangst auf die Mobilität selbständig lebender, älterer Menschen am Übergang zur Gebrechlichkeit. Z Gerontol Geriatr 40:255–267

3. Anders J, Dapp U, Renteln-Kruse W von (2005) Entwicklung und Validierung eines Mobilitäts-Protokolls. Eur J Geriatr 7:260

4. Avila-Funes JA, Amieva H, Barberger-Gateau P et al (2009) Cognitive impairment improves the predictive validity of the phenotype of frailty for adverse health outcomes: the three-city study. J Am Geriatr Soc 57:453–461

5. Bridenbaugh SA, Kressig RW (2011) Laboratory review: the role of gait analysis in seniors‘ mobility and fall prevention. Gerontology 57:256–264. DOI 10.1159/000322194

6. Dapp U, Anders J, Renteln-Kruse W von et al (2011) A randomized trial of effects of health risk appraisal combined with group sessions or home visits on preventive behaviors in older adults. J Gerontol A Biol Sci Med Sci 3. DOI 10.1093/gerona/glr021

7. Drey M, Wehr H, Wehr G et al (2011) Das Frailty-Syndrom in der hausärztlichen Praxis. Eine Pilotstudie. Z Gerontol Geriat 44:48–54

8. Kuh D (2007) New dynamics of ageing preparatory network. A life course approach to healthy aging, frailty, and capability. J Gerontol A Biol Sci Med Sci 62:717–721

LUCAS-Teilprojekt 4: Determinanten psychischer Gesundheit Vertriebener im Alter (FORCED)

BMBF-Förderkennzeichen: 01ET0710

S. Schmidt, S. Freitag

Fragestellung

Das Teilprojekt 4 der LUCAS-Studie beschäftigt sich mit Langzeitfolgen von Vertreibung im Zweiten Weltkrieg auf die psychische und physische Gesundheit von Vertriebenen im Vergleich zu Nichtvertriebenen. Ziel ist die Untersuchung der psychosozialen Langzeitschäden durch Vertreibung sowie der Unterschiede hinsichtlich psychischer und physischer Gesundheit. Ein weiteres Ziel ist die Untersuchung der Langzeitfolgen von traumatischen Erlebnissen im Zweiten Weltkrieg und im Lebensverlauf sowie deren Auswirkungen und Zusammenhänge auf die Gesundheit im Alter.

Studiendesign und Methoden

Das Projekt bestand aus zwei Erhebungsphasen, in denen quantitative und qualitative Methoden angewendet wurden. Die erste Phase beinhaltete die Entwicklung und Anwendung eines quantitativen Fragebogens. Dieser umfasst sowohl sozioökonomische, psychosoziale und gesundheitsbezogene Aspekte als auch die Erfassung von kritischen Lebensereignissen und deren langfristigen Einfluss auf im Zweiten Weltkrieg Vertriebene und Nichtvertriebene. In der zweiten Erhebungsphase des Teilprojekts wurde ein semistrukturierter Interviewleitfaden konstruiert, der inhaltlich an die quantitative Erhebung angelehnt ist und folgende Aspekte erfragt: alltägliche Aktivitäten, Lebenszufriedenheit, Gesundheitszustand und -verhalten, soziale Unterstützung und Integration sowie Einstellungen zu Alter, Bewältigungsstrategien und Zukunftsperspektiven. Zentral war die Biografie der Personen, in der kriegs- und vertreibungsbezogene Erlebnisse während der Kindheit und Jugend im Zweiten Weltkrieg sowie die persönliche und berufliche Entwicklung nach Kriegsende thematisiert wurden. Die Interviews wurden mit einer Substichprobe der zuvor Befragten durchgeführt und qualitativ ausgewertet. Die Ergebnisse der quantitativen und qualitativen Untersuchungen werden einzeln und einander ergänzend analysiert.

Ergebnisse

Insgesamt wurden 828 Personen der LUCAS-Kohorte kontaktiert, 414 Vertriebene und 414 Nichtvertriebene, parallelisiert nach Alter und Geschlecht. An der Fragebogenstudie nahmen 420 Personen teil (Responserate: 50,7%), darunter 208 Vertriebene und 212 Nichtvertriebene. Zusätzlich wurde der Fragebogen, zum Ausschluss einer gegenseitigen Beeinflussung, von 45 Haushaltspartnern ausgefüllt. Teilnehmer, die einer weiteren Befragung zustimmten, wurden für ein Interview kontaktiert. Es wurden 131 Interviews durchgeführt. Die Vertriebenen unterschieden sich hinsichtlich soziodemographischer Variablen nicht von den Nichtvertriebenen. Die Vertriebenen gaben im Gegensatz zu den Nichtvertriebenen signifikant mehr traumatische Erlebnisse an und wiesen höhere Werte in Bezug auf Symptome für Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen auf. Es konnten keine Unterschiede für Panikstörungen nachgewiesen werden. Hinsichtlich des physiologischen Gesundheitsstatus schätzen Vertriebene ihre Gesundheit signifikant schlechter ein als Nichtvertriebene und geben mehr chronische Beschwerden an. Vertriebene sind jedoch nicht vermehrt in ihren Aktivitäten behindert und konsultieren auch nicht häufiger den Arzt. Weiterhin konnte festgestellt werden, dass eine Interaktion zwischen dem Erleben von Traumata und einem höheren Risiko der Symptomschwere besteht. Das Erleben einer größeren Anzahl von Traumata ist signifikant assoziiert mit geringerer psychologischer, aber nicht physiologischer Funktionsfähigkeit. Mit einem vermehrten Erleben von Traumata ist die Auftretenswahrscheinlichkeit von Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen erhöht [1].

Qualitative Analysen zeigten, dass Vertriebene keine größeren psychischen Beeinträchtigungen aufwiesen, obwohl sie eine höhere Zahl an Symptomen im Fragebogen angaben. Es ist anzunehmen, dass die Instrumente zur Erfassung von Depressionen oder Angsterkrankungen die psychische Belastung der Probanden überschätzten. Die Probanden zeigten in den Berichten über Kriegs- und Fluchterlebnisse keine Hinweise auf eine Retraumatisierung. Der biografiebasierte Interviewansatz wurde von den Teilnehmern sehr positiv aufgenommen. Trotz der erhöhten psychischen Belastung von Vertriebenen konnten hinsichtlich der ressourcenorientierten psychologischen Konstrukte wie der aktuellen Lebensqualität keine Unterschiede zwischen den Gruppen gefunden werden. Zur Lebensqualität im Alter trugen eine gute soziale Integration ins Lebensumfeld, geringe Depressionssymptome sowie eine gute Einstellung zum Altern bei (Varianzaufklärung von 53,5%). Analysen zur retrospektiv erfragten Lebensqualität über die Lebensspanne zeigten, dass die Lebensqualität sich seit dem Kriegsende kontinuierlich verbessert hat und heute als gut charakterisiert wird. Unterschiede zwischen Vertriebenen und Nichtvertriebenen zeigten sich ausschließlich für die Lebensqualität vor 60 Jahren während der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Geschlechtsunterschiede in der Lebensqualität wurden ausschließlich für das mittlere Lebensalter angegeben, wobei die Werte für Frauen niedriger waren. Hinsichtlich der Bewertungen der Lebensqualität vor 10 Jahren und der aktuellen Lebensqualität zeigten sich keine Unterschiede [2].

Diskussion

Durch die Studie wurde die Bedeutung biografischer Ereignisse in einer Hamburger Stichprobe älterer Menschen untersucht. Es zeigten sich einerseits leichte psychische Einschränkungen aufgrund des Vertriebenenstatus, andererseits konnten keine Unterschiede hinsichtlich ressourcenorientierter Konstrukte wie der Lebensqualität festgestellt werden. „Gesundheit im Alter“ sollte die Untersuchung von Risiken und Ressourcen beinhalten.

Ausblick

Aufgrund der guten Resonanz des biografischen Ansatzes in der Interviewstichprobe wird in der zweiten Förderphase eine manualisierte Schreibtherapie entwickelt, die sich auf die Bearbeitung biografischer Erlebnisse von Menschen der Kriegsgeneration bezieht. Der Ansatz wird im Rahmen einer randomisierten, kontrollierten Interventionsstudie durchgeführt.

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. S. Schmidt

Robert-Blum-Str. 13

17487 Greifswald

silke.schmidt@uni-greifswald.de

Literatur

1. Strauss K, Dapp U, Anders J et al (2010) Range and specificity of war-related trauma to posttraumatic stress; depressions and general health perception: Displaced former World War II children in late life. J Affect Disord 128:267–276

2. Freitag S, Hannig C, Schmidt S (o J) „How good was my life?“ – Current and retrospective assessment of quality of life in a German sample of older adults with and without displacement experience in World War II. (Eingereicht)

LUCAS-Teilprojekt 5: Zu den Gebrechlichen! Aber wie? – Hausbesuch-Assessment für selbstständig lebende Senioren mit Funktionsabbau (FRAIL) als Methode (und Gegenstand) der Langzeituntersuchung

BMBF-Förderkennzeichen: 01ET0711

F. Pröfener

Hintergrund

Längsschnittuntersuchungen mit wiederkehrenden Befragungswellen unter relativ homogenen räumlichen und sozialpolitischen Bedingungen erscheinen geeignet, das Altern in systematischen Zusammenhängen zu erkunden, Kontinuität und Individualität von Lebensphasen zu beurteilen sowie Frühindikatoren markanter Passagen des Alterns zu finden. Kombiniert mit querschnittlich angelegten Face-to-face-Assessments in randomisierten Teilstichproben entwickeln sie ihr Potenzial.

Face-to-face-Assessments sind hilfreich dabei, schriftliche Mitteilungen durch Anschauung und Messung leiblicher Vermögen, die Teil jeder Kommunikation sind, zu überprüfen oder zu ergänzen. Sie helfen, Gewöhnungs- oder Interventionseffekte abzuschätzen und in Form des Hausbesuchs für einen Längsschnitt unangenehme Stichprobenverluste und selektive Immobilitätseffekte zu begrenzen. Zudem kann eine von Beweglichkeits- und Kommunikationseinbußen bereits geprägte Phase des Alterns im „lebensweltlichen“ Kontext betrachtet werden.

Funktionelle Verluste vor Eintritt von Pflegebedürftigkeit im Sinne des SGB XI sind für viele ältere Menschen eine schmerzhafte Tatsache, nicht zuletzt in unserer „Aktivierungsgesellschaft“ [5], die älter werdenden Menschen nicht nur „mehr Leben“‘ als die „Weisheit des Lehnstuhls“ zugesteht, sondern auch mehr Leistung abverlangt und entsprechend optimistische Bilder des Alterns sendet. Diese können diejenigen, die sich weniger oder nicht mehr beteiligen, zur Aktivität motivieren. Sie könnten ältere Menschen aber auch überfordern oder deprimieren und eine vorhandene und nicht nur durch düstere Altersbilder „diskursiv“ erzeugte Erschöpfung durch Selbstzweifel nach Erfahrung persönlichen Ungenügens verstärken [1]. Gefragt sind durchaus nicht resignative, aber angemessene Vorstellungen vom moderat aktiven gebrechlichen Alter [2].

Frailty

Rund 25% der 2007 rerekrutierten (n=578), 2001 weitgehend unbeeinträchtigten Senioren der LUCAS-Kohorte, die selbstständig zu Hause lebten, wurden dennoch nicht als rüstig-mobil, sondern gebrechlich – „FRAIL“ – eingeschätzt (vgl. Teilprojekt 1). Maßgeblich für die Klassifizierung waren Markerfragen des LUCAS-Selbstausfüllerfragebogens, die auf Basis der geläufigen 5, eher defizitorientierten Frailty-Kriterien [3] entwickelt, aber ressourcenorientiert zu einem Set von 12 Indikatoren ergänzt wurden. Die als FRAIL klassifizierten Personen berichteten weitgehend übereinstimmend von allgemeiner Erschöpfung, Kraftlosigkeit, etwa beim Treppensteigen, und Verlangsamung bei verminderten außerhäuslichen Aktivitäten, auch von Stürzen, selten von „unbeabsichtigtem Gewichtsverlust“ [9].

Da sie nicht mehr im Berufsleben stehen und sich noch nicht im Fokus der Pflegeversicherung befinden, ist relativ wenig bekannt über jene Menschen, die unter Gesichtspunkten der sekundären Prävention und Rehabilitation [7] oder aufgrund ihrer Kreativität und offenbar klugen Organisation des häuslichen Alltags angesichts funktionaler Einschränkungen von großer Bedeutung sein könnten. Ihnen widmete sich das Teilprojekt der Hamburgischen Pflegegesellschaft (HPG).

Fragen und Rekrutierung

Auf welchem Weg würde das weitgehend selbstständige Leben dieser Personen weiter zu untersuchen, zu verstehen und selbstverständlich ggf. beratend zu unterstützen sein? Zufällig ausgewählten Senioren mit dem Status FRAIL sollten Hausbesuch-Assessments mit folgenden Leitfragen angeboten werden:

  • Lässt sich der schriftlich von den Senioren über Indikatoren ermittelte Status FRAIL verlässlich bestätigen?

  • Mit welchen präventionsrelevanten Merkmalen treten sie, verglichen mit rüstig-mobilen älteren Menschen (Teilprojekt 3), in eine dysfunktionale Lebensphase ein?

  • Welche Bedeutung hat das der Frailty gewöhnlich zugerechnete, von den Befragten aber selten berichtete Merkmal „unbeabsichtigter Gewichtsverlust“ bei Eintritt und im Verlauf des Syndroms?

  • Welche Fähigkeiten und Umstände fördern bei Gebrechlichkeit, welche gefährden oder begrenzen selbstständiges Altern und signalisieren Handlungsbedarf?

In einem 2-stufigen Verfahren wurde eine Zufallsstichprobe von 120 Personen mit Status FRAIL aus der Gesamtheit der „gebrechlichen“ Personen der LUCAS-Kohorte gezogen, von welchen 109 auffindbar waren (nicht verzogen oder verstorben) und kontaktiert wurden. Aus Desinteresse und überwiegend wegen befürchteter Überforderung lehnten 57 Personen den Hausbesuch ab; 52 stimmten zu; 44 Hausbesuche konnten durchgeführt werden. In einem zweiten Schritt gingen Anfragen an 54 Ersatzpersonen mit Status FRAIL von gleichem Geschlecht und Alter. Dies ergab weitere 21 Hausbesuche, sodass nach einer Absage 64 Hausbesuche (54% der ursprünglichen Stichprobe, 11% der 578 in 2007 als FRAIL eingestuften Personen) durchgeführt wurden.

Hausbesuch-Assessment

Durchgeführt wurde ein multidimensionales Assessment in Anlehnung an das Albertinen-Hausbesuch-Assessment [6] mit 14 Bereichen, die durch Fragen und Performance-Tests die trotz Einschränkungen weitgehend selbstständige Lebensführung umfassend beschreiben (Tab. 3).

Tab. 3 Übersicht LUCAS-Hausbesuch-Assessment 2008/2009

Die für das Vorhaben geschulten Untersucher (Pflegefachkräfte im Studium und Sozialwissenschaftler) hatten das Assessment zuvor im Frühjahr 2008 in Vorprüfungen erprobt. Der Hamburger Datenschutzbeauftragte und die Ethik-Kommission der Ärztekammer Hamburg gaben zum Vorgehen ihr zustimmendes Votum.

Die auf maximal 2 h kalkulierten Besuche dauerten durchschnittlich 1,5 h. Sie begannen mit der Erörterung des Vorhabens, über das die Besuchten schriftlich informiert worden waren und in das sie schriftlich einwilligten. Nach der das Assessement abschließenden Wohnungsbegehung befassten sich Untersucher und Untersuchte gemeinsam mit ad hoc erkennbaren Selbsthilfemöglichkeiten sowie mit Unterstützungs- und ggf. drängendem diagnostischem, präventivem oder rehabilitativem Handlungsbedarf. Sie erörterten ggf. erste, vor Ort überlassene Informations- und Übungsmaterialien und vereinbarten entsprechende weitere Umsetzungsschritte (und Hilfen dabei). Der erste Schritt war die schriftliche Information des Hausarzts über Verlauf und Ergebnisse der Assessments.

Ausblick

Mit den durchgeführten Hausbesuch-Assessments wurde die Basis erarbeitet, um zukünftig in der zweiten Förderphase Praktikabilität und Wirksamkeit einer alternsphasenorientierten Intervention, des „präventiven Hausbesuchs“ [4, 8], im Rahmen eines verschiedene Interventionsstrategien vergleichenden Teilprojekts (vgl. Teilprojekt 7) zum Gegenstand einer randomisierten, kontrollierten Studie zu machen.

Korrespondenzadresse

F. Pröfener

Hamburgische Pflegegesellschaft,

Pflege- und Alternsforschung

Wendenstr. 309

20537 Hamburg

franz.proefener@hpg-ev.de

Literatur

1. Ehrenberg A (2004) Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Campus, Frankfurt/Main

2. Fillit H, Butler RN (2009) The frailty identity crisis. J Am Geriatr Soc 57:348–352

3. Fried LP, Tangen CM, Walston J et al (2001) Frailty in older adults: evidence for a phenotype. J Gerontol A Biol Sci Med Sci 56:146–156

4. Hendriksen C, Vass M (2005) Preventive home visits to elderly people in Denmark. Z Gerontol Geriatr 38(Suppl 1):131–133

5. Lessenich S (2010) Das Alter von heute. Ambivalenzen von Alterspolitik und Alter(n)serfahrung. Mittelweg 36:5–7

6. Renteln-Kruse W von, Anders J, Dapp U, Meier-Baumgartner HP (2003) Präventive Hausbesuche durch eine speziell fortgebildete Pflegefachkraft bei 60-jährigen und älteren Personen in Hamburg. Z Gerontol Geriatr 36:378–391

7. Schneekloth U, Wahl HW (Hrsg) (2008) Selbständigkeit und Hilfebedarf bei älteren Menschen in Privathaushalten. Pflegearrangements, Demenz, Versorgungsangebote, 2. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart

8. Stuck AE, Egger M, Hammer A et al (2002) Home visits to prevent nursing home admission and functional decline in elderly people: systematic review and meta-regression analysis. JAMA 287:1022–1028

9. Xue QL, Bandeen-Roche K, Varadhan R et al (2008) Initial manifestations of frail criteria and development of frailty phenotype in the Women’s Health and Aging Study II. J Gerontol A Biol Sci Med Sci 63:984–990

LUCAS-Teilprojekt 6: Prävention von Stürzen älterer Krankenhauspatienten – Ansätze zur Verbesserung der Patientensicherheit

BMBF-Förderkennzeichen: 01ET0708

L. Neumann, V. Hoffmann, S. Golgert, M. Modreker, W. von Renteln-Kruse

Hintergrund

Stürze älterer Patienten im Krankenhaus sind häufige unerwünschte Ereignisse [11]. Sie können zu Verletzungen, Frakturen sowie zu einer verlängerten stationären Aufenthaltsdauer mit erhöhtem Ressourcenverbrauch führen und gehen mit einer erhöhten Entlassungsrate in stationäre Pflegeeinrichtungen einher. Unter dem Gesichtspunkt Patientensicherheit [12] zählen Stürze neben anderen unerwünschten Ereignissen deshalb zu bedeutsamen Themen der Prävention im Krankenhaus [10]. Vorbeugende Maßnahmen können allerdings nicht problemlos aus anderen Bereichen auf das Krankenhaus übertragen und dort angewendet werden, weshalb die Suche nach der diesbezüglich „besten klinischen Praxis“ im Krankenhaus ein Forschungsfeld ist.

Für bereits vor stationärer Aufnahme gestürzte Menschen ist die Wahrscheinlichkeit, auch im Krankenhaus zu fallen, erhöht; die Zahl sturzbedingter Krankenhausaufnahmen, insbesondere von hochaltrigen Patienten, ist steigend [4, 5]. Zahlreiche Risikofaktoren für Stürze älterer Menschen sind bekannt; eine geringe allgemeine funktionale Kompetenz und speziell eingeschränkte sichere Beweglichkeit gehören dazu. Gebrechlichkeit (Frailty) ist verknüpft mit Stürzen; Krankenhäuser werden mit steigenden Zahlen gebrechlicher älterer Patienten konfrontiert. Daher werden auf diese Patienten eingestellte Versorgungskonzepte benötigt [1].

Die zentralen Fragen des Teilprojekts betreffen die Erkennung von Patienten mit hohem Sturzrisiko und mögliche Einflüsse von Arzneimitteln auf das Sturzrisiko [2, 3]. Eine verbesserte Risikoerkennung und die Anwendung der Kenntnisse über spezielle und besonders häufige Medikationsrisiken sollen die Vermeidung von Stürzen im Krankenhaus weiter verbessern [10].

Studiendesign und Methoden

Durch die retrospektive Analyse einer 4931 Patienten einschließenden Stichprobe konsekutiv stationär aufgenommener Patienten (Alter: ≥65 Jahre; keine sonstigen Ausschlusskriterien) wurden die Einzelitems der STRATIFY-Sturzrisikoeinschätzung [9] sowie weitere Risikofaktoren hinsichtlich eines Zusammenhangs mit Sturzereignissen untersucht. Hauptrisikofaktoren wurden mit einem CART-Modell ermittelt und durch ein logistisches Regressionsmodell überprüft. Eine retrospektive Fall-Kontroll-Studie untersuchte Unterschiede der Arzneimittelexposition zwischen gestürzten und nichtgestürzten Patienten anhand der innerhalb von 24 h vor Indexsturz (erstes Sturzereignis) applizierten Arzneimittel. Diese Medikationsdaten konnten auch bezüglich der Häufigkeit verordneter Arzneistoffe der PRISCUS-Liste potenziell inadäquater Medikationen (PIM, [7]) geprüft werden. Des Weiteren wurden konsekutiv aufgenommene Patienten bezüglich einer orthostatischen Dysregulation untersucht.

Ergebnisse

Die Einzelfaktoren des STRATIFY-Instruments wiesen signifikante Zusammenhänge mit Sturzereignissen auf. Die im CART-Modell ermittelten Hauptrisikofaktoren wurden durch die logistische Regression bestätigt [6]. Die Ergebnisse führten zu einem vereinfachten Verfahren der Risikoeinschätzung.

Die Fall-Kontroll-Studie zeigte, dass zentralnervös wirksame Medikamente insgesamt, Psychopharmaka (Neuroleptika, Antidepressiva, Sedativa bzw. Hypnotika) und ihre Kombination mit blutdrucksenkenden Mitteln (Antihypertensiva, Diuretika, ACE-Hemmer, β-Rezeptorblocker, Nitrate) mit Stürzen assoziiert waren. Mehr gestürzten Patienten waren Kombinationen von mindestens einem Psychopharmakon mit mindestens einem Medikament mit blutdrucksenkender Wirkung verordnet worden. PIM-Verordnungen gemäß PRICUS-Liste (5,9% aller 1617 Verordnungen) wurden bei 38% der untersuchten Patienten ermittelt. Der Unterschied zwischen gestürzten und nichtgestürzten Patienten verfehlte jedoch die Signifikanzgrenze. Erwartungsgemäß war das Vorkommen von Multimedikationen (≥5 Medikamente) ausgesprochen hoch. Die signifikante Beziehung zwischen Multimedikation und erhöhtem Sturzrisiko wurde bestätigt.

Fast bei jedem zweiten Patienten (102/232) verlief ein Orthostasescreening positiv. Die symptomatische orthostatische Hypotension war signifikant mit einer positiven Sturzanamnese assoziiert. Knapp 1 Viertel der Patienten, bei denen Anpassungen der Medikation vorgenommen worden waren, wiesen im weiteren stationären Verlauf objektiv klinische Verbesserungen auf [8].

Schlussfolgerungen

Aufgrund der Ergebnisse wurde das bislang durch die Pflegekräfte im Rahmen der stationären Aufnahme von Patienten verwendete STRATIFY-Sturzrisikoassessment durch ein verkürztes Verfahren ersetzt, dessen Vorhersagewert prospektiv an einer 1-Jahreskohorte untersucht wird.

Das Vorkommen einer orthostatischen Dysregulation bei hospitalisierten älteren Patienten scheint sehr hoch zu sein. Die symptomatische orthostatische Hypotension ist assoziiert mit einer positiven Sturzanamnese.

Sturzereignisse stationärer geriatrischer Patienten sind mit Multimedikationen, der Verordnung zentralnervös wirksamer Medikamente sowie der Kombination von Psychopharmaka und blutdrucksenkenden Medikamenten verknüpft. Die Prävalenz potenziell inadäquater Medikationen, erstmals anhand der PRISCUS-Liste im Krankenhaus evaluiert, betrug in einer begrenzten Stichprobe älterer Patienten 38%. Die prospektive Studie an einer stationären 1-Jahreskohorte wird Aufschluss über die Beziehung von PIM zu stationären Stürzen älterer Patienten und die Grundlage für eine Interventionsstudie liefern.

Korrespondenzadresse

L. Neumann, Dipl.-Ges.-Ök.

Albertinen-Krankenhaus, Albertinen-Haus gGmbH, Zentrum für Geriatrie und Gerontologie,

Wissenschaftliche Einrichtung an der Universität Hamburg

Sellhopsweg 18-22

22459 Hamburg

lilli.neumann@albertinen.de

http://www.albertinen.de

http://www.geriatrie-forschung.de

Literatur

1. Bakker FC, Robben SHM, Olde Rikkert MGM (2011) Effects of hospital-wide interventions to improve care for frail older inpatients: a systematic review. BMJ Qual Saf 20:680–691. DOI 10.1136/bmjqs.2010.047138

2. Boyle N, Naganathan V, Cumming RG (2010) Medication and falls: risk and optimization. Clin Geriatr Med 26:583–605

3. Cameron ID, Murray GR, Gillespie LD, Robertson MC et al (2010) Interventions for preventing falls in older people in nursing care facilities and hospitals. Cochrane Database Syst Rev (1):CD005465. DOI 10.1002/14651858.CD005465.pub2

4. Gesundheitsberichterstattung des Bundes: Diagnosedaten der Krankenhäuser. http://www.gbe-bund.de

5. Hartholt KA, Velde N van der, Looman CWN et al (2010) Trends in fall-related hospital admissions in older persons in the Netherlands. Arch Intern Med 170:905–911

6. Hoffmann V, Modreker MK, Golgert S et al (2009) Risikofaktoren für Stürze im Krankenhaus bei älteren Patienten: Identifikation durch Klassifikationsbaum und logistische Regression. http://www.egms.de/static/en/meetings/gmds2009/09gmds077.shtml

7. Holt S, Schmiedl S, Thürmann PA (2010) Potenziell inadäquate Medikation für ältere Menschen: Die PRISCUS-Liste. Dtsch Arztebl Int 107:543–551

8. Modreker MK, Golgert S, Renteln-Kruse W von (2009) Orthostatic hypotension (OH) in geriatric in-patients – precipitating medication and clinical consequences. Br J Clin Pharmacol 68(Suppl 1):18

9. Oliver D, Britton M, Seed P et al (1997) Development and evaluation of evidence based risk assessment tool (STRATIFY) to predict which elderly inpatients will fall: case-control and cohort studies. BMJ 315:1049–1053

10. Oliver D, Healey F (2010) Preventing falls and fall-related injuries in hospitals. Clin Geriatr Med 26:645–692

11. Thomas EJ, Brennan TA (2000) Incidence and types of preventable adverse events in elderly patients: population based review of medical records. BMJ 320:741–744

12. WHO (2010) Conceptual framework for the International Classification for patient safety. Version 1.1 WHO Final Technical Report. WHO/IER/PSP/2010.2

LUCAS-Teilprojekt 7: Pflegeberatung zur Förderung von Mobilität und Lebensqualität

BMBF-Förderkennzeichen: 01ET0712

S. Strupeit, C. Deneke

Hintergrund und Fragestellung

Mobilität zu erhalten, ist ein zentrales Bedürfnis des Menschen und eine relevante Ressource für den Erhalt von Selbstständigkeit, Autonomie und Lebensqualität im Alter [8]. Ihr Verlust ist ein hoher Risikofaktor für Pflegebedürftigkeit und damit auch für die Einweisung in eine Einrichtung der stationären Langzeitpflege [2]. Die Förderung steht aufgrund des demografischen und gesundheitspolitischen Wandels im Fokus pflegerischen Handelns. Pflegerische Interventionen zur Patientenedukation mit dem Fokus auf Prävention und Gesundheitsförderung älterer Menschen gelten dabei als Herausforderung und zählen maßgeblich zum Aufgabenbereich von Pflegefachkräften.

In den letzten Jahren haben im wohnortnahen Bereich präventive Hausbesuche bei älteren, mobilen Patienten Verbreitung gefunden [7, 10]. Bereits in ihrer Mobilität eingeschränkte alte Menschen mit einem hohen Bedarf an Unterstützung haben jedoch gegenwärtig geringere Chancen, Maßnahmen zur Förderung von Mobilität in Kliniken oder in einer Einrichtung der stationären Langzeitpflege zu erhalten. Zudem liegt der Fokus überwiegend auf der Sturzprophylaxe. Akute Erkrankungen im Alter lösen häufig einen Prozess aus, in dem Mobilität und Selbstständigkeit sukzessive abnehmen und Pflegebedürftigkeit entsteht [1]. Die Forschungslage bezüglich der Effektivität von Sturzprophylaxe ist nicht eindeutig [3, 6]. Zudem können weder die wirksamen Anteile in multidimensionalen Ansätzen isoliert werden [9], noch sind langfristige Effekte nachgewiesen. Es fehlt zurzeit an kompetenz- und ressourcenorientierten Konzepten der Gesundheitsförderung, die auf die Bedürfnisse älterer vulnerabler Zielgruppen zugeschnitten sind. Diese Lücken sollen durch dieses Teilprojekt geschlossen werden. Ebenfalls soll der Fragestellung nachgegangen werden, ob und wie sich Mobilitätsparameter und die Lebensqualität während des Klinikaufenthalts sowie nach der Entlassung aus dem klinischen Setting entwickeln und welche Herausforderungen dadurch für pflegerische Beratungskonzepte erwachsen.

Studiendesign und Methoden

Die Effekte der Intervention „Pflegesprechstunde“ zur Mobilitätsförderung und Verbesserung der Lebensqualität wurden mittels einer prospektiven Längsschnittstudie in einem nichtäquivalenten Kontrollgruppendesign untersucht. Der Mobilitätsbegriff wurde mittels qualitativer Interviews untersucht [2].

Ergebnisse

Als zentrales Ergebnis kann berichtet werden, dass es an Kompetenz und ressourcenorientierten Konzepten fehlt, um Mobilität bei älteren Menschen zu erhalten und zu fördern. In gesundheits- und pflegewissenschaftlichen Studien steht gemeinhin die Bedeutung von Mobilität als funktioneller Status im Mittelpunkt [2].

In einem multidimensionalen Konstrukt können 3 Dimensionen von Mobilität fokussiert werden:

  1. 1.

    Mobilität als Handeln, d. h. die körperliche, geistige und psychische Aktivität,

  2. 2.

    die funktionelle Mobilität als Option und

  3. 3.

    die subjektive Dimension von Mobilität, d. h. Selbstkonzepte, Strategien, Ziele, Bedürfnisse und Motive.

Diese 3 Dimensionen von Mobilität stehen in einem interdependenten Verhältnis zueinander. Innerhalb der Forschergruppe des Teilprojekts 7 wurde der Mobilitätsbegriff erweitert und ein multidimensionales Verständnis skizziert (Abb. 4, [2]). Daraus folgend muss eine multidimensionale Definition von Mobilität aus pflegewissenschaftlicher Sicht formuliert werden, die über die bekannten Definitionen, z. B. NANDA-Pflegediagnosen, hinausgeht.

Abb. 4
figure 4

Multidimensionales Konzept von Mobilität. (Adaptiert nach [2])

Diskussion und Schlussfolgerungen

Das erweiterte Verständnis von Mobilität wurde in die Intervention „Pflegesprechstunde“ integriert. Zudem war es zentraler Bestandteil eines modularisierten Schulungsprogramms für Pflegefachkräfte, welche die Intervention durchführten. Die beteiligten Akteure in der Gesundheitsversorgung sollten anhand der bereits vorliegenden Ergebnisse ihre Auffassungen von Mobilität überdenken und ggf. um die neu aufgeführten Bestandteile erweitern. Die Ergebnisse sollten ebenfalls innerhalb pflegerischer Beratungskonzepte sowie Pflegemodellen Einfluss finden. Denn Emmrich et al. [4] kommen auf der Grundlage eines Praxisprojekts zu dem Schluss, dass Beratende im pflegerischen Alltag in der Regel direktiv beraten und Ratschläge geben, besonders in Bezug auf Situationen, in denen sie selbst Pflegefachprobleme identifizieren [5, 6]. Damit einhergehend adaptieren sie eine klare Rollentrennung und das Machtgefälle zwischen Patient und Arzt oder Pflegekraft („care giver“). Sie gehen das Risiko ein, dass die Inhalte der Fachberatung nicht an alltagsrelevante Wissensbestände anschließen und deshalb von Klienten nicht aufgegriffen werden. Eine wesentliche Kompetenz für die Pflegesprechstunde zur Mobilitätsförderung besteht daher darin, dass Pflegefachkräfte die Methoden und Konzepte der Pflegeberatung, Anleitung und Schulung bewusst, methodisch geleitet und flexibel einsetzen können [2]. Innerhalb der Forschergruppe des Teilprojekts 7 wurde eine ressourcenorientierte Pflegeberatung entwickelt, deren Effekte es zu überprüfen gilt.

Korrespondenzadresse

Vertretungsprof. C. Deneke

Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW)

Fakultät Life Sciences

Department Gesundheitswissenschaften

Alexanderstraße 1

20099 Hamburg

christiane.deneke@haw-hamburg.de

http://www.haw-hamburg.de

Literatur

1. Zegelin A (2005) „Tied down“ – the process of becoming bedridden through gradual local confinement. Pflege 18:281–288

2. Brunnett R, Hasseler M, Strupeit S, Deneke C (2009) Zwischen Fallarbeit und Evidenzbasierung. Ein interdisziplinäres Qualifizierungskonzept für eine ressourcenorientierte Pflegesprechstunde zur Mobilitätsförderung. In: Behrens J (Hrsg) Hallesche Beiträge zu den Gesundheits- und Pflegewissenschaften 8, S 83–102

3. Coussement J, De Paepe L, Schwendimann R et al (2008) Interventions for preventing falls in acute- and chronic-care hospitals: a systematic review and meta-analysis. J Am Geriatr Soc 56:29–36

4. Emmrich D, Hotze E, Moers M (2006) Beratung in der ambulanten Pflege: Problemfelder und Lösungsansätze mit Fortbildungskonzept. Kallmeyer bei Friedrich, Velber, Seelze

5. Sickendiek U, Nestmann F, Engel F, Bamler V (Hrsg) (2006) Beratung in Bildung, Beruf und Beschäftigung. dgvt-Verlag, Tübingen

6. Gillespie L, Handoll H (2008) Prevention of falls and fall-related injuries in older people. Inj Prev 15:354–355

7. Renteln-Kruse W von, Anders J, Dapp U, Meier-Baumgartner HP (2003) Präventive Hausbesuche durch eine speziell fortgebildete Pflegefachkraft bei 60-jährigen und älteren Personen in Hamburg. Z Gerontol Geriatr 36:378–391

8. Mollenkopf H, Flaschenträger P (2002) Erhaltung von Mobilität im Alter, Bd. 197. Schriftenreihe des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Kohlhammer, Stuttgart

9. Oliver D, Masud T (2004) Preventing falls and injuries in care homes. Age Ageing 33:532–535

10. Schulz-Montag B, Müller-Stoffels M (2006) Szenarien – Instrumente für Innovations- und Strategieprozesse. In: Wilms F (Hrsg) Szenariotechnik. Vom Umgang mit der Zukunft. Haupt, Bern