Zusammenfassung
Erklärungen zu Unterschieden in der Sportpartizipation verweisen vielfach auf den Faktor Migrationshintergrund und daraus resultierende Benachteiligungen, ohne die dahinterliegenden Mechanismen genauer zu beleuchten. Die folgende Studie verfolgt das Ziel, eine differenziertere Prüfung vorzunehmen, inwiefern Personen mit und ohne Migrationshintergrund in der Schweiz unterschiedliche sportbezogene Einstellungen und Deutungsmuster aufweisen, welche wiederum für die Partizipation am Sport von Bedeutung sind. Datengrundlage der empirischen Analyse bildet eine Querschnittserhebung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in ausgewählten deutsch- und französischsprachigen Kantonen der Schweiz (n = 4039). Fehlende Werte wurden mittels multivariater Imputation ersetzt. Deskriptive Befunde bestätigen zunächst migrationsspezifische Unterschiede in der Sportpartizipation. Multivariate logistische Regressionsanalysen zwischen Personen mit und Migrationshintergrund zeigen, dass der reine Effekt des Migrationsstatutes etwas gedämpft wird, wenn Variablen zu sportbezogenen Einstellungen und Deutungsmustern einbezogen werden. Betrachtet man die Einflüsse innerhalb der beiden Gruppen, so zeigt sich, dass die meisten signifikanten Prädiktoren in die gleichen Richtungen weisen und damit die theoretischen Mechanismen in den gruppenspezifischen Kontexten ähnlich wirken.
Abstract
In many cases, explanations regarding differences in sports participation refer to factors like migrational background or nationality and the resulting disadvantages without considering the underlying mechanisms. The aim of the following study is to examine the extent to which people with or without Swiss nationality have different attitudes and interpretations which in turn are important for sport participation. The data basis for this empirical analysis is a cross-sectional study of adolescents and young adults in selected German- and French-speaking cantons in Switzerland (n = 4039). Missing values were replaced with multivariate imputations. Descriptive results confirm differences in sport participation of adolescents and young adults regarding the nationality. Multivariate logistic regression analysis between Swiss and non-Swiss people shows that the pure effect of nationality is dampened if variables of sport-related attitudes and interpretations are included in the model. Considering the effect within the two groups, it can be seen that most of the significant predictors point in the same direction and therefore, the theoretical mechanisms work quit similar within both groups.
Notes
Im vorliegenden Beitrag wird der Bezeichnung „Menschen mit Migrationshintergrund“ die Definition des Bundesamtes für Statistik der Schweiz zugrunde gelegt, nach welcher die Bezeichnung sowohl im Zuwanderungsland geborene Personen umfasst, deren Eltern im Ausland geboren wurden, als auch Personen, die selbst zugewandert sind – mit Ausnahme von im Ausland gebürtigen Schweizerinnen und Schweizer, deren Eltern im Inland geboren wurden (Bundesamt für Statistik, 2018).
Nach Esser (1999) sind damit insbesondere sozial verbreitete und geteilte Gewohnheiten, Lebensweisen und Wert- und Wissensbestände gemeint.
Unter sozialer Ungleichheit wird die ungleiche Verteilung sozial relevanter Güter verstanden (vgl. Hradil, 1999).
Auch wenn der Habitus-Begriff eine breite philosophische und soziologische Tradition aufweist und neben Bourdieu auch auf weitere Autoren wie zum Beispiel Aristoteles, Weber und Durkheim zurückgeführt werden kann (z. B. Becker-Lenz & Müller, 2009), wird im vorliegenden Beitrag der Begriff „habituelle Dispositionen“ bevorzugt. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass zwar die hier dargelegten theoretischen Überlegungen auf einige Grundannahmen des Habitus-Konzeptes nach Bourdieu (1992) aufbauen, allerdings ohne die mit diesem Konzept verknüpfte klassenspezifische Verortung des Konzeptes und die statistische Reproduktion sozialer Strukturen zu teilen.
Die Begriffe Einstellungen und Deutungsmuster weisen inhaltliche Überschneidungen zu weiteren handlungsleitenden und situationsübergreifenden Konstrukten (wie z. B. Werten, Normen, Motiven und Zielen) auf, deren trennscharfe Abgrenzung mit Blick auf die soziologische und psychologische Fachliteratur sich als äußerst schwierig darstellt (u. a. Endruweit, Trommsdorff, & Burzan, 2014; Frey, Henninger, Lübke, & Kluge, 2016). Im vorliegenden Beitrag wird die Verwendung der Begriffe Einstellungen und Deutungsmuster bevorzugt, um dadurch sowohl den Bezug zum Objekt Sport (und zu anderen nahen Objektbereichen wie z. B. Gesundheit und Körper) als auch die subjektive Wahrnehmungs- und Bewertungsleistung im Sinne des interpretativen Paradigmas hervorzuheben.
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C. Klostermann, S. Nagel, C. Hayoz und T. Schlesinger geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Die im vorliegenden Manuskript besschriebene Untersuchung am Menschen wurde mit Zustimmung der zuständigen Ethik-Kommission der Philosophisch-humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bern durchgeführt.
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Onlinematerial 1: Übersichtstabelle zu den Ergebnissen der Faktorenanalyse sportbezogene Einstellungen und Deuntungsmuster (Faktorladungen und Reliabilitätsanalysen).
Onlinematerial 2: Übersichtstabellen zur Deskriptiven Statistik und zum Anteil der fehlenden Werten
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Klostermann, C., Nagel, S., Hayoz, C. et al. Zur Bedeutung sportbezogener Einstellungen und Deutungsmuster für die Sportaktivität junger Menschen mit und ohne Migrationshintergrund. Ger J Exerc Sport Res 49, 188–200 (2019). https://doi.org/10.1007/s12662-019-00568-3
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