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Nach mehreren Anläufen wurde nun die lange anvisierte Reform des SGB VIII, des Kinder- und Jugendhilfegesetzes, abgeschlossen. Bereits zu Beginn des Jahres 2017 widmete sich ein Schwerpunkt in Sozial Extra unter der Überschrift „Kinder- und Jugendhilfe: Quo vadis?“ der damals geplanten Reform des SGB VIII und den hiermit verbundenen Diskursen. Zum Ende der damaligen Legislaturperiode kam es jedoch nicht zur Verabschiedung eines entsprechenden Gesetzes. Im Sommer 2021 wurde nun der in dieser Legislaturperiode vorangebrachte Gesetzgebungsprozess mit der Einführung des Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – KJSG) abgeschlossen. Eine Reihe von Gesetzesänderungen, nicht nur im SGB VIII, sondern auch in weiteren Gesetzen, wurde darin verankert und ein längerfristiger Prozess der strukturellen Umsetzung einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe angestoßen.

Viele verschiedene Akteur_innen wurden in der zu Ende gehenden Legislaturperiode in die Beratung der gesetzlichen Veränderungen mit einbezogen. Anders als in der vorangehenden Legislatur wurde – u. a. auch aufgrund starker Kritik am vorherigen Verfahren – ein breiter Beteiligungsprozess unter dem Titel „Mitreden – Mitgestalten“ durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) initiiert. Über ein Online-Konsultationsverfahren wurde die (Fach‑)Öffentlichkeit zu Rückmeldungen zu den großen Themenschwerpunkten der Reform eingeladen. Diese Themenschwerpunkte waren wie folgt bezeichnet:

  • Besserer Kinderschutz und mehr Kooperation

  • Unterbringung junger Menschen außerhalb der eigenen Familie: Kindesinteressen wahren – Eltern unterstützen – Familien stärken

  • Prävention im Sozialraum stärken

  • Mehr Inklusion/Wirksames Hilfesystem/Weniger Schnittstellen

In fünf Sitzungen wurden in der ca. 70köpfigen Arbeitsgruppe „SGB VIII: Mitreden – Mitgestalten“ unter Leitung der Parlamentarischen Staatssekretärin Caren Marks diese fünf Themen mit Expert_innen aus Wissenschaft und Praxis der Kinder- und Jugendhilfe, der Behindertenhilfe, der Gesundheitshilfe sowie von Bund, Ländern und Kommunen diskutiert (vgl. Tab. 1). Grundlage waren dabei jeweils die Rückmeldungen und Kommentierungen aus dem Online-Konsultationsverfahren, (Teil‑)Ergebnisse aus der wissenschaftlichen Begleitung sowie Kurzbeiträge aus Expert_innensicht. Die Dokumente aus dem Konsultationsverfahren finden sich zum Nachlesen auf der Website des Bundesministeriums unter dem Link https://www.mitreden-mitgestalten.de.

Tab. 1 Daten zur Arbeitsgruppe der SGB VIII-Reform (BMFSFJ 2020, S. 22)

Nach kontroversen Debatten um den Referent_innenentwurf vom 05.10.2020 sowie den am 02.12.2020 vorgestellten Gesetzesentwurf in Form zahlreicher Stellungnahmen aus der Fachszene, in parlamentarischen Ausschüssen und Anhörungen, im Bundestag (22.04.2021) und Bundesrat (07.05.2021) wurde schließlich das „Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen“ (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – KJSG) verabschiedet. Das KJSG ist zum 10.06.2021 in Kraft getreten.

Die gesetzlichen Änderungen fokussieren dabei fünf Schwerpunkte, die sich aus den Themenschwerpunkten im Beratungsprozess ableiten:

  1. 1.

    Besserer Kinder- und Jugendschutz

  2. 2.

    Stärkung von Kindern und Jugendlichen, die in Pflegefamilien oder in Einrichtungen der Erziehungshilfe aufwachsen

  3. 3.

    Hilfen aus einer Hand für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderungen

  4. 4.

    Mehr Prävention vor Ort

  5. 5.

    Mehr Beteiligung von jungen Menschen, Eltern und Familien

(vgl. https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/gesetze/neues-kinder-und-jugendstaerkungsgesetz-162860).

Insgesamt kann festgestellt werden, dass diese Gesetzesreform neben der Anbahnung einer inklusiven Strukturierung der Kinder- und Jugendhilfe in einem mehrjährigen Übergangsprozess auch eine Vielzahl von Veränderungen einführt, die die Position der Kinder und Jugendlichen stärken sollen. Dennoch gibt es auch kritische Perspektiven auf das Ergebnis.

Der Schwerpunkt dieser Ausgabe wirft einen Blick auf die im Juni 2021 durch Inkrafttreten des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes abgeschlossene Reform des SGB VIII und dokumentiert unterschiedliche Perspektiven auf diesen langen und intensiven Reformprozess sowie sein Ergebnis. Neben einem Rückblick auf den Prozess werden Potenziale und Weiterentwicklungsimpulse identifiziert sowie Hürden und Kritikpunkte beleuchtet. Darüber hinaus werden mit der anstehenden Veränderung einhergehende Herausforderungen diskutiert und Überlegungen zu deren Bewältigung diskutiert. Der Schwerpunkt thematisiert damit die Weiterentwicklung einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe im Zuge aktueller Ereignisse aus verschiedenen Perspektiven.

Zu den einzelnen Beiträgen:

  • Karin Böllert und Angela Smessaert stellen in ihrem Beitrag Meilenstein erreicht, aber noch lange nicht am Ziel die Perspektive der AGJ auf den Reformprozess und die nun vorhandene gesetzliche Grundlage für wichtige Weiterentwicklungsschritte in der Kinder- und Jugendhilfe dar. Neben einem Überblick über wichtige Regelungsbausteine werden aktuelle und perspektivische Herausforderungen des Reformumsetzungsprozesses skizziert und die diesbezüglichen Anliegen und Optionen aus Sicht der AGJ dargelegt.

  • In seinem Beitrag SGB VIII-Reform und Inklusion. Wie inklusiv ist das neue Kinder- und Jugendstärkungsgesetz? greift Benedikt Hopmann wesentliche „inklusive Schlaglichter“ des neuen Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes auf, diskutiert diese und beschreibt zentrale Herausforderungen. Insbesondere wird die Aufgabe deutlich, trotz vorhandener Limitierungen und Stolpersteine die durch das KJSG eröffneten Gestaltungsspielräume konstruktiv zu nutzen und zur Ausgestaltung des Bundesgesetzes beizutragen, anstatt mit „angezogener Handbremse“ auf 2028 zu warten.

  • Im Beitrag Kann der ASD Kinder- und Jugendstärkungsgesetz? werfen Stefan Pietsch und Verena Klomann Blitzlichter auf die SGB VIII-Reform aus der Perspektive des ASD. Anhand exemplarisch ausgewählter Aspekte arbeiten sie die Bedeutung der in der SGB VIII-Reform grundgelegten Neuerungen für den Allgemeine Sozialen Dienst der Jugendämter heraus und skizzieren Potenziale, aber auch Herausforderungen im Hinblick auf die nun anstehende Umsetzungsphase.

  • Nicole Knuth und Norbert Struck beleuchten die SGB VIII-Reform aus Sicht der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen. Im Rahmen einer Gesamteinschätzung zu den Änderungen des SGB VIII durch das KJSG heben sie vor allem die Beibehaltung des sozialpädagogischen Grundgedankens des Kinder- und Jugendhilfegesetzes sowie den Ausbau der Beratungs‑, Beteiligungs- und Beschwerderechte der Adressat_innen hervor. Sie fokussieren dabei auch die Reduktion von Stolpersteinen im Übergang ins Erwachsenenleben sowie die Kernidee der „Hilfen aus einer Hand“ im Hinblick auf Leistungen einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe.

  • Ruth Seyboldt skizziert in ihrem Beitrag Auf dem richtigen Weg, aber noch lange nicht angekommen zentrale Gedanken zum KJSG aus Careleaver-Perspektive. Sie rückt hierbei insbesondere die im Reformprozess angestrebte Partizipation verschiedener Akteur_innen sowie deutlich gewordener Herausforderungen und Hürden in den Mittelpunkt und arbeitet Impulse für die Ausgestaltung der neuen gesetzlichen Regelungen sowie der Realisierung eines „partizipativen Verhandelns auf Augenhöhe“ heraus.

Die Beiträge beleuchten damit vielfältige Facetten des Reformprozess sowie der nun anstehenden Umsetzung der Gesetzesreform. Die verschiedenen Perspektiven verdeutlichen die Komplexität der Kinder- und Jugendhilfe, des Entwicklungsprozesses zum neuen Gesetz sowie der hieraus resultierenden Herausforderungen. Obgleich zahlreiche Kritikpunkte deutlich werden, zeigt sich auch, dass das sogenannte Kinder- und Jugendstärkungsgesetz vielfältiges Potenzial zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe in sich trägt.