Die COVID-19-Pandemie hat weltweit gravierende Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung. Vorerkrankte Personen, insbesondere Krebspatient*innen, stellen eine besonders vulnerable Gruppe dar. In Deutschland erkranken jährlich ca. 500.000 Menschen an Krebs [1]. Mehrere Hunderttausend Krebspatient*innen befinden sich in Diagnostik und Therapie. Am 27. Januar 2020 wurde der erste Fall einer COVID-19-Infektion in Deutschland diagnostiziert. Danach wurde ein rapider Anstieg der Neuinfektionen beobachtet [2]. Bis zum 22. Januar 2022 wurden weltweit 340.543.962 Fälle und 5.570.163 Todesfälle registriert, davon in Deutschland 8.596.007 Fälle und 116.664 Todesfälle [3]. Der Verlauf der 7‑Tage-Inzidenz war wellenförmig und es wurden sog. Hotspots, d. h. Regionen mit besonders hohen Raten, identifiziert. Dies führte zu einer erheblichen Belastung des Gesundheitssystems. Daraus resultierten Allgemeinverfügungen, die Kapazitäten in Versorgungseinrichtungen für COVID-19-Erkrankte freihalten sollten. Am 22.03.2020 trat der erste Lockdown in Deutschland in Kraft. Die Freihaltung von stationären Bettenkapazitäten und Intensivstationsplätzen wurde angeordnet. Einschränkungen in der Früherkennung und Therapie von Krebserkrankungen waren zu befürchten. Zu Beginn der COVID-19-Pandemie (Mitte März 2020) haben sich das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ), die Deutsche Krebshilfe (DKH) und die Deutsche Krebsgesellschaft (DKG) zu einer gemeinsamen Taskforce zusammengeschlossen. Diese hat es sich zum einen zur Aufgabe gemacht, betroffene Krebspatient*innen zu beraten und mit aktuellen Informationen zu versorgen, zum anderen wollte sie die aktuelle Versorgungssituation der Krebspatient*innen strukturierter erfassen, um möglichst frühzeitig auf Veränderungen oder Defizite reagieren zu können. Es erfolgten Informationen aus Befragungen großer Krebszentren (Comprehensive Cancer Centers, zertifizierte Krebszentren; [4]).

Einschränkungen bei der Diagnostik von Krebserkrankungen

Bereits zu Beginn der Pandemie wurde über gravierende Einschränkungen bei der Abklärung von Krebserkrankungen sowie den Früherkennungs- und Screeninguntersuchungen berichtet. Beispielsweise wurden Mammographien zum Brustkrebsscreening vorübergehend komplett eingestellt [4,5,6]. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass es Patient*innen aus Sorge vor einer Ansteckung vermieden, medizinische Versorgung in Anspruch zu nehmen. Während der COVID-19-Pandemie wurden zudem aufgrund gesetzlicher Verfügungen erhebliche Kapazitäten für COVID-19-Patient*innen freigehalten.

Das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege erließ am 20. März 2020 eine Allgemeinverfügung. Verfügt wurde, die physischen und sozialen Kontakte zu anderen Menschen außerhalb der Angehörigen des eigenen Hausstands auf ein absolut nötiges Minimum zu reduzieren. So wurde auch der Besuch von Krankenhäusern sowie Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen, in denen eine den Krankenhäusern vergleichbare medizinische Versorgung erfolgt, untersagt.

Insgesamt verzögerten sich die Diagnostik und Therapien bei Krebspatient*innen. Ein Aussetzen von Früherkennungs‑, Abklärungs- und Therapiemaßnahmen ist allerdings nur über einen begrenzten Zeitraum tolerierbar. Sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene zeigten sich Verzögerungen bei der Krebsdiagnostik sowie ein erheblicher Rückgang der Zahl der diagnostizierten Krebsfälle.

Therapieempfehlungen für Krebspatient*innen

Die Therapiemodifikationen, die während der COVID-19-Pandemie bei Krebspatient*innen durchgeführt werden, können eine Deeskalation der Behandlungsintensität mit sich bringen, was einerseits zu einer Verschlechterung von Behandlungsergebnissen führen kann, andererseits könnten bestimmte Subgruppen von einer Therapiedeeskalation profitieren. Das „window of opportunity“ der COVID-19-Pandemie kann als „experiment of nature“ zur Klärung dieser Zusammenhänge genutzt werden [7].

Wichtige Entscheidungskriterien für die Initiierung, Fortsetzung, Verschiebung oder Verzögerung sind die Art des Therapieziels (kurativ vs. nichtkurativ), Status der Krebserkrankung (aktiv, lebensbedrohlich, chronisch, gut beherrscht), Rezidivrisiko (hoch vs. niedrig) sowie die Art der Therapie (nichtimmunsuppressiv vs. immunsuppressiv). Bei Patient*innen mit Krebserkrankungen sollte individuell abgewogen werden, ob die Verschiebung, Verzögerung oder Änderung einer Behandlung der Grundkrankheit indiziert ist. Als Hilfestellung wurden bereits diverse nationale und internationale Leitlinien publiziert, in denen Fachgesellschaften Empfehlungen gaben, die neben dem geänderten Versorgungsgeschehen auch Einflüsse auf Therapien haben können [8,9,10,11,12]. Generell wird konstatiert, dass in den meisten Fällen die effektive Behandlung der Krebserkrankung für das Überleben der Patient*innen wichtiger ist als überhöhte Vorsichtsmaßnahmen im Sinne unnötiger Unterbrechungen oder Verschiebungen. Belastbare Daten aus Deutschland liegen dazu bisher nicht vor. Meist handelte es sich bei den Daten aus Deutschland um Umfragen, Erfahrungsberichte und Experteneinschätzungen [4, 13].

Auswirkungen auf die Inzidenz und Therapie von Krebserkrankungen

Internationale Studien

Internationale Untersuchungen und Studien geben zahlreiche Hinweise zu den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Inzidenz sowie Verschiebungen oder Veränderungen bei den Therapien. Dazu gehört beispielsweise die Reduktion der Anzahl von Fraktionen der Strahlentherapie (Hypofraktionierung) oder das Aussetzen bzw. die Reduktion medikamentöser Tumortherapien [4]. Darüber hinaus wurde empfohlen, vermehrt telefonische Konsultationen oder Telemedizin durchzuführen.

Aufgrund der Priorisierung, der Verschiebung oder des Aussetzens der Diagnostik und Therapie wurde in einer britischen Studie eine Verschlechterung des Überlebens von Krebspatient*innen in Ländern mit hohem Einkommen um 5–10 % prognostiziert, was Hunderttausende von zusätzlichen Todesfällen bedeuten würde [14]. Dafür gibt es derzeit allerdings keine belastbaren Belege. Eine kürzlich auf dem Kongress der European Society for Medical Oncology vorgestellte Studie an Krebszentren in 18 Ländern zeigte, dass sich die Diagnose neuer Krebsfälle verzögerte und Patient*innen zu einem späteren Zeitpunkt ihrer Krankheit eine Krebsdiagnose erhielten. Krebsbehandlungen, die am häufigsten abgebrochen oder verzögert wurden, waren Operationen in 44,1 %, Chemotherapien in 25,7 % und Strahlentherapien in 13,7 % der Zentren [15]. Eine Analyse der stationären Versorgung in England zeigte ebenfalls einen deutlichen Rückgang der durchgeführten Chemotherapien während der Pandemie (Median −41,5 %), der sich bis Ende Mai 2020 nur partiell wieder erhöhte (Median −31,2 %; [16]). Therapiemodifikationen, die aufgrund von Gefahrenvermeidung für Patient*innen vorgenommen werden, können sich auf den Verlauf von Tumorerkrankungen und das Überleben auswirken. Manche Erkrankungssituationen und Tumorentitäten erfordern eine unmittelbare Behandlung, um Heilungschancen nicht zu gefährden. Bei anderen ist eine Verzögerung des Therapiebeginns oder eine Therapiemodifikation vertretbar. Eine französische Studie von Albiges et al. [17] zeigte, dass es bei 41 % der onkologischen Patient*innen zu einer mittleren Verzögerung von 20 Tagen und bei 30 % der Patient*innen zu einer Anpassung der Therapiestrategie kam. In einer bevölkerungsbasierten Beobachtungsstudie unter Verwendung der Daten von knapp 25.000 Brustkrebspatient*innen aus dem kalifornischen Krebsregister konnte gezeigt werden, dass es bei einem verzögerten Beginn der adjuvanten Chemotherapie von mehr als 91 Tagen nach der Operation zu einem signifikant verschlechterten brustkrebsspezifischen und Gesamtüberleben bei allen Subtypen, insbesondere dem triple-negativen Mammakarzinom, kommt [18]. Diese Studie wurde zwar vor der COVID-19-Pandemie durchgeführt, belegt aber den prognoseverschlechternden Effekt einer Therapieverzögerung.

Studien aus Deutschland

Analysen von AOK-Versicherten zeigten einen deutlichen Rückgang der stationären Aufnahmen im Bereich Onkologie im März und April 2020 [19]. Daten aus dem Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (ZI) oder auch der o. a. Taskforce lieferten unterschiedliche Erkenntnisse. Eine Untersuchung des Wissenschaftlichen Instituts der Niedergelassenen Hämatologen und Onkologen aus dem 2. Quartal 2020 zeigte, dass in Deutschland keine Reduktion oder Verzögerung der Behandlungen der an Krebs Erkrankten im Lockdown stattgefunden hat [20]. Eine weitere deutsche Studie untersuchte die onkologischen Aufnahmen in 75 Helios-Kliniken und analysierte Daten aus dem Jahr 2020 im Vergleich zu 2019. Bezüglich verschiedener Krebsdiagnosegruppen zeigte sich 2020 ein statistisch signifikanter Rückgang der Krankenhauseinweisungen von 10–20 % im Vergleich zum Vorjahr [21]. Vergleichbare Ergebnisse lieferten Auswertungen des Wissenschaftlichen Instituts der AOK. Aus diesen geht hervor, dass die Anzahl der durchgeführten Krebsfrüherkennungsuntersuchungen für gesetzlich Krankenversicherte v. a. in der 1. Coronapandemiewelle im Frühjahr 2020, aber auch in der 2. Welle von Oktober 2020 bis Februar 2021, deutliche Einbrüche erlitt [22]. Dabei waren die deutlichsten Rückgänge im Pandemiejahr 2020 bei der Früherkennung von Hautkrebs mit −19,8 % gegenüber 2019 zu erkennen. Beim Mammographie-Screening und der Prostatakrebsfrüherkennung zeigten sich ebenfalls deutlich reduzierte Teilnahmequoten gegenüber dem Vorjahr von jeweils 8,1 %. In gleicher Weise gingen die Zahlen der Krebsoperationen zurück. Im gesamten Pandemiezeitraum von März 2020 bis Juli 2021 war ein Rückgang der Darmkrebsoperationen von 13 % und der Brustkrebsoperationen von 4 % gegenüber 2019 zu verzeichnen [22].

In einer Kohortenstudie der BARMER wurden Daten von 9 Mio. Versicherten hinsichtlich Tumoroperationen im Zeitraum April bis Oktober 2020 im Vergleich zu den Vorjahren (2017–2019) analysiert. Insgesamt wurden von April bis Oktober 2020 8 % weniger Tumoroperationen als im Vergleichszeitraum durchgeführt, was statistisch signifikant war [23]. Insgesamt ist die Datenlage der genannten Auswertungen und Studien jedoch noch relativ oberflächlich und uneinheitlich.

Im Oktober 2021 publizierten wir erstmals Auswertungen des bevölkerungsbezogenen Bayerischen Krebsregisters zu den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Zahl der Krebsneuerkrankungen und -behandlungen in Bayern [24]. Dabei handelt es sich um eine der ersten Studien zu der Fragestellung aus den Landeskrebsregistern. Das Bayerische Krebsregister verfügt über eine qualitativ hochwertige und valide Datenbasis. Analysiert wurden Daten bis zum 26. März 2021, wobei alle Krebsneuerkrankungen und -behandlungen von Meldern mit zeitnaher Registrierung berücksichtigt wurden. Dieses Einschlusskriterium erfüllten 29 von 42 zertifizierten onkologischen Zentren bzw. Organkrebszentren, 36 von 210 Krankenhausabteilungen sowie 231 von 621 ambulanten Einrichtungen in 5 der 7 bayerischen Regierungsbezirke. Hauptzielgrößen waren die Anzahl der Krebsneuerkrankungen (ICD-10 C00–C69 ohne C44, C73/C74) nach Tumorstadium (I, II, III, IV, X), der Krebsbehandlungen nach Therapietyp (Operation, Radiatio, systemische Therapie) sowie der Operationen für Krebserkrankungen im Stadium I nach Lokalisation (Brust, Prostata, Darm, Lunge, Haut/Melanom). Die Auswertungen zeigten, dass die Zahl der Neuerkrankungen und Therapien im April/Mai 2020 gegenüber dem Vorjahr deutlich zurückgegangen ist. Zwischen Januar und September reduzierten sich die Krebsneuerkrankungen von 7361 im Jahr 2019 auf 7123 im Jahr 2020, was einem statistisch nichtsignifikanten Rückgang von 3,2 % entspricht [24]. Unterschieden nach Stadium zeigte sich ein statistisch signifikanter Rückgang bei Krebsneuerkrankungen im Stadium I von 10,5 %, aber nicht in den Stadien II–IV bzw. im unbekannten Stadium X [24]. Bei einer zusätzlichen Unterscheidung nach Lokalisation waren die größten Rückgänge für Erkrankungen im Stadium I bei Darm- und Prostatakrebs zu beobachten. Der Vergleich der monatlichen Anzahl von Krebsneuerkrankungen für alle Lokalisationen zeigte deutliche Unterschiede im Jahr 2020 gegenüber 2019. Die Krebsneuerkrankungen sanken um 10,7 % im März, 18,5 % im April und 16,5 % im Mai 2020 verglichen mit 2019 [24]. Dagegen erhöhte sich die Zahl der Krebsneuerkrankungen um 22,7 % im Juni 2020. Die Zahl der Krebsbehandlungen verringerte sich zwischen Januar und September 2020 verglichen mit 2019 statistisch signifikant für alle Therapietypen zusammen (−4,0 %) sowie für Bestrahlungen (−6,1 %). Insgesamt reduzierte sich die Anzahl der Operationen nichtsignifikant (−2,3 %), jedoch gingen die Operationen bei Krebserkrankungen im Stadium I statistisch signifikant zurück. Signifikante Rückgänge zeigten sich für alle Lokalisationen (−8,4 %), Darm (−26,4 %) und Melanome (−28,5 %), aber nicht für Brust, Prostata und Lunge [24].

In eine internationale prospektive Kohortenstudie wurden 20.006 erwachsene Patient*innen (≥ 18 Jahre) aus 466 Krankenhäusern in 61 Ländern mit 15 Krebsarten aufgenommen, die sich während der COVID-19-Pandemie für eine kurative Operation entschieden hatten. In diese Analyse gingen auch Daten aus Deutschland ein. Von den 20.006 Patient*innen, die auf eine Operation warteten, wurden 2003 (10,0 %) nach einer medianen Nachbeobachtungszeit von 23 Wochen (Interquartilsabstand 16–30) nicht operiert, bei allen wurde ein COVID-19-bezogener Grund für die Ablehnung angegeben. Jeder 7. Betroffene, der sich in Regionen mit einem vollständigen Lockdown befand, hat die geplante Operation nicht erhalten [25].

Fazit

Zusammenfassend hatte und hat die COVID-19-Pandemie sowohl national als auch international erhebliche Auswirkungen auf die Diagnostik und Therapie bei Krebspatient*innen. Dies führte zu Therapiemodifikationen und könnte sich negativ auf die Überlebensraten auswirken. Weitere Nachbeobachtungen sind notwendig, um die langfristigen Auswirkungen zu untersuchen und Strategien zur klinischen Versorgung von Krebspatient*innen in Krisensituationen zu entwickeln.