Editorial

Ist Rechtsgeschichte – Legal History im 18. Erscheinungsjahr erwachsen und, man wagt es kaum auszusprechen, brav geworden? Angesichts des diesjährigen Inhaltsverzeichnisses möchte es fast so scheinen. Die Aufsätze im Recherche-Teil behandeln Themen, die die Disziplin hierzulande seit Jahrzehnten bewegen: Meinungsverschiedenheiten zwischen Germanisten und Romanisten; spätantike, fränkische und kanonistische Rechtsliteratur; Rechtsurkunden in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen deutschen Stadtrechten; das österreichische öffentliche Recht des 18.Jahrhunderts; Theorie des Strafrechts. Die Forschungssektionen, Foci, die sich anschließen, befassen sich mit dem Bank- und Wirtschaftsrecht seit der frühen Neuzeit sowie dem Werk eines der prominentesten deutschen Rechtshistoriker des 20. Jahrhunderts, Knut Wolfgang Nörr.

Unsere Leserinnen und Leser müssen allerdings nicht befürchten, hier Altbekanntes vorzufinden. Im Gegenteil: Tamar Herzog zum Beispiel situiert den Streit der Germanisten und Romanisten im Kontext der spanischen Rechtshistoriographie, der außerhalb der iberischen Halbinsel kaum bekannt ist. Christoph Meyer rehabilitiert die Literaturgattung der Epitome, die in der bisherigen Forschung ein Randdasein fristet. Thomas Pierson untersucht mit den »Dienstbriefen« der Frankfurter Stadtbediensteten eine bisher kaum beachtete Quellengattung. Martin Schennach leistet einen Beitrag nicht nur zur österreichischen, sondern zur europäischen Verfassungsgeschichte und führt uns nebenbei ein Beispiel für Rechtspluralismus avant la lettre vor. Klaus Günther schließlich beleuchtet die seit der Aufklärung bestehende eigentümliche Spannung zwischen Strafrecht und Demokratieprinzip und schlägt damit gleichzeitig eine Brücke von der Rechtsgeschichte zur Rechtstheorie – durchaus zukunftsweisend für das Frankfurter Max-Planck-Institut, an dem kurz vor Erscheinen dieser Ausgabe eine neue Abteilung mit dem Schwerpunkt Theorie des Rechts eingerichtet wurde.

Ähnlich innovativ ist der Fokus zu Finanzmärkten und Regulierung, den Carsten Fischer und Andreas Thier verantworten. Die Geschichte dieser Märkte seit der frühen Neuzeit ist ein gutes Beispiel dafür, wie staatliche Hoheitsmacht und mit ihr das Recht immer wieder an Grenzen stoßen. Rechtsgeschichte ist hier gewissermaßen die Geschichte des Scheiterns von Recht. Diese Sektion inspirierte die Redaktion auch zur diesjährigen Bildstrecke, die aus Exponaten der numismatischen Sammlung der Deutschen Bundesbank zusammengestellt wurde, in die Juliane Voß-Wiegand am Ende des Bandes in einer Marginalie einführt.

Der zweite, unter Federführung von Jan Schröder entstandene Fokus widmet sich einem der originellsten und produktivsten Vertreter unserer Zunft: Knut Wolfgang Nörr (1935–2018) prägte wie kaum ein anderer die Erforschung der Geschichte des Kirchen-, Prozess- und Wirtschaftsrechts in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Bei der Lektüre von Schröders Einleitung fühlt sich der Verfasser dieses Editorials unwillkürlich an die englische Verfassungsgeschichte erinnert, die bekanntlich voll ist von Personen, die als the best Prime Minister we never had galten. Nörr war vielleicht der beste Max-Planck-Direktor, den das Frankfurter Institut nie hatte. Beruhigend nur, dass seine Entscheidung, die Nachfolge von Helmut Coing nicht anzutreten, laut Schröder nicht zuletzt an Nörrs Präferenz für »die kurzen Wege« lag, die Frankfurt im Gegensatz zu Tübingen nicht bieten konnte. Das Institut gedenkt seiner auch weiterhin in großer Dankbarkeit, war er ihm doch lange Jahre als Auswärtiges Wissenschaftliches Mitglied verbunden.

Wie üblich enthält auch der Kritik-Teil, mit seiner überwältigenden Fülle von Rezensionen aus allen Epochen und Regionen der Rechtsgeschichte, viel Neues und Interessantes. Hier kommen alle am Institut vorhandenen Forschungsansätze zur Geltung, zu Papier gebracht von der Orientierungsstipendiatin bis hin zum Direktor Emeritus, ergänzt durch Besprechungen von Ehemaligen, Gästen und anderen Freunden des Instituts. In diesem Abschnitt werden übrigens auch letzte Zweifel zerstreut, dass Rg sich nur »braven« Themen widmen könnte. Welche andere rechtshistorische Zeitschrift kann schon von sich behaupten, in ihr wären der Frontmann der »Toten Hosen«, Campino, und seine Verbindung zum Preußischen Oberverwaltungsgericht behandelt worden?

In diesem Jahr erfolgten die Fertigstellung vieler Beiträge und die redaktionelle Bearbeitung fast ausschließlich im Corona-bedingten Home Office. Dafür, dass wir trotz der allseits erschwerten Umstände wieder termingerecht eine vollwertige Ausgabe in Händen halten, danke ich, auch im Namen meines Mitherausgebers Thomas Duve, allen an der Entstehung Beteiligten, den Autorinnen, Autoren und den Mitgliedern unserer Redaktion. Ein besonderer Dank gilt Juliane Voß-Wiegand und Hendrik Mäkeler von der Abteilung Numismatik und Geldgeschichte der Deutschen Bundesbank für ihre Unterstützung bei der Zusammenstellung der Bildstrecke.

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Abstract

This contribution, a speech given at the memorial conference on 12 April 2019, revisits the works of Knut Wolfgang Nörr (1935–2018) pertaining to the historiography of civil procedure. They span half a century during which comparative research has multiplied.

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Knut Wolfgang Nörr in der Historiographie des Prozessrechts

I.

Es geht im Folgenden um Beitrag und Bedeutung Knut Wolfgang Nörrs zum und für die Rechtsgeschichte des Prozessrechts.1 Eine vollständige Biographie des Wissenschaftlers Nörr – die Qualifikationsschritte, die Lehrstühle in den beiden Universitäten, denen er angehörte, die abgelehnten Rufe, Ehrungen und dergleichen –, all dies liegt außerhalb meiner Rede, ebenso wie die persönlichen Erinnerungen an den collega proximus, mit dem ich von 1990 bis 2000 Tür an Tür in der Tübinger Neuen Aula arbeiten durfte.

Die Prozessrechtsgeschichte hat eine interessante Sonderstellung. Seitens der Juristen, die in die Vergangenheit blicken, besteht eine gewisse Gefahr der Vernachlässigung, wogegen der Allgemeinhistoriker im vergangenen, konkreten Prozessgeschehen einen besonders naheliegenden Zugang zum Recht in der Geschichte findet. Die Zurückhaltung der historisch tätigen Juristen hat eine zu Tage liegende Ursache. Es geht um das Verhältnis von materiellem Recht und Prozessrecht. Der heute möglicherweise vorherrschende Ansatz setzt das Prozessrecht und das materielle Recht so ins Verhältnis, dass die wesentlichen Wertungen der Rechtsordnung sämtlich im materiellen Recht zu finden sind, wogegen dem Prozessrecht eine – wie man sagt – dienende Funktion zukommt. Das Prozessrecht hat danach die Aufgabe, dem materiellen Recht in der Prozesswirklichkeit zur Geltung zu verhelfen. Es gibt auch die genau gegenteilige Sichtweise. Danach sind die prozessualen Rechtsbehelfe überhaupt die Quelle von Rechtspositionen, indem die verfügbaren Rechtsbehelfe durch passende materiell-rechtlich verstandene Individualrechte komplementiert werden.

Macht man mit der Vorstellung von der bloß dienenden Funktion des Prozessrechts Ernst, besteht die Gefahr, dass man auch beim Blick in die Geschichte in erster Linie auf das materielle Recht der Vergangenheit schaut. Prozessrecht kommt dann wiederum nur – oder jedenfalls in erster Linie – dergestalt in den Blick, dass man nach seinem Beitrag zur Verwirklichung des historischen materiellen Rechts fragt. So rückt, gerade bei einer dogmengeschichtlichen Ausrichtung, das Prozessrecht leicht in eine Randlage.

Eine wirklich historische Betrachtung muss in Rechnung stellen, dass das Verhältnis von Prozessrecht und materiellem Recht seinerseits einem geschichtlichen Wandel unterliegt. Wenn man von einer sehr pauschalen Aussage nicht zurückschreckt, wird man doch sagen können, dass die kontinentaleuropäische, philosophisch aufgeladene Rechtswissenschaft seit dem Mittelalter die Vorstellung eines abstrakten, unabhängig von konkreten Rechtsschutzmitteln zu denkenden Rechtssystems immer deutlicher ausgeprägt hat. Dies zeigt sich gerade an den hochstehenden Diskussionen darüber, wie genau man sich das Zusammenspiel von materiellem Recht und prozessualem Rechtsschutz vorstellen soll. Es genügt, an die Schrift Windscheids »Die actio des römischen Civilrechts, vom Standpunkte des heutigen Rechts«2 und die Kritik Muthers3 zu erinnern. »Einheit oder Trennung von Prozessrecht und materiellem« Recht heißt die Frage, der man vielleicht schon Ewigkeitswert zuschreiben kann.

Bleibt man weiter bei einer recht pauschalen Betrachtung, so wird man noch sagen können, dass im Verhältnis von materiellem Recht und Prozessrecht dem materiellen Recht eine gewisse Priorität zugebilligt wird, auch wenn das Wort von der bloß dienenden Rolle des Prozessrechts dem differenzierten Wechselspiel beider Materien kaum gerecht wird.

Wie anders stellen sich die Dinge nun aus der Sicht des allgemeinen Historikers dar: Für ihn lädt | gerade das konkrete Prozessgeschehen, mit den Prozess- und Parteiakten, zum Einstieg in das in der Vergangenheit präsente Rechtswesen ein. Als ein Beispiel in unmittelbarer Nähe zu den Nörr’schen Forschungen kann Ludwig Schmugges Werk »Ehen vor Gericht« genannt werden.4 Hier werden die Vorbehalte des Historikers gegenüber der Absicht deutlich, ein ganzes abstraktes Rechtssystem der Vergangenheit – ein komplexes Gedankengebilde wissenssoziologischer (und damit ephemerer) Existenzform – im Wege geschichtlicher Untersuchung zu rekonstruieren. Die Ansichten gehen insoweit erstaunlich weit auseinander. Ich möchte darauf zurückkommen.

II.

Um den Beitrag zu würdigen, den Nörr zur Prozessrechtsgeschichte geleistet hat, sei der Forschungsstand rekapituliert, wie er sich vor seinem Eintritt in das Gebiet entwickelt hatte.5 Das grundlegende Werk gehört noch der historischen Rechtsschule an, nämlich Bethmann-Hollwegs groß angelegter und an Savigny orientierter »Civilprozeß des gemeinen Rechts in geschichtlicher Entwicklung«.6 Im VI. Band erreichte Bethmann-Hollweg den römisch-kanonischen Zivilprozess des 12.–15. Jahrhunderts. Es handelt sich um eine Literargeschichte.

1891 erschien in der Zeitschrift für Zivilprozeß (ZZP) eine erste synthetische Darstellung durch Wilhelm Endemann, »Das Civilprozessverfahren nach der kanonistischen Lehre«.7 Endemann nahm Durantis’ »Speculum judiciale«8 zum Mittel- und Angelpunkt. Endemanns Darstellung markierte einen klaren Fortschritt im Vergleich zu den vorangegangenen, weniger historisch-kritisch ausgerichteten Darstellungen, namentlich gegenüber Nikolaus Münchens Werk »Das kanonische Gerichtsverfahren«.9 Endemann bot eine gedrängte Darstellung, bei der aber doch alle wesentlichen Elemente des Zivilprozessrechts zur Sprache kamen. Nur wenig später erschien von Arthur Engelmann als Teil des zweiten Bandes seiner Geschichte des Prozessrechts »Der romanisch-kanonische Prozess und die Entwicklung des Prozessrechts in Deutschland bis zum Erlass der deutschen Civilprozessordnung«.10 Das Werk Engelmanns stellte gegenüber Endemann keinen Fortschritt dar, erlangte aber eine große Wirksamkeit, nachdem es 1927 als »History of Continental Civil Procedure«11 ins Englische übersetzt worden war und seither im englischsprachigen Bereich lange (noch bis heute?) als Standard-Zugang fungierte.

Obschon im Zuge der Reichsjustizgesetze die Prozessrechtswissenschaft eine ungeahnte Intensivierung erfuhr, finden wir in historischer Hinsicht vor allem Einzelstudien. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts legte Ludwig Wahrmund in fünf Bänden die »Quellen zur Geschichte des römisch-kanonischen Prozesses im Mittelalter« vor.12

III.

Den Eintritt Nörrs in das Gebiet der Prozessrechtsgeschichte markiert seine Habilitationsschrift »Zur Stellung des Richters im gelehrten Prozeß der Frühzeit: Judex secundum allegata non secundum conscientiam judicat« (1967).13 Gleichsam als Prüfstein für das Richterverständnis dient die Behandlung des privaten Wissens des Richters. Nörr nahm damit in rechtsgeschichtlicher Perspektive ein Thema auf, dass für das geltende Recht von dem berühmten Prozessualisten Friedrich Stein 1893 behandelt worden war.14 Für diese Schrift, wie für die spätere Arbeit am gelehrten Prozessrecht überhaupt, war indes eine Grundlage schon früher gelegt worden, nämlich mit der Dissertation über »Kirche und Konzil bei Nicolaus de Tudeschis (Panormitanus)« (1964).15 Diese Arbeit hatte für eine Vertrautheit mit dem kanonischen Recht und insbesondere seinen Quellen gesorgt.

Es würde hier zu weit führen, den Ursachen nachzuspüren, die dafür verantwortlich gemacht werden, dass das europäische Prozessrecht in | Europa wesentlich durch die Regelungen mitgeprägt wurde – und noch immer wird –, die die römische Kirche seit dem Hochmittelalter für die Verfahren vor ihren Gerichten erlassen hat. Da keine Geschichte kontinentaleuropäischen Prozessrechts an dem Einfluss der römischen Kirche vorbeigehen kann, erscheint Nörrs kanonistische Expertise als unabdingbare Voraussetzung für eine vertiefte Beschäftigung mit der Geschichte des Prozessrechts seit dem Mittelalter.

Beide Kompetenzen Nörrs veranlassten Helmut Coing dazu, ihm drei Abschnitte im ersten – und man darf sagen: wichtigsten – Band des »Handbuchs der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte« zu übertragen.16 Nörr übernahm den Literaturbericht zum gemeinen Zivilprozess des Mittelalters, daneben aber auch den Literaturbericht über die kanonistische Literatur sowie den Abschnitt über »Die Entwicklung des Corpus Juris Canonici«; zusammen mit Gero Dolezalek verfasste er schließlich noch den Beitrag über die Rechtsprechungssammlungen der mittelalterlichen Rota.17 Der Band mit Nörrs Beiträgen erschien 1973. Nun konnte es keinem Zweifel mehr unterliegen, dass hier ein neuer Fachmann für das mittelalterliche Recht, den kanonischen Zweig umfassend, auf den Plan getreten war, dessen Interesse speziell dem Prozessrecht galt.

Im Folgenden spreche ich über Nörr als Kanonisten nur insoweit, als es die kanonistische Färbung des Prozessrechts betrifft. Nörr hat in deutlich weiterem Umfang zur Kanonistik beigetragen, als es in meinem Beitrag deutlich werden kann. Nur am Rande sei erwähnt, dass er über Jahrzehnte für die Kanonistische Abteilung der »Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte« als Herausgeber diente.

In den folgenden Jahrzehnten veröffentlichte Nörr weiter Beiträge im Bereich der mittelalterlichen Justiz und Prozessrechtslehre. Immer stärker vernetzte er sich mit führenden Kollegen des europäischen Auslands und Nordamerikas, die zu dem – genuin übernationalen – Forschungsfeld beitrugen. Ein neues Gebiet entfaltete sich: die vergleichende Prozessrechtsgeschichte. Es wäre übertrieben, wenn man Nörr als den Vater dieses Gebiets bezeichnen wollte; aber als einer der von Anfang an maßgeblichen Begründer dieses Forschungszweigs ist er doch besonders wirksam geworden. Nörr führte auch eine Initiative Helmut Coings weiter, die speziell den Rechtsvergleich über den Ärmelkanal hinweg fördern sollte, die »Comparative Studies in Continental and Anglo-American Legal History«.

Von Anfang an hatte Nörr aber auch die jüngeren Epochen der europäischen Rechtsentwicklung in den Blick genommen. 1975 erschien »Reinhardt und die Revision der Allgemeinen Gerichts-Ordnung für die Preußischen Staaten«.18 Es war eines der unter dem Frankfurter Markennamen »Ius Commune« erscheinenden Sonderhefte »Zur Reform des Zivilprozesses im 19. Jahrhundert«. Ein Jahr später folgte ein Band, der in das vorangehende Jahrhundert zurückreichte, »Naturrecht und Zivilprozeß. Studien zur Geschichte des deutschen Zivilprozeßrechts während der Naturrechtsperiode bis zum beginnenden 19. Jahrhundert«.19 Die bedeutendsten Beiträge dieser Jahrzehnte wurden 1993 in einem Sammelband der Bibliotheca eruditorum »Iudicium est actus trium personarum« erneut veröffentlicht.20 Im Jahre 2012 erschien, gleichsam als Summe, in der Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschaften bei Springer – die Reihe war lange von seinem Bruder Dieter editiert worden – das »Romanisch-kanonische Prozessrecht: Erkenntnisverfahren erster Instanz in civilibus«.21 Ich werde von diesem Buch noch eingehender sprechen.

Zunächst muss der Überblick über das Werk noch das 2015 unter Mithilfe von Thomas Finkenauer fertiggestellte Buch »Ein geschichtlicher Abriss des kontinentaleuropäischen Zivilprozesses« würdigen.22 Der Untertitel spricht von »ausgewählten Kapiteln«. Es handelt sich zunächst um eine gedrängte Zusammenfassung des romanisch-kanonischen Prozesses; vorgeschaltet ist noch etwas zum antiken römischen Formularprozess. Sodann werden Kurzdarstellungen wichtiger Prozessrechtskodifikationen des 18. und 19. Jahrhunderts gegeben, Preußen (1781), Frankreich (1806), Genf (1819), die Reichs-CPO von 1877 und das österreichische Gegenstück, ein Werk Franz Kleins. Naturgemäß griff Nörr hier in Vielem auf frühere | Arbeiten zurück. Jeweils versuchte er, die Eigenheiten dieser Prozessordnungen aufs Knappste zusammenzufassen. Diesen Miniaturen geht ein kurzes Kapitel über die Prozessrechtswissenschaft im 19. Jahrhundert voran. Der ganze Text ist von großer Eleganz. Er erinnert an ein Werk, das Nörr mir aus seiner Sicht einmal als Vorbild genannt hat: Ernst Rabels »Römisches Privatrecht«.23 Der Band ist noch in einer anderen Hinsicht wertvoll: Er enthält einen gedrängten Abriss des Rechtsmittelrechts des romanisch-kanonischen Zivilprozesses – ein Thema, das in seinem großen Enzyklopädie-Werk ausgelassen ist.

IV.

Wir haben jetzt in einen Zeitraum von 1967 bis 2015 zurückgeschaut, ein halbes Jahrhundert persönlicher Forschungsgeschichte. Während dieses Zeitraums hat sich das Forschungsgebiet massiv verändert. Mitte der 1960er Jahre betrat Nörr fast überall weithin brachliegende Felder. Während der Dauer seiner Wirksamkeit hat sich die rechtsgeschichtliche Forschung, auch in seinen Gebieten, in einer kaum vorstellbaren Weise intensiviert. Der Eindruck, er sei auf seinen Feldern der Einzige gewesen, verflog schnell. Für Deutschland ist Gerhard Dahlmanns zu nennen, der Anfang der 1970er Jahre in einer großen Zahl Zivilprozesskodifikationen und Entwürfe des 19. Jahrhunderts herausgab. Mit noch beeindruckenderer Produktivität begann dann Werner Schubert seine Editionstätigkeit, die neben den Kodifikationen, Kodifikationsentwürfen und Gesetzgebungsmaterialien des materiellen Rechts auch solche des Prozessrechts erfasste. Nicht nur deswegen verfügen wir über einen erleichterten Zugang zu diesen Quellen; diese sind regelmäßig auch durch sachkundige Einleitungen erschlossen. Für den »Römisch-kanonischen Zivilprozeß nach den älteren ordines iudiciarii« ist das gleichnamige Werk von Wieslaw Litewski zu nennen, das – unterstützt durch Andreas Wacke – 1999 in deutscher Sprache in Krakau erschien.24 Vor allem hat sich aber auch unsere Quellenbasis verbessert, namentlich durch Editionen, die von Peter Landau angeregt und mitbetreut worden sind. Die Arbeiten von Linda Fowler-Magerl zu den Prozessschriften des 12.–15. Jahrhunderts können hier genannt werden.

Wie in anderen Sparten der Rechtsgeschichte auch, sehen wir im letzten halben Jahrhundert eine beeindruckende Intensivierung der Forschung, die wir uns – weshalb auch immer – meist gar nicht recht klarmachen. Im hier betroffenen Gebiet lässt sich die Inflation unserer Forschung – das Wort ist wertneutral gemeint – kaum besser veranschaulichen als durch den Umstand, dass das von 2009 bis 2014 erschienene Sammelwerk zum »Einfluss der Kanonistik auf die europäische Rechtskultur« vier Bände umfasst, von denen drei dem Prozessrecht gewidmet sind.25 Immer weniger stand Nörr alleine, aber in dem auch personell immer stärker besetzten Forschungsfeld blieb er einer der führenden Köpfe. So sehr er Forscher im In- und Ausland förderte und begleitete, hat er doch nur in beschränktem Maße die Werke anderer in seine Arbeit einfließen lassen. Er blieb sich treu.

V.

Schauen wir nun auf die Charakteristik der Nörr’schen Beiträge. Nörr suchte die Einzelheiten seines Stoffes in ihrem Zusammenhang wahrzunehmen. Es war seine Sache nicht, die Entwicklung einzelner Elemente des Zivilprozesses diachron nachzuzeichnen; dabei kann nicht mehr die ganze Vielfalt der jeweils zeitgenössischen Zusammenhänge zum Klingen gebracht werden. So erklärt sich die Neigung zur Darstellung ganzer Prozessrechtskodifikationen – oder Entwürfe zu solchen – in complexu. Nörr erlag auch nicht der Versuchung, die sich ergibt, wenn man das Prozessrecht einseitig vom materiellen Recht her sieht: Dann liegt es nämlich nahe, sich isoliert denjenigen Elementen zuzuwenden, die eine Affinität zum materiellen Recht haben, oder gar – wie man es doch auch findet – materielles Recht im prozessualen Gewand darzustellen. Fragen, wie die nach der Länge der Berufungsfrist, haben ersichtlich einen geringeren Bezug zum materiellen Recht, aber sie gehören integral zum Ablauf des Prozesses, wenn man diesen in seiner Gesamtheit | sieht. Nörr ließ dergleichen nicht aus. Ihm ging es um den Gesamtvorgang.

Ich halte hier keinen Nachruf, und daher müsste von der großen musikalischen Begabung und Leidenschaft Nörrs an sich nicht geredet werden. Das Person-Sein bringt es aber doch mit sich, dass Qualitäten sich nicht auf einen Tätigkeitsbereich beschränken; und es ist unübersehbar, dass die Musikalität Nörrs, oder – abstrakter gefasst – sein hoher Sinn für Ästhetik sich auch seinen wissenschaftlichen Arbeiten eingeprägt hat.

Ich möchte hier auf einen in seinem Gesamtwerk besonders auffallenden Ansatz verweisen: Es geht um das von ihm so genannte Reihenfolgeprinzip. Das Reihenfolgeprinzip darf als ein genuin Nörr’scher Beitrag zum Prozessverständnis gelten. Der Gedanke begegnet zuerst in seinem Aufsatz in der ZZP 1972, unter dem Titel »Reihenfolgeprinzip, Terminsequenz und Schriftlichkeit«.26 Hier ging es Nörr darum, dass die Prozesshandlungen nicht kreuz und quer vorgenommen werden, sondern in einer bestimmten Weise sequenziert sein wollen. Eine operative Bedeutung kommt dem Reihenfolgeprinzip zu, wenn es sich mit dem Präklusionsgedanken verbindet, wonach eine in einer bestimmten Prozessstufe versäumte Prozesshandlung nach Übergang auf die nächste Stufe nicht mehr nachgeholt werden kann. Nörr sieht die Prozessbeteiligten – Richter, Kläger, Beklagter – in einem getakteten Wechselspiel: Alle drei tragen den Prozessablauf weiter – wie die Musiker eines Trios. Man spielt nicht durcheinander, sondern aufeinander abgestimmt. Strapazieren wir diese Metapher noch etwas weiter, so beinhaltet das Reihenfolgeprinzip die Vorstellung, dass jeder Prozessbeteiligte gleichsam seinen eigenen Einsatz hat. Und schließlich möchte der Musikliebhaber das Stück im Ganzen hören; eine Isolation einzelner Takte ist möglich, aber wichtiger ist doch, dass das Stück vom ersten bis zum letzten Takt als Ganzes wahrgenommen wird. So etwa deute ich Nörrs ästhetisch geprägten Zugriff auf den Zivilprozess.

Schaut man auf das Lebenswerk eines Gelehrten zurück, fragt man oft nach Kontinuität oder Brüchen in seiner Entwicklung, seinem fortgesetzten Bildungsgang. Was die Geschichte des Prozessrechts betrifft, so ist bei Nörr alles schon in seinen Anfängen, d.h. in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, angelegt. Der Kreis der Gedanken, der hier abgesteckt wurde, bildete den Rahmen aller nachfolgenden, weiter ausgreifenden oder immer feiner ausgearbeiteten Forschung auf diesem Feld. Würde man Absätze ohne Quellenangabe vorlegen, die er in unterschiedlichem Lebensalter verfasst hat, wäre es wahrscheinlich schwer zu sagen, wann er sie geschrieben hat.

VI.

Und nun möchte ich auf das große Werk zurückkommen, auf das »Romanisch-kanonische Prozessrecht« von 2012.27 Man darf wohl – ohne ageism – von einem Alterswerk sprechen. Ich möchte hier die Frage stellen, welcher historischen Realität dieses Werk gilt. Historische Realität haben gewiss die konkreten Prozesse einer bestimmten Zeit oder eines bestimmten Gerichts. Insofern besteht die vergangene Prozessrechtspraxis in der Summe aller tatsächlich durchgeführten Prozesse und den dabei beachteten Prozessregeln. Es ist eine oft kaum absehbare, immer aber endliche Zahl. Für Gerichte kleinerer Zuständigkeitskreise oder kürzerer Lebensdauer kann man manchmal vielleicht sogar alle Verfahren, die demselben Verfahrensrecht folgten, in den Blick nehmen.

Soweit die tatsächlich stattgefundenen Verfahren sich in erschließbaren Quellen niedergeschlagen haben, kann sich die rechtsgeschichtliche Forschung bemühen, Vorstellungen vom Prozess, wie sie in der Prozessrealität bei den Beteiligten zugrunde gelegen haben, zu rekonstruieren. Kontrastiert man die dabei gewonnenen Befunde mit den zeitgenössischen Rechtsquellen, den Gesetzen und Gerichtsordnungen, könnte man durchaus finden, dass so manche gesetzliche Regelung überhaupt nie praxisrelevant geworden ist. Dies bedeutet natürlich nicht, dass nicht auch Kodifikationen als solche zur historischen Realität gehören. Auch sie sind ja das Ergebnis realen Handelns, eines Handelns von Personen, die an dem beteiligt sind, was wir als Gesetzgebung bezeichnen.

Es ist auch keineswegs so, dass in der Frage der historischen Realität eine kategoriale Grenze verlaufen würde zwischen dem ›praktisch‹ | gewordenen und dem ›nur‹ legislativ verordneten Recht. Prozessrechtsentwürfe, deren Aufarbeitung sich Nörr wiederholt gewidmet hat, sind – selbstverständlich – Bestandteile der historischen Realität, selbst dann, wenn kein Gesetzgeber sie erlassen, kein Gericht sie je angewandt hat: Es handelt sich um real gewordene Produkte eines geistigen Bemühens um die Ordnung des Prozesses, in denen wir – selbstverständlich – einen tauglichen Gegenstand der historischen Forschung finden.

Kommen wir nun zur Doktrin, zur Lehre, zur gelehrten Dogmatik des Prozessrechts, wie sie in der Vergangenheit – an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit – gepflegt wurde. Damit erreichen wir ja einen von Nörr bevorzugt bearbeiteten Quellentyp. Als ein von Nörr behandeltes Werk kann u.a. das »Speculum judiciale« des Durantis28 genannt werden. Wiederum sollte es keine Frage sein, dass es sich um Produkte der Vergangenheit handelt, die Realitätscharakter haben: Wann, unter welchen Umständen, unter dem Eindruck welcher Vorbilder, ein Lehr- oder Kommentarwerk für eine juristische Disziplin entstanden ist, welche Drucker sich dafür fanden, wie viele Auflagen es gab, welche Verbreitung das Werk fand, von wem und wie oft es zitiert wurde: All dies sind Fragen, die ohne weiteres zu einer Beantwortung durch historische Forschung einladen.

Was den Realitätscharakter vergangener Erscheinungen betrifft, gibt es keinen Unterschied von Praxis und Theorie. Rechtsgeschichte ist schließlich Geistesgeschichte. Auch das ›praktische‹ Prozessgeschehen, wenn wir darauf unser Augenmerk richten, ist ja ›geistiger‹ Natur, insofern Prozessbeteiligte Eingaben verfasst, dabei Regeln beachtet oder missachtet haben usw. Stets geht es doch um Gedankeninhalte, mögen diese auch als Prozesshandlungen instrumentell geäußert worden sein, d.h. mit der Absicht, bestimmte Rechtswirkungen auszulösen. Das Austin’sche »How to Do Things with Words«29 hat für den Historiker eine Vergangenheitsform: »How things were then done with words«. Als historische Wissenschaft nimmt die Rechtsgeschichte die intellektuelle Vergangenheit aber nur insofern in den Blick, als diese sich in erhaltenen Quellen niedergeschlagen hat.

Eine andere Frage ist es, in welchem Verhältnis die vergangene Prozessrechtslehre und die zeitgleiche Prozessrechtspraxis gestanden haben. Auch dies ist eine der historischen Betrachtung grundsätzlich zugängliche Frage. Wir sind nicht so naiv zu glauben, dass sich die Praxis immer lehrbuchartig verhält, oder dass der Lehrbuchautor immer weiß, was in der Praxis so geschieht. Es begegnen hier Differenzen größerer und kleinerer Art, je nach den Erfahrungen des konkreten Autors und seinen Einblicken in die Praxis. Verfahrensrechtsdarstellungen durch praxiserfahrene Gelehrte sind ja keine Seltenheit. Denken Sie an die vielen Werke, die von Richtern des Reichskammergerichts verfasst wurden. Die europäische Prozessrechtsliteratur der frühen Neuzeit ist ein Produkt fast ganz überwiegend des gelehrten Richterstandes.

Nun erreichen wir freilich einen kritischen Punkt, wenn wir uns einem Buch wie dem »Romanisch-kanonischen Prozessrecht« nähern. Die Problematik, die ich hier sehe, besteht genauso für vergleichbare Werke, die gleichsam das ›Große Lehrbuch‹ aus der deutschen rechtswissenschaftlichen Tradition für eine vergangene Epoche schreiben. Die Zweifel, die ich jetzt behandeln muss, gelten also auch Werken wie »Das römische Privatrecht« oder, von germanistischer Seite, »Deutsches Privatrecht« usw.30

Inwieweit kann man auch für solche systematischen – oder synthetischen – Darstellungen den Anspruch erheben, dass sie vergangene Realität abbilden? Was ist in der vergangenen Realität das Gegenstück zum »Romanisch-kanonischen Prozessrecht«, wie von Nörr geschildert? Die methodenehrliche Antwort muss dahin gehen, dass derartige Werke nicht eins zu eins ein historisches Gegenstück haben. Schon die Gliederung solcher Werke folgt ja typischerweise keinem einzelnen historischen Vorbild, ist insofern anachronistisch. Es wird im Sinne einer Collage – oder eines Verschnitts – für die eine Aussage Duranti zitiert, für eine andere Innozenz, für eine dritte Bartolus; eine Qualifikation ergibt sich dann aus einer Aussage des Baldus usf. In dieser speziellen Zusammenstellung | haben diese verschiedenen Äußerungen nie gestanden. Sie sind u.U. nicht einmal annähernd zeitgleich ausgesprochen worden.31

Müssen wir daraus die Konsequenz ziehen, dass wir uns bei streng historisch-kritischer Methode von Werken dieser Art verabschieden sollten? War es ein Fehler, gleichsam retrospektiv ›Große Lehrbücher‹ für Rechtsordnungen der Vergangenheit zu schreiben? Lassen Sie mich versuchen, Werke dieses Typs zu rechtfertigen. Zunächst muss jede Einzelaussage, die in diese künstliche Synthese eingeht, für sich genommen historisch validiert sein. Wo es keine Aussagen gibt, darf das retrospektive Lehrbuch nicht im Streben nach Vollständigkeit die Lücke füllen, oder doch allenfalls so, dass eine vernünftige Konjektur als solche ausgewiesen wird.

Lassen Sie mich zum Vergleich ein Vorgehen aus der Physik heranziehen, um zu einem Urteil darüber zu kommen, was von der – an sich anachronistischen – Zusammenstellung in synthetischer Absicht zu halten ist. Es geht um die mathematische Beschreibung von Gasen. Hierzu werden keineswegs die Gasatome oder -moleküle in ihrer Individualität und ihrer spezifischen Bahn und Geschwindigkeit erfasst, sondern im Sinne einer statistischen Mechanik werden mit Druck, Temperatur und Wärme Größen definiert, für die sich sinnvolle Gleichungen aufstellen lassen. Dies ist keineswegs unwissenschaftlich, sondern es ist ein sinnvolles, gedankenökonomisches Vorgehen. Ähnlich, so meine ich, liegt es mit Werken wie Nörrs »Romanisch-kanonischem Prozessrecht«. Es geht hier nicht um die Wiedergabe des Prozessrechts, wie es sich bei einem einzelnen Autor der Vergangenheit ergibt; vielmehr werden Aussagen verschiedener Autoren – aber auch Gerichtsordnungen und Urteile – so montiert, dass sich ein Gesamtbild ergibt, wie es aus der Wiedergabe nur eines Werkes gar nicht entstehen könnte. Nörr ist sich der soeben geschilderten Problematik durchaus bewusst gewesen. Sie wird in den »methodischen Betrachtungen« (7f.) angesprochen. Im Hinblick darauf, dass sein Werk eine Abstraktion unvermeidlich mache, hat er das schöne Wort geprägt, die auf verschiedene literarische Quellen gestützte Rekonstruktion einer einheitlichen gemeinrechtlichen Prozessrechtsdoktrin habe eine »approximative Bedeutung« (4). Solche Montagen sind keine Sündenfälle des Anachronismus. Vielleicht aber sollte man der möglichen Vorstellung naiver Leser entgegenwirken, die meinen, sie hielten eine Anleitung in Händen, die das Prozessverhalten der historischen Prozessparteien des 15. oder 16. Jahrhunderts gesteuert hätte.

Mit solchen großen Lehrbüchern werden, um dies noch zu sagen, die vielfältigen anderen Zugriffe auf das Recht der Vergangenheit nicht zurückgesetzt. Das ›Große Lehrbuch‹ vergangenen Rechts macht die Darstellung einzelner Autoren, die Analyse konkreter Prozesse usw. selbstverständlich nicht überflüssig. Im Gegenteil kann man sagen, dass Werke wie Nörrs »Romanisch-kanonisches Prozessrecht« nur geschrieben werden können, weil und insoweit das Ausgangsmaterial historisch einwandfrei erschlossen ist. Als Ergänzung der primären historischen Quellenforschung hat in der rechtsgeschichtlichen Literaturproduktion auch das synthetisierende Lehrbuch seinen Platz. Es ist zu wünschen, fast unabdingbar, dass der Autor an der Erforschung des Ausgangsmaterials mitbeteiligt ist. All dies ist bei Nörr in glücklicher Weise zusammengekommen.

›Große Lehrbücher‹ für Rechtsordnungen – oder Teilrechtsordnungen – der Vergangenheit, sind nicht bloß statthafte Produkte ernsthafter Forschung, wir benötigen sie heute sogar mehr denn je. Dies ist eine Folge der zunehmenden Arbeitsteilung in der Forschung. Dem Historiker etwa, der beim Aktenstudium von Prozessakten des 15. Jahrhunderts feststellt, dass er sich eine grundlegende Vorstellung vom Ablauf des Prozesses machen möchte, ist nicht gedient, wenn man ihn auf das ganze breite Spektrum von Einzelarbeiten verweist, die für diesen Zeitraum erschienen sind und laufend erscheinen. Zumindest für den Einstieg bedarf er einer Orientierung, und diese Orientierung leisten Werke wie das Nörr’sche »Romanisch-kanonische Prozessrecht«. Das ›Große Lehrbuch‹ ist nötiger denn je. |

Ein letzter, dem Gedenken angemessener Gesichtspunkt ergibt sich mit der Adage ars longa, vita brevis. Im Laufe eines Gelehrtenlebens setzen sich in dessen Kopf Kenntnisse und Einsichten in einer ganz eigentümlichen, individuellen Art zusammen. Ihm werden Zusammenhänge erkennbar, die der Nächste vielleicht nicht – oder nicht sogleich – sieht. Mit dem Tod erlischt diese ganze individuelle Komposition von Erkenntnissen. Wie wesentlich ist es für den wissenschaftlichen Fortschritt, dass so viel wie möglich einen bleibenden Ausdruck gefunden hat.

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Muther, Theodor (1857), Zur Lehre von der römischen Actio, dem heutigen Klagrecht, der Litiscontestation und der Singularsuccession in Obligationen. Eine Kritik des Windscheid’schen Buchs »Die Actio des römischen Civilrechts, vom Standpunkte des heutigen Rechts«, Erlangen
Nörr, Knut Wolfgang (1964), Kirche und Konzil bei Nicolaus de Tudeschis (Panormitanus), Köln, https://doi.org/10.7767/zrgka.1967.53.1.397
Nörr, Knut Wolfgang (1967), Zur Stellung des Richters im gelehrten Prozess der Frühzeit. Iudex secundum allegata non secundum conscientiam iudicat, München, https://doi.org/10.2307/2855360
Nörr, Knut Wolfgang (1972), Reihenfolgeprinzip, Terminsequenz und »Schriftlichkeit«. Bemerkungen zum römisch-kanonischen Zivilprozeß, in: Zeitschrift für Zivilprozeß 85, 160–170
Nörr, Knut Wolfgang (1975), Reinhardt und die Revision der Allgemeinen Gerichts-Ordnung für die Preußischen Staaten. Materialien zur Reform des Zivilprozesses im 19. Jahrhundert (Ius Commune Sonderheft 4), Frankfurt a.M.
Nörr, Knut Wolfgang (1976), Naturrecht und Zivilprozeß. Studien zur Geschichte des deutschen Zivilprozeßrechts während der Naturrechtsperiode bis zum beginnenden 19. Jahrhundert, Tübingen
Nörr, Knut Wolfgang (1993), Iudicium est actus trium personarum. Beiträge zur Geschichte des Zivilprozeßrechts in Europa (Bibliotheca eruditorum), Goldbach
Nörr, Knut Wolfgang (2002), Über einige Stadien der Historiographie des Prozessrechts, in: Faure, Michael et al. (Hg.), Towards a European Ius Commune in Legal Education and Research, Antwerpen, 301–308
Nörr, Knut Wolfgang (2012), Romanisch-kanonisches Prozessrecht. Erkenntnisverfahren erster Instanz in civilibus, Berlin, https://doi.org/10.7767/zrgka-2014-0129
Nörr, Knut Wolfgang (2015), Ein geschichtlicher Abriss des kontinentaleuropäischen Zivilprozesses in ausgewählten Kapiteln, Tübingen, https://doi.org/10.26498/zrgga-2018-1350184
Rabel, Ernst (1955), Grundzüge des römischen Privatrechts, 2. Aufl., Darmstadt
Schmugge, Ludwig (2008), Ehen vor Gericht. Paare der Renaissance vor dem Papst, Berlin, https://doi.org/10.1017/s0022046909990789
Stein, Friedrich (1893), Das private Wissen des Richters. Untersuchungen zum Beweisrecht beider Prozesse, Leipzig
Wahrmund, Ludwig (1905–1931), Quellen zur Geschichte des römisch-kanonischen Prozesses im Mittelalter, Innsbruck, https://doi.org/10.7767/zrgka.1929.18.1.648
Windscheid, Bernhard (1856), Die Actio des römischen Civilrechts, vom Standpunkte des heutigen Rechts, Düsseldorf
1

Der Beitrag gibt mit nur wenigen Änderungen die Rede auf der Tübinger Gedenkveranstaltung am 12. April 2019 wieder. Die Redeform ist beibehalten.

2

Windscheid (1856).

3

Muther (1857).

4

Schmugge (2008).

5

Nörr selbst hat im Jahre 2002 seine Sicht auf die Entwicklung des Fachs, in einer Auseinandersetzung mit den Arbeiten vor allem von Alessandro Giuliani und Nicola Picardi, dargelegt: Nörr (2002).

6

Bethmann-Hollweg (1874).

7

Endemann (1891).

8

Durantis (1271).

9

München (1874).

10

Engelmann (1895).

11

Engelmann/Millar (1927).

12

Wahrmund (1905–1931).

13

Nörr (1967).

14

Stein (1893).

15

Nörr (1964).

16

Coing (Hg.) (1973).

17

Nörr (1972).

18

Nörr (1975).

19

Nörr (1976).

20

Nörr (1993).

21

Nörr (2012).

22

Nörr (2015).

23

Rabel (1955).

24

Litewski (1999).

25

Condorelli et al. (Hg.) (2009–2014).

26

Nörr (1972).

27

Dazu schon Ernst (2014).

28

Durantis (1271).

29

Austin (1975).

30

Zur wissenssoziologischen Bedeutung des Lehrbuchs s. Fleck (1983) 120.

31

In modernen Lehrbüchern verschiedenster Disziplinen verhält es sich kaum anders; sie versammeln Erkenntnisse ganz verschiedener Forscher, die in unterschiedlicher Absicht und zu unterschiedlichen Zeiten erzielt worden sein können, stellen sie auf eine Ebene und vereinigen sie mit bzw. zu einem System der jeweiligen Wissenschaft.

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