Panelbericht: Das Vetorecht der Kundschaft. Konsumboykott als Politik der 1960er-, 1970er- und 190er-Jahren

Autor / Autorin des Berichts
Nicolas
Mennel
Universität Zürich
Zitierweise: Mennel, Nicolas: Panelbericht: Das Vetorecht der Kundschaft. Konsumboykott als Politik der 1960er-, 1970er- und 190er-Jahren, infoclio.ch Tagungsberichte, 28.06.2019. Online: <https://www.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0185>, Stand: 19.04.2024
Verantwortung: Patricia Hertel
Referierende: Patricia Hertel / Sebastian Tripp / Christiane Berth
Kommentar: Alexandra Binnenkade

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Das Wort «Boykott» hat seinen Ursprung in einem Agrarkonflikt. 1880 verweigerten unzufriedene Arbeiter des Grundstückverwalters Charles Cunningham Boycott die Arbeit. Acht Jahre später erschien erstmals das Verb to boycott in einem Wörterbuch und verbreitete sich. Mit dieser Anekdote begrüsste PATRICIA HERTEL (Basel) das Publikum und machte darauf aufmerksam, dass Konsumboykotte stets in Zusammenhang mit Moralkonjunkturen stehen. Sie verglich diese mit einem Seismographen moderner Wohlstandsgesellschaften. In den 1960er Jahren wurden die Konsummöglichkeiten beinahe unlimitiert, doch auch die Menschenrechte wurden vermehrt thematisiert – dies sei die Ausgangslage, auf der Boykotte einsetzten. Hertel hält es für bedingt zielführend, die Aktionen dichotomisch zu beurteilen: Statt nach Erfolg oder Misserfolg zu fragen, bedürfe es einer Sozial- und Kulturgeschichte, die sich damit auseinandersetzt, was zu mobilisieren vermochte und womit politische Gesinnung ausgedrückt werden konnte.

In ihrem Referat zeigte Patricia Hertel anschliessend anhand von Tourismusboykotten, wie Proteste gegen Diktaturen auch mit einer Kapitalismuskritik einhergingen. Spanien, Portugal und Griechenland galten in der Nachkriegszeit im freien Westen als anachronistisch, da es sich um Diktaturen handelte. Ab den 1960er Jahren profitierten diese Länder dennoch stark vom boomenden Tourismus. Hertel vertritt die These einer Politisierung des Tourismus, die sich auf zwei Ebenen abspielte: Personen, die vom Tourismus profitierten, hätten Ferienreisen als politisch neutrale Privatsache bewertet. Damit entpolitisierten sie den Tourismus. Entpolitisiert wurde auch von Politikerinnen, Wirtschaftsexperten oder Reisejournalistinnen. Sich an pittoreske Orte zu begeben wurde von ihnen als Allheilmittel bewertet; im Reisen sah man gar eine Möglichkeit, wirtschaftliches Gefälle zu reduzieren. Aktivistinnen und Aktivisten vertraten mit ihrer Re-Politisierung die Gegenposition: Sie bewerteten die Wahl eines Ferienziels als öffentlichen Ausdruck politischer Gesinnung. Hertel zeigte auf, dass sie ihre Boykottkampagnen besonders dann intensivierten, wenn Ereignisse rund um Menschenrechtsverletzungen aufflammten Nach der Hinrichtung des spanischen Kommunisten Julián Grimau García hätten die Aufrufe zum Boykott der Ferienziele gar ganz Europa erreicht. Die Aktivisten und Aktivistinnen haben zahlreiche Flugblätter und Plakate hinterlassen. Visualisiert wurden dabei in grossem Masse Elemente der touristischen Semantik und Ikonographie. Häufig seien die Symbole von Sonne und Schatten eingesetzt worden, anhand derer auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam gemacht wurde. Ausserdem ermahnten die Akteure die Zivilbevölkerung mit Slogans wie: «Warnung vor dem Paradies!» Das Mobilisierungspotential habe vom Thema der Menschenrechte gelebt, führte Hertel aus, allerdings sei dieses zu keinem Zeitpunkt spürbar genug und die Effektivität der Boykotte sehr beschränkt gewesen. Auf dieser Grundlage konstatierte sie abschliessend, dass die Entpolitisierung erfolgreicher war und dass der Entscheid innerhalb der Moralkonjunktur auf die Seite des privaten Konsums fiel.

SEBASTIAN TRIPP (Frankfurt am Main) referierte über den Früchteboykott deutscher Anti-Apartheid-Bewegungen. Eine zentrale Rolle kam dabei kirchlichen Institutionen zu. Tripp vertritt die These, dass die Bewegung eine integrative Wirkung auf Frauen zahlreicher Gesellschaftsschichten hatte und der Früchteboykott den Geschlechterdiskurs förderte. 1968 begann der Weltbund der Kirchen den Rassismus aktiv zu bekämpfen, wobei auch die Missstände in Südafrika wahrgenommen wurden. Im Zentrum des Programms standen die bildungspolitische Arbeit und damit die Sensibilisierung der Öffentlichkeit. So ergriff der Ökumenische Rat der Kirchen wirtschaftliche Massnahmen und beteiligte sich nicht mehr an in Südafrika ansässigen Unternehmen. Trotz lauter Kritik der institutionellen Kirchen blieb der Rat seinem Standpunkt treu, da er breiten Zuspruch in der Öffentlichkeit fand. Diesen Zuspruch wie auch theologische Impulse aus Südafrika habe die rheinische Kirche auf der ikonographischen Ebene genutzt, führte Tripp weiter aus, Jesus Christus sei beispielsweise häufig als schwarzer Befreier dargestellt worden. Als sich die Evangelische Frauenarbeit Deutschland im Jahr 1971 mit südafrikanischen Frauenorganisationen zusammenschloss, intensivierten sich bildungspolitische Kampagnen. Die grösste aller Kampagnen kämpfte mit dem Slogan: «Kauft keine Früchte der Apartheid». Regelmässig stattfindende Boykottwochen dienten der Mobilisierung, wobei die Zunahme an Selbstverpflichtungen zum Konsumverzicht sehr gross war. Der Verzicht werde erst in Ergänzung mit einem klaren, auch sprachlichen Bekenntnis zu einer politischen Haltung, so die Überzeugung. Der Südafrika-Boykott dauerte 15 Jahre und sprach eine heterogene Klientel an. Neben städtischen und studentischen Milieus mobilisierte die Bewegung auch Frauen auf dem Land. Tripp schloss mit dem Hinweiss, dass der Geschlechterdiskurs zwar gefördert worden sei, die engagierten Frauen sich aber auch gegen Widerstände und üble Beschimpfungen hätten durchsetzen müssen.

«Wir schulden den Menschen in El Salvador Solidarität, denn wir konsumieren Kaffee, den wir uns leisten können, weil sie hungern. Es ist an der Zeit, dass wir etwas dagegen tun!». Mit diesem Zitat aus dem Schwarzbuch Hamburg – Dritte Welt leitete CHRISTIANE BERTH (Bern) ihr Referat ein. In diesem Buch manifestiert sich die Haltung der Solidarität: Der Wohlstand Westeuropas basiere auch auf der Armut und der Ausbeutung anderer Weltregionen. In Hamburg setzten Aktivistinnen und Aktivisten den zitierten Aufruf auf vielfältige Weise in die Tat um: Sie protestierten vor den Kaffeekonzernen, riefen zum Boykott von Kaffee aus den zentralamerikanischen Militärdiktaturen auf und gründeten Organisationen des solidarischen Handels, die bis heute existieren. So setzte auch die Fair Trade Bewegung früh auf die Kaffeebohne, die in Lateinamerika gewonnen und schliesslich in Europa konsumiert wurde. Der Sturz des Somoza-Clans in Nicaragua 1978/79 evozierte auch in Europa Hoffnungen für eine gerechtere Welt, die sich im Konsum länderspezifischer Produkte zeigen sollte. Nachdem die Sandinisten in Nicaragua gesiegt hatten, plante auch die salvadorianische FMLN den Aufstand und drohte mit der Zerstörung der Kaffee-Ernten. Um die Deviseneinahmen nicht zu gefährden, beschloss die Regierung El Salvadors, den Kaffee nach Hamburg auszulagern. Solche Ereignisse riefen deutsche Aktivistinnen und Aktivisten auf den Plan; die frühen 1980er Jahre markierten den Ausgangspunkt des Kaffee-Boykotts. Bundesweit verteilten sie Flugblätter und machten damit auf die Problematik des Kaffeekonsums aufmerksam. Insbesondere Blut übersetzten die Aktivistinnen und Aktivisten häufig in Bildsprache, wodurch die Brutalität visualisiert wurde. Der Zivilbevölkerung wurde etwa gezeigt, wie das Blut ermordeter Campesinos direkt in die europäische Tasse tropft. Abschliessend konstatierte Berth, dass Boykottaktionen keine Schäden in grossem Ausmass anrichten konnten, hingegen die Zivilbevölkerung beim täglichen Einkauf nachhaltig sensibilisierte. Davon zeuge die gegenwärtige Wichtigkeit des fairen Handels.

ALEXANDRA BINNENKADE (Basel) kommentierte die Referate abschliessend: Zwei getrennte politische Räume wie Deutschland und Südafrika suggerierten grundsätzlich Fremde und Ferne, wohingegen die Solidarisierung Nähe evoziere und somit Boykotte ausgeübt werden könnten. Ein zentraler Aspekt, der sich durch das Panel zog, war der Einsatz verbaler und ikonographischer Semantik. Diesbezüglich beobachtete Binnenkade Kontinuitäten: Existentielle Nähe mobilisiere am besten. Damit beog sie sich auf die Vermischung materieller Dinge und visueller Leiber. Das Panel habe gezeigt, dass sich Boykotteure als Aufklärer verstehen: Sie erzeugen Wissen und lassen periphere Diskurse im Zentrum zirkulieren. Die Figuren Konzern und Konsument nehmen dabei eine zentrale Rolle ein. In der Interdisziplinarität liege das Potential der Boykottforschung, so Binnenkade zum Schluss, Erkenntnisse aus dem Marketing etwa könnten wichtige Beiträge leisten.



Panelübersicht:

Hertel, Patricia: „Fahrt nicht nach Griechenland!“ Tourismusboykotte gegen die Diktaturen in Spanien, Portugal und Griechenland, 1960er- bis 1970er-Jahre

Tripp, Sebastian: „Kauft keine Früchte der Apartheid!“ Christlich motivierte Konsumboykotte gegen Südafrika, 1970er- bis 1980er-Jahre

Berth, Christiane: „Kaffee, an dem Blut klebt!“ Konsumboykotte gegen die lateinamerikanischen Diktaturen, 1970er- bis 1980er-Jahre


Dieser Panelbericht ist Teil der infoclio.ch-Dokumentation zu den 5. Schweizerischen Geschichtstagen

Veranstaltung
5. Schweizerische Geschichtstage
Organisiert von
Schweizerische Gesellschaft für Geschichte und Universität Zürich
Veranstaltungsdatum
Ort

Zürich

Sprache
Deutsch
Art des Berichts
Conference