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Geschlecht und Sprache in der Romania: Stand und Perspektiven

2022
978-3-8233-9584-3
Gunter Narr Verlag 
Lidia Becker
Julia Kuhn
Christina Ossenkop
Claudia Polzin-Haumann
Elton Prifti
10.24053/9783823395843

Die hier versammelten Beiträge des XXXV. Romanistischen Kolloquiums widmen sich aktuellen Fragestellungen zum Thema ,Geschlecht und Sprache' unter besonderer Berücksichtigung der Diskussion in unterschiedlichen Gebieten der Romania. Dabei wird auch der gesellschaftspolitischen und interdisziplinären Dimension des Themas Rechnung getragen. Nach einer kritischen Präsentation aktueller Debatten und Forschungsfelder der Genderlinguistik und Queeren Linguistik befassen sich drei Beiträge aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit Leitfäden zur sprachlichen Gleichbehandlung der Geschlechter. In fünf weiteren Artikeln wird die Geschlechterreferenz in der italienischen und französischen Pressesprache sowie in galicischen Urkunden des Spätmittelalters untersucht, bevor abschließend der Zusammenhang zwischen Genderdiskursen und Ideologien in unterschiedlichen Kontexten thematisiert wird.

Lidia Becker, Julia Kuhn, Christina Ossenkop, Claudia Polzin-Haumann, Elton Prifti (Hrsg.) Geschlecht und Sprache in der Romania: Stand und Perspektiven ROMANISTISCHES KOLLOQUIUM XXXV Geschlecht und Sprache in der Romania: Stand und Perspektiven Herausgegeben von Lidia Becker, Julia Kuhn, Christina Ossenkop, Claudia Polzin-Haumann und Elton Prifti Band 35 ROMANISTISCHES KOLLOQUIUM XXXV Lidia Becker, Julia Kuhn, Christina Ossenkop, Claudia Polzin-Haumann, Elton Prifti (Hrsg.) Geschlecht und Sprache in der Romania: Stand und Perspektiven DOI: https: / / www.doi.org/ 10.24053/ 9783823395843 © 2022 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck 2750-0810 ISBN 978-3-8233-8584-4 (Print) ISBN 978-3-8233-9584-3 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0458-6 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 7 17 39 67 107 161 191 Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aktuelle Debatten und Forschungsfelder der Genderlinguistik Susanne Günthner Personenbezeichnungen im Deutschen. Aspekte der aktuellen Debatte um eine gendergerechte Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Martin Stegu Linguistique(s) queer. Allgemeine, angewandte und romanistische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leitfäden zur sprachlichen Gleichbehandlung der Geschlechter Daniel Elmiger Leitfäden für geschlechtergerechte Sprache im Verlauf der Zeit. Tendenzen in den romanischen Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kristina Bedijs Gendersensible Sprache im Kirchenkontext. Zum Stand des Diskurses in der deutschen, französischen und schweizerischen evangelischen Kirche . . . . . Ruth Videsott Sprachliche Gleichbehandlung in einer Minderheitensprache. Die Bildung und der Gebrauch von Berufsbezeichnungen im Dolomitenladinischen aus einer sprachvergleichenden Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschlechterreferenz in der Pressesprache und in Urkunden Antje Lobin Geschlechtergerechtigkeit in der italienischen Tagespresse. Eine korpusbasierte Fallstudie zur Repräsentation von Ursula von der Leyen in La Repubblica und im Corriere della Sera . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 259 293 313 335 367 Friederike Endemann Ursula von der Leyen - ancienne ministre, nouvelle présidente. Zur sprachlichen Darstellung der EU-Kommissionspräsidentin in der französischen Presse 2019 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Julia Burkhardt Nichtsexistische Sprache in Frankeich. Aktuelle Tendenzen beim Gebrauch femininer und maskuliner Personenbezeichnungen - eine quantitative Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Georgia Veldre-Gerner „Doctrice, Docteuse… que m’importe! “. Berufsbezeichnungen und ihre Konnotationen in historischen französischen Pressetexten . . . . . . . . . . . . . . Paula Bouzas Zur Benennung von Frauen in galicischen Urkundensammlungen des Spätmittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Beziehung zwischen Ideologien und Genderdiskursen Judith Visser Ideologie und Gender. Zum Sprechen über und Bezeichnen von Genderkategorien im französischen und spanischen Links- und Rechtspopulismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dinah K. Leschzyk Der Begriff ‚Genderideologie‘ im brasilianischen Anti-Gender-Diskurs . . . 6 Inhalt Einleitung Das XXXV. Romanistische Kolloquium, das im Wintersemester 2020/ 2021 auf‐ grund der Coronapandemie als öffentliche Online-Ringvorlesung von der WWU Münster aus organisiert wurde, griff mit Geschlecht und Sprache in der Romania: Stand und Perspektiven zum zweiten Mal in der Geschichte des Kolloquiums das Thema einer vergangenen Tagung wieder auf. Bereits 1994 waren im Rahmen des X. Romanistischen Kolloquiums relevante Beschreibungsansätze und Fragestellungen diskutiert worden, die sich am Beispiel unterschiedlicher romanischer Sprachen mit der Wechselbeziehung zwischen Genus und Sexus in Sprachsystem und Sprachgebrauch befassten (cf. Dahmen et al. 1997). Seitdem hat sich der sprachwissenschaftliche Blick auf die Kategorie ‚Geschlecht‘ zuneh‐ mend weiterentwickelt. Der Fokus liegt mittlerweile nicht mehr ausschließlich auf der Wechselbeziehung zwischen dem grammatischen und dem biologischen Geschlecht, sondern auch und vor allem auf der Beziehung zwischen Sprache und soziokulturellen Geschlechterrollen sowie Geschlechtsidentitäten (Gender), die als Teil eines umfassenden Konzeptes der soziokulturellen Vielfalt (Diversity) betrachtet werden. Standen in den 1990er Jahren, zumindest mit Bezug auf die Romania, noch die Referenz auf Frauen und die geschlechtsspezifischen Unterschiede im Sprachgebrauch von Männern und Frauen im Mittelpunkt linguistischer Forschung, so rückt aktuell immer stärker die Überwindung einer strikten Zweigeschlechtlichkeit in Sprachgebrauch und Sprachsystem in den Fokus, womit auch gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung getragen wird. Darüber hinaus hat auch die diskursive Ebene immer stärker an Relevanz gewonnen. Mit Geschlecht und Sprache: Stand und Perspektiven wird ein Thema in den Mittelpunkt des Romanistischen Kolloquiums gestellt, das nicht nur in der Linguistik, sondern aufgrund seiner gesellschaftspolitischen Dimension in unterschiedlichen Fachkreisen und auch interdisziplinär diskutiert wird und darüber hinaus eine hohe gesellschaftliche Sichtbarkeit genießt. In Deutschland hat das im November 2017 verkündete Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Einführung eines dritten positiven Geschlechtseintrags im Personenstandsrecht (cf. BVerfG 2017) sicherlich maßgeblich dazu beigetragen, dass zunehmend Formulierungen in der offiziellen und öffentlichen Kommunikation verwendet werden, die die Intention verfolgen, alle Geschlechter einzubeziehen, wofür Bezeichnungen wie geschlechterbzw. gendergerechter, -sensibler, -neutraler oder inklusiver Sprachgebrauch verwendet werden. Was unter der jeweiligen Bezeichnung zu verstehen ist und wie das dahinterstehende Konzept sprachlich umgesetzt werden kann, wird u. a. in den Medien öffentlichkeitswirksam diskutiert. Erinnert sei an die Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit einem Referentenentwurf zum Sanierungs- und Insolvenzrecht vom Oktober 2020, der weitgehend im generischen Femininum verfasst war, oder an die im November 2021 an Ministerien und Bundesgerichte gerichtete Empfehlung der damaligen Bundesjustiz- und Familienministerin, Sonderzeichen wie den Stern oder den Unterstrich in der offiziellen Kommunikation zu vermeiden und stattdessen auf neutrale Formulierungen oder Beidnennungen zu rekurrieren (cf. Zimmermann 2021). Ähnliches lässt sich auch in der Romania beobachten: Genannt seien u. a. der 2021 veröffentlichte Runderlass des französischen Erziehungsministers zum Gebrauch nichtdiskriminierender Formulierungen in Schriftstücken der Verwaltung sowie im Unterricht (cf. MENJS 2021), die Aufnahme des nichtbinären Personalpronomens iel in den Dico en ligne Le Robert (cf. Bimbenet 2021) oder die Stellungnahme der Real Academia Española (2020) zu einer Anfrage der Vizepräsidentin der spanischen Regierung hinsichtlich der Notwendigkeit, den Text der Verfassung durch nichtdiskriminierende For‐ mulierungen zu modifizieren. Die hier versammelten Beiträge des XXXV. Romanistischen Kolloquiums widmen sich aktuellen Fragestellungen und Forschungsansätzen zum Thema ‚Geschlecht und Sprache‘ unter besonderer Berücksichtigung der Diskussion in unterschiedlichen Gebieten der Romania, wobei die Perspektive zu Beginn interdisziplinär erweitert wird. Thematisch gliedert sich der Band in vier Teile: In den ersten beiden Beiträgen werden aktuelle Debatten und Forschungsfelder der Genderlinguistik und Queeren Linguistik aufgezeigt und diskutiert. Es schließen sich drei Beiträge an, die sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit Leitfäden zur sprachlichen Gleichbehandlung der Geschlechter befassen: erstens ausgehend von der Textsorte selbst, zweitens ausgehend von ihrer Funktion innerhalb der Institution Kirche und drittens mit Bezug auf das Dolo‐ mitenladinische. Fünf weitere Beiträge sind der Untersuchung der Geschlech‐ terreferenz in der italienischen und (aktuellen oder historischen) französischen Pressesprache sowie in galicischen Urkunden des Spätmittelalters gewidmet. Den Abschluss des Bandes bilden zwei Beiträge, in denen der Zusammenhang zwischen Genderdiskursen und Ideologien untersucht wird. Susanne Günthner gibt zu Beginn einen Überblick über die Debatte um eine gendergerechte deutsche Sprache und setzt dabei den Schwerpunkt auf aktuelle Tendenzen innerhalb der deutschen Diskussion, die sie sowohl aus linguistischer Perspektive als auch aus dem Blickwinkel der Öffentlichkeit 8 Einleitung beleuchtet. Dabei geht sie u. a. den Fragen nach, ob und inwiefern Androzen‐ trismus und Binarität als im System der deutschen Sprache ‚eingeschrieben‘ angesehen werden können und wie die Beziehung von Sprache, Kognition und Wirklichkeitskonstruktion zu charakterisieren ist. Auch stellt sie die Referenz‐ problematik des ‚generischen Maskulinums‘ dar und diskutiert verschiedene Realisierungsmöglichkeiten gendergerechter und -neutraler Alternativen im Deutschen. Es schließt sich ein Beitrag von Martin Stegu mit Überlegungen zu einer allgemeinen, angewandten und romanistischen Queeren Linguistik an. Dabei geht er von den Fragen aus, ob sich Queere Linguistik auf ein bestimmtes For‐ schungsobjekt richtet oder ob sie als methodischer Ansatz, als eigene Disziplin oder als Subdisziplin innerhalb der Wissenschaft und speziell der Linguistik zu betrachten ist. Zur näheren Bestimmung von Rolle, Status, Funktionen und Auf‐ gabenfeldern der Queeren Linguistik dienen die theoriebezogene Erläuterung des Begriffs queer, die wissenschaftliche Verortung der Queer Studies sowie die Auseinandersetzung mit der Konstruktion von ‚Identität‘ im queeren Kontext. Die Textsorte der Leitfäden für geschlechtergerechte/ inklusive Sprache steht im Mittelpunkt des Beitrags von Daniel Elmiger. Auf der Basis einer selbst angelegten Leitfadensammlung, die zum Zeitpunkt der Abfassung des Beitrags 1.654 Referenzwerke zu über 40 Sprachen umfasste, legt der Verfasser ausführ‐ lich dar, welche Kriterien er der Auswahl und Abgrenzung einzelner Leitfäden für die Aufnahme in die Sammlung zugrunde legt. Anhand einer Analyse der in der Sammlung vertretenen Leitfäden für Spanisch, Französisch, Katalanisch/ Va‐ lencianisch und Italienisch zeigt er einzelsprachlich und sprachvergleichend Tendenzen auf, die widerspiegeln, wie viele Leitfäden von 1980 bis 2021 für die vier genannten Sprachen(paare) veröffentlicht wurden und mithilfe welcher Attribuierungen der in den Leitfäden herangezogene Gegenstand im zeitlichen Verlauf bezeichnet wurde. Kristina Bedijs nimmt in ihrem Artikel eine länder- und sprachenverglei‐ chende Bestandsaufnahme zum Gebrauch gendersensibler Sprache in der evangelischen Kirche vor. Zunächst geht sie auf die Bedeutung von Gleich‐ stellung und deren enge Verbindung zu gendersensibler Sprache innerhalb der Institution Kirche ein. Daran anknüpfend untersucht sie die Bemühungen um Gleichstellung und einen gendersensiblen Sprachgebrauch im spirituellen, juristischen und administrativen Bereich der deutschen, französischen und schweizerischen evangelischen Kirche. Ruth Videsott setzt sich in ihrem Beitrag mit der sprachlichen Gleichbe‐ handlung in der Minderheitensprache Dolomitenladinisch auseinander und fokussiert, mit Vergleich zum Deutschen und Italienischen, die Bildung und 9 Einleitung den Gebrauch von Berufsbezeichnungen in den drei Varietäten Gadertalisch, Grödnerisch und Fassanisch. Nach der detaillierten Betrachtung der Bildung von Berufsbezeichnungen aus morphologischer Perspektive führt sie auf der Grundlage von Zeitungsartikeln der ladinischen Wochenzeitung La Usc di Ladins von 2019 und 2020 sowie journalistischer Texte des Corpus general dl ladin eine exemplarische Korpusanalyse zu drei Bezeichnungen aus den Bereichen Politik, Recht und Handwerk durch. Ziel der Untersuchung ist es, Aussagen zum Gebrauch und zur Akzeptabilität der Bezeichnungen in den drei ladinischen Varietäten abzuleiten. Im ersten von vier Beiträgen, die sich mit geschlechtergerechtem Sprachge‐ brauch in der Presse befassen, nimmt Antje Lobin eine aktuelle Bestandsauf‐ nahme italienischer Personenbezeichnungen vor. Am Beispiel einer Fallstudie zur Darstellung der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Artikeln der Tageszeitungen La Repubblica und Corriere della Sera von 2019 vergleicht sie die aktuellen Formen der Personendarstellung mit den Ergeb‐ nissen einer früheren Studie von Burr (in: Dahmen et al. 1997). Der Fokus der Untersuchung liegt auf ausgewählten Personenbezeichnungen zur Referenz auf Ursula von der Leyen, auf verschiedenen Realisierungsmöglichkeiten bei der Bezeichnung mit Eigennamen sowie auf weiteren Be- und Zuschreibungen zur Repräsentation der EU-Kommissionspräsidentin. Friederike Endemann nimmt ebenfalls die 2019 erfolgte Ernennung Ursula von der Leyens zur EU-Kommissionspräsidentin zum Anlass, die sprachliche Darstellung der Politikerin in den französischen nationalen Tageszeitungen Le Monde und Le Figaro zu analysieren und zu vergleichen. Hierzu zieht sie Empfeh‐ lungen einschlägiger französischer Leitfäden für geschlechtergerechte/ inklu‐ sive Sprache sowie Ergebnisse vorheriger Untersuchungen zur Darstellung von Politikerinnen in der französischen Presse heran. Daran anknüpfend werden Fragen nach dem Gebrauch von Feminina sowie nach dem Vorkommen lexika‐ lischer und/ oder syntaktischer Asymmetrien bei der Referenz auf Ursula von der Leyen untersucht. Auch Julia Burkhardt befasst sich in ihrem Artikel mit nichtsexistischem Sprachgebrauch in der französischen Presse. Dafür greift sie die französische Diskussion um die Bildung und den Gebrauch von Feminina auf und stellt Empfehlungen einschlägiger französischer Leitfäden hierzu dar. Nach einer Synthese verschiedener Untersuchungen zur Geschlechterreferenz in der fran‐ zösischen Presse nimmt sie schließlich eine quantitative Analyse von vier exemplarisch ausgewählten Berufs- und Funktionsbezeichnungen aus Artikeln der auflagenstärksten französischen Tageszeitungen der Jahre 2011, 2016 und 10 Einleitung 2019 vor, um aktuelle Tendenzen beim Gebrauch femininer Berufs- und Funk‐ tionsbezeichnungen aufzuzeigen. Georgia Veldre-Gerner fokussiert in ihrem Beitrag die Bezeichnungen docto‐ resse und médecin und untersucht die Entwicklung ihres Gebrauchs zur Referenz auf Frauen in der französischen Presse zwischen 1870 und 1930 anhand des Pressekorpus RetroNews. Dabei geht sie der Frage nach, inwiefern bestimmte kollokative Tendenzen, Verwendungskontexte und Habitualisierungen von Feminina in den französischen Pressetexten auszumachen sind. Hierzu wird die Wortgeschichte der genannten Formen unter Einbezug der Empfehlungen des französischen Feminisierungsleitfadens von 1999 sowie von Definitionen einschlägiger französischer Wörterbücher nachgezeichnet und mit Beispielen aus der französischen Presse versehen. Exemplarisch wird die Darstellung von Madeleine Brès (1842-1921), der ersten Ärztin Frankreichs, analysiert. Genderspezifische Variation in der spätmittelalterlichen galicischen Anthro‐ ponymik steht im Zentrum des Beitrags von Paula Bouzas. Ausgehend von vorliegenden Untersuchungen zu mittelalterlichen romanischen und speziell galicischen Urkunden, in denen genderspezifische Unterschiede bei der Namen‐ gebung festgestellt wurden, geht die Verfasserin nach einer kurzen Einführung in das spätmittelalterliche galicische Personennamensystem am Beispiel von vier Urkundensammlungen des 15. Jahrhunderts der Frage nach, ob und wenn ja, welche genderspezifische Variation im Hinblick auf die Benennung von Män‐ nern und Frauen in spätmittelalterlichen galicischen Urkunden zu finden ist. Hierzu werden in der Analyse Kettenstrukturtypen sowie Beinamenkategorien näher betrachtet. Die letzten zwei Beiträge des Bandes widmen sich der Untersuchung von Genderdiskursen und damit verbundenen Ideologien. Zunächst analysiert Ju‐ dith Visser, wie im französischen und spanischen Links- und Rechtspopulismus Themen wie Gendergerechtigkeit, Genderbewusstheit und gendergerechte Sprache behandelt werden. Gegenstand der Untersuchung sind die Programme ausgewählter Parteien zur Europawahl 2019: für Frankreich La France insou‐ mise (links) und Rassemblement National (rechts), für Spanien (Unidos/ Unidas) Podemos (links) und VOX (rechts). Auf der Grundlage der Parteiprogramme erforscht Visser u. a., ob die Parteien Gendergerechtigkeit und gendergerechte Sprache thematisieren und mit welchen sprachlichen Mitteln sie ggfs. gender‐ gerechte Sprache anwenden. Für eine Vertiefung der parteispezifischen Analyse werden weitere Texte (Twitternachrichten, Wahlplakate, Homepages der Par‐ teien u. Ä.) hinzugezogen. Der Band schließt mit einem Beitrag von Dinah Leschzyk zur Rhetorik im anti-queeren und anti-feministischen Diskurs Brasiliens unter besonderer 11 Einleitung Berücksichtigung des Begriffs ‚Genderideologie‘. Der Terminus ideologia de gênero ist seit 2011 im brasilianischen Anti-Gender-Diskurs verankert und wird u. a. von dem brasilianischen Präsidenten Jair Messias Bolsonaro und seinen Söhnen Carlos, Eduardo und Flávio politisch instrumentalisiert. Anhand von Blogposts der Familie Bolsonaro und Tweets von Jair Bolsonaro und seinen drei Söhnen aus den Jahren 2015 bis 2021 analysiert Leschzyk die Gebrauchsweisen des Begriffs. Hierzu untersucht sie u. a. Kollokationen, Konnotationen und Implikationen und deckt so (politische) Ziele und Strategien auf, die hinter der Begriffsverwendung stehen. Wir hoffen, mit dem vorliegenden Sammelband aus romanistischer Perspek‐ tive zu einer kritischen Auseinandersetzung mit aktuellen Fragestellungen und Forschungsansätzen zum Thema ‚Geschlecht und Sprache‘ anzuregen. Als Herausgabeteam haben wir uns bewusst dafür entschieden, den einzelnen Beiträgerinnen und Beiträgern keine Vorgaben im Hinblick auf die Verwendung eines nichtdiskriminierenden Sprachgebrauchs zu machen, um die Ausdrucks‐ vielfalt in diesem sensiblen Bereich nicht einzuschränken. Wir bedanken uns bei Friederike Endemann für ihre tatkräftige Unterstüt‐ zung bei der Erstellung der Druckvorlage sowie bei Kathrin Heyng (Narr Francke Attempto Verlag) für die Betreuung der vorliegenden Publikation. Lidia Becker Julia Kuhn Christina Ossenkop Claudia Polzin-Haumann Elton Prifti Bibliographie Bimbenet, Charles (2021): „Pourquoi Le Robert a-t-il intégré le mot ‚iel‘ dans son dictionnaire en ligne? “, in: Le Robert. Dico en ligne. Le mot du jour 16.11.2021, https: / / dictionnaire.lerobert.com/ dis-moi-robert/ raconte-moi-robert/ mot-jour/ pourq uoi-le-robert-a-t-il-integre-le-mot-iel-dans-son-dictionnaire-en-ligne.html (04.05.2022). BVerfG (2017): Beschluss des Ersten Senats vom 10. Oktober 2017 - 1 BvR 2019/ 16 -, Rn. 1-69, http: / / www.bverfg.de/ e/ rs20171010_1bvr201916.html (04.05.2022). Dahmen, Wolfgang et al. (eds.) (1997): Sprache und Geschlecht in der Romania. Romanis‐ tisches Kolloquium X, Tübingen, Narr. MENJS (2021) = Ministère de l’Éducation nationale, de la Jeunesse et des Sports (2021): „Règles de féminisation dans les actes administratifs du ministère de l’Éducation nationale, de la Jeunesse et des Sports et les pratiques d’enseignements. Circulaire du 12 Einleitung 5-5-2021 (NOR: MENB2114203C)“, in: Bulletin officiel de l’Éducation nationale, de la Jeunesse et des Sports n°18 du 6 mai 2021, https: / / www.education.gouv.fr/ bo/ 21/ Hebd o18/ MENB2114203C.htm (04.05.2022). Real Academia Española (2020): „Informe de la Real Academia Española sobre el uso del lenguaje inclusivo en la Constitución española, elaborado a petición de la vicepresidenta del Gobierno“, in: Boletín de Información Lingüística de la Real Academia Española 14, 5-207, http: / / revistas.rae.es/ bilrae/ article/ view/ 397/ 874 (04.05.2022). Zimmermann, Konstantin (2021): „Frauenministerin rät Bundesbehörden von Gender‐ zeichen ab“, in: Zeit Online 06.10.2021, https: / / www.zeit.de/ politik/ deutschland/ 2021-10/ christine-lambrecht-spd-gendern-geschlechtergerechte-sprache-ministerien -bundesbehoerden (04.05.2022). 13 Einleitung Aktuelle Debatten und Forschungsfelder der Genderlinguistik Personenbezeichnungen im Deutschen Aspekte der aktuellen Debatte um eine gendergerechte Sprache Susanne Günthner Résumé Cet article est consacré à quelques-unes des questions et lignes d’argumen‐ tations centrales dans le débat actuel sur un usage de la langue allemande sensible au genre. Cette controverse, qui agite actuellement aussi bien les linguistes que l’opinion publique, n’est pas seulement marquée par une multitude de propositions pour appliquer une langue allemande sensible au genre, mais aussi par des débats violents sur les avantages et les inconvénients de telles propositions. Dans le contexte des débats actuels, cet article abordera, entre autres, les questions suivantes: • Est-il exact que la langue allemande favorise une perspective andro‐ centrique qui amène dans le domaine du genre un déséquilibre du type ,les hommes représentent la norme, les femmes l’écart de la norme‘? • Dans quelle mesure peut-on affirmer que ce que l’on appelle le masculin générique rend les femmes ,invisibles‘ ou qu’il les construit comme ,deuxième sexe‘? • La binarité des genres est-elle inscrite dans la langue allemande? • Est-ce que nous reconstruisons un ,doing gender‘ par notre pratique linguistique? Et quels sont les positionnements sociaux ,inscrits‘ dans cette constitution linguistique du genre? • De quelles possibilités la grammaire allemande dispose-t-elle pour ,dé‐ faire‘ le genre (,undoing gender‘), ce qui impliquerait une désignation neutre de personnes par rapport au genre? • Quelles sont les propositions actuellement discutées en vue d’un langage sensible au genre? Dans quelle mesure ces propositions re‐ 1 Nathalie Bauer, Isabella Buck, Dagmar Hüpper, Helga Kotthoff, Paul Meuleneers und Christina Ossenkop danke ich für ihre Kommentare zu einer früheren Fassung des Beitrags. 2 Cf. u. a. Trömel-Plötz (1978); Trömel-Plötz et al. (1981); Pusch (1984). flètent-elles au niveau métapragmatique des attitudes spécifiques à l’égard du ,doing gender‘? Abstract This article focusses central questions and lines of argumentation in the current debate on gender-sensitive language in German. This debate, which is currently taking place both within linguistics and in the public sphere, is characterized by a multitude of proposals for uses of gendersensitive person references. At the same time, we are facing heated debates for and against such proposals. In the context of the ongoing debates, this article will address the following questions: • Do German concepts of person reference convey an androcentric perspective and thus exhibits a gender bias: ,men = norm, women = deviation‘? • To what extent does the so-called generic masculine make women ,in‐ visible‘ or construct them as deuxième sexe? • Does German grammar hold an inscribed binary genderization? • In what ways do we display ,doing gender‘ by means of language use? And what social positionings are being ,inscribed‘ in this kind of grammatical gender display? • What possibilities does German grammar provide for ,undoing gender‘ and thus for gender-neutral person reference forms? • Which proposals for gender-sensitive language are currently under discussion? To what extent do these proposals - on the metapragmatic level - reflect specific stances on ,doing gender‘? Keywords: ‚doing gender‘, gendergerechte Sprache, Personenbezeich‐ nung(en), generisches Maskulinum, Binarität 1 Einleitung 1 Etwas über 40 Jahre nach den ersten Debatten um eine ,nichtsexistische Sprache‘ - wie die Ende der 1970er Jahre aufkommende Kritik an Personenbezeich‐ nungen in der deutschen Sprache durch die Feministische Linguistik 2 genannt 18 Susanne Günthner 3 Cf. u. a. die „Handlungsempfehlungen“ für Hochschulen von der Bundeskonferenz der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten, die in der Zeitschrift Forschung & Lehre des Hochschulverbands im Oktober 2020 vorgestellt wurden (https: / / www.forschung-und -lehre.de/ heftarchiv/ ausgabe-1020/ ). 4 Der Begriff ‚Gendern‘ verweist auf eine sprachliche Methode, „um Gleichberechtigung, d. h. die gleiche und faire Behandlung von Frauen und Männern im Sprechgebrauch zu erreichen“ (Diewald/ Steinhauer 2017, 5). 5 „DUD*IN“; so betitelt Der Spiegel seine Ausgabe vom 6.3.2021 (Bohr et al. 2021). wurde - zeigen sich aktuell erneut heftige Auseinandersetzungen um sprach‐ liche Realisierungsweisen genderbezogener Personenreferenzen. Im Zuge dieser seit einigen Jahren (unter teilweise neuen Prämissen) ge‐ führten Diskussion macht sich ein bemerkenswerter Wandel im öffentlichen Sprachgebrauch bemerkbar: Zahlreiche Institutionen (Universitäten, Stadtver‐ waltungen, öffentliche und private Medienkonzerne usw.) haben Richtlinien zum ‚gendergerechten‘ bzw. ‚genderinklusiven Sprachgebrauch‘ verfasst, 3 meh‐ rere Städte (u. a. Hannover, Stuttgart, Frankfurt a. M.) wenden in ihren amtssprachlichen Texten das ‚Gendern‘ 4 an und vielfältige Textgattungen weisen Formen der geschlechtsbezogenen Personenreferenz auf, die von der Beidnennung über das Binnen-I (LeserInnen) zum Genderstern (Leser*innen) oder Doppelpunkt (Leser: innen) usw. reichen. Auch Radio- und Nachrichten‐ sprecherInnen sowie Vortragenden bei privaten wie öffentlichen Anlässen hört man vermehrt das Gendern an, zumal sie bei Personenreferenzen nach der maskulinen Stammform einen stimmlosen glottalen Plosiv (den ‚Glottisschlag‘) einbauen, bevor sie die movierte, auf ein Femininum verweisende Endung innen produzieren. Selbst der Duden steht aktuell unter heftiger Kritik, 5 er schaffe das „geschlechtsübergreifende Maskulinum“ ab, da seine neue Online-Version bei männlichen Personenbezeichnungen wie „Leser, der“ die Angabe „Substantiv, maskulin“ und nicht etwa „geschlechtsneutral“ enthält. Diese emotional aufgeladene Debatte um eine gendergerechte Sprache - Der Spiegel vom 6.3.2021 redet gar vom „Kulturkampf um die Sprache“ (Bohr et al. 2021) - führt nicht nur zur Wiederbelebung sprachwissenschaftlicher Auseinandersetzungen um Sexus-Genus-Relationen, um sprachliche Repräsen‐ tation gesellschaftlicher Wirklichkeiten, um Sprachwandelprozesse, um sprach‐ liche Ideologien, um Fragen der Stilistik und Lesbarkeit usw., sondern auch zu öffentlichen Debatten um die sprachliche Ausgrenzung bzw. Inklusion bestimmter Personengruppen sowie mögliche Anzeichen eines kulturellen Wandelprozesses. Dass das Thema einer gendersensiblen Sprache, welche unsere Alltagssprache stark verändern könnte, nicht nur leidenschaftliche An‐ hängerInnen findet, ist nicht überraschend. Mittlerweile haben sich Initiativen gebildet, die u. a. an Behörden, Medien und Politik appellieren, den „Gender- 19 Personenbezeichnungen im Deutschen 6 Cf. u. a. die Pressemitteilung Gendersternchen und Co. mit deutscher Rechtschreibung nicht konform der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) vom 13. August 2020: „[D]er Stern im Wort ist weder mit der deutschen Grammatik noch mit den Regeln der Rechtschreibung konform. Das Nebeneinander des Gendersternchens und anderer Formen führt zu Uneinheitlichkeit und auch in Bezug auf die Sprechbarkeit gibt es gewisse Probleme“ (GfdS 2020). Der Verein Deutsche Sprache (VDS) hat gar einen Aufruf gestartet, in dem er „alle Freunde der deutschen Sprache auf[ruft], den aktuellen Bestrebungen der Dudenredaktion zu einem Umbau der deutschen Sprache entgegen‐ zutreten“ (VDS 2021a). Unfug“ zu stoppen und „die zunehmenden, durch das Bestreben nach mehr Geschlechtergerechtigkeit motivierten zerstörerischen Eingriffe in die deutsche Sprache […]“ zu beenden (VDS 2019). 6 Doch auch unter den VertreterInnen einer gendersensiblen Sprache existieren unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich der Realisierung einer genderge‐ rechten Sprache (Kotthoff 2020): Während einige VertreterInnen einer gender‐ gerechten Sprache den Kopf schütteln angesichts der ständig neuen Vorschläge und Richtlinien zur Personenreferenz, begrüßen andere wiederum das derzei‐ tige Experimentieren mit recht unterschiedlichen Formen. Die aktuellen Debatten für oder gegen eine gendergerechte, nichtdiskrimi‐ nierende bzw. genderneutrale Sprache werfen einige grundlegende Fragen zur sprachlichen Repräsentation von Personen unterschiedlichen Geschlechts auf: • Trifft tatsächlich zu, dass das Deutsche eine „androzentrische Perspektive“ (Günthner 2019, 571) vermittelt, die auf der Asymmetrie ‚Männer = Norm‘, ‚Frauen = Abweichung‘ gründet und Frauen ‚unsichtbar‘ macht bzw. als „deuxième sexe“ (Beauvoir 1968 [1949]) konzeptualisiert? • Ist das ‚Gendern‘ bzw. das ‚doing gender‘ und damit verwoben das Plädoyer des Sichtbar- und Hörbarmachens von Frauen ein überholtes Unterfangen bzw. ein ,Relikt aus alten Zeiten‘? • Ist dem Deutschen eine binäre Genderisierung eingeschrieben? Wenn ja, welche Optionen stellt die deutsche Sprache bzw. Grammatik zur Verfü‐ gung, um genderneutrale Personenbezeichnungen zu ermöglichen? 2 ‚Doing gender‘: Die wirklichkeitskonstituierende Kraft von Sprache und Sprachgebrauch Die Beziehung zwischen Sprache, Denken, Wirklichkeit ist ein Thema, das die Sprachwissenschaften seit langem bewegt. So postulierte bereits Wilhelm von Humboldt (1963 [1830-1835]) eine enge Beziehung zwischen Sprache, Kultur und Kognition. Er vertrat die Auffassung, dass eine Sprache den „Geist des 20 Susanne Günthner Volkes“ verkörpere und mit dem Erwerb einer Sprache zugleich eine eigene „Form der Weltanschauung“ verknüpft sei: Die „innere Form der Sprache“ ob‐ jektiviert (so Humboldt 1963 [1830-1835], 434) eine Weltansicht und übt damit einen entscheidenden Einfluss auf das Denken und Handeln des Individuums aus. Auch der amerikanische Kulturanthropologe Edward Sapir (1929) widmete sich der Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Weltanschauung und wies auf die Macht der Sprache hin, die Wahrnehmung zu beeinflussen. In den letzten 30 Jahren wurden - u. a. am Max-Planck-Institut in Nijmegen - empirische Untersuchungen zur Sprachabhängigkeit menschlicher Kognition durchgeführt und so die Diskussion um die wirklichkeitskonstituierende Kraft von Sprache erneut in Gang gesetzt (Lucy 1992; Levinson 1996; 2003). Zahlreiche Untersuchungen verweisen hierbei auf die Verwobenheit von sprachlichen Mustern bzw. Kategorien, kognitiven Effekten und interaktionalem Handeln in sozialen Kontexten (Gumperz/ Levinson 1996, 10-11; Max-Planck-Gesellschaft 2021). So betont der Anthropologe Duranti (2001, 218): „No in-depth study of intentionality, agency, indexicality, formality, or code choice, for example, can be possible without assessing the relative power that words have on our ability to understand, act in, and ultimately affect our psychological and social worlds.“ Auch von Seiten der Phänomenologie und Wissenssoziologie wird die Frage nach der Beziehung zwischen Sprache, Kommunikation und der sozialen Kon‐ struktion von Wirklichkeit aufgeworfen. Sprache gilt - so Berger/ Luckmann (1969 [1966]) - als das zentrale Mittel zur Konstruktion sozialer Wirklichkeiten: Mittels Sprache kategorisieren wir die Welt, mittels Sprache vermitteln wir unsere Wertvorstellungen, Normen und Relevanzsysteme und mittels Sprache (re)konstruieren wir unsere sozialen Beziehungen. Sprache ist nicht nur das zentrale Mittel der zwischenmenschlichen Kommunikation, sondern auch das wichtigste Medium, um soziale Kategorien und Relevanzen im Wissensvorrat einer Gesellschaft zu tradieren. In unserer Sprache sind Kategorien, Denktra‐ ditionen und Konzeptualisierungen der Welt sedimentiert, die zugleich als ‚objektive Tatbestände‘ tradiert werden: Ich erfahre die Wirklichkeit der Alltagswelt als eine Wirklichkeitsordnung. Ihre Phä‐ nomene sind vor-arrangiert nach Mustern, die unabhängig davon zu sein scheinen, wie ich sie erfahre, und die sich gewissermaßen über meine Erfahrung von ihnen legen. Die Wirklichkeit der Alltagswelt erscheint bereits objektiviert, […] längst bevor ich auf der Bühne erschien. Die Sprache, die im alltäglichen Leben gebraucht wird, versorgt mich unaufhörlich mit den notwendigen Objektivationen und setzt mir die Ordnung, in welcher diese Objektivationen Sinn haben und in der die Alltagswelt mir sinnhaft erscheint. (Berger/ Luckmann 1969 [1966], 24) 21 Personenbezeichnungen im Deutschen 7 Hierzu detaillierter Günthner (1997). Diese Objektivierungsfunktion bzw. die wirklichkeitskonstituierende Kraft von Sprache bildet eine der zentralen Grundlagen für Debatten um Personenre‐ ferenzen und die Repräsentanz von Genderkategorien in unterschiedlichen Sprachen (Günthner 2014; 2019). So begannen in den 1960/ 1970er Jahren die auf der Phänomenologie und dem Sozialkonstruktivismus basierenden Studien der Ethnomethodologie (Garfinkel 1967) und Interaktionssoziologie (Goffman 1977), ‚soziale Tatsachen‘ (wie Geschlechteridentitäten, institutionelle Rollen, Machtstrukturen, kulturelle Zugehörigkeiten usw.) nicht länger als ‚gegeben‘ zu betrachten, sondern danach zu fragen, wie diese ‚sozialen Tatsachen‘ von Gemeinschaftsmitgliedern selbst produziert werden: Wie wird gesellschaftliche Wirklichkeit durch soziale (vor allem kommunikative) Handlungen erzeugt? Wie wird die soziale Einteilung in Gender-Gruppen in unseren Alltagsinterak‐ tionen konstruiert, bestätigt oder gar modifiziert? 7 Diese Frage nach dem Wie der sozialen Konstruktion der Geschlechtszugehö‐ rigkeit verfolgte Goffman (1977) in seiner klassischen Studie zum ‚Arrangement der Geschlechter‘, in der er die tief im Alltag verankerten Praktiken der unsere Gesellschaft so beherrschenden Zweiteilung der Geschlechter erforschte. Zunächst einmal verwundert es - so Goffman (1977) -, dass selbst moderne Gesellschaften, die technisch in der Lage sind, Körperunterschiede, Bildungs‐ unterschiede, Altersunterschiede usw. zu kompensieren, den ohnehin nicht sehr großen biologischen Unterschied zwischen den Geschlechtern nicht etwa minimieren, sondern geradezu rituell überhöhen, so dass das Geschlecht als Prototyp der Einteilung der Gesellschaft gilt. So setzt diese stark ritualisierte Zweiteilung der Geschlechter bereits mit (bzw. vor) der Geburt an und verfolgt uns unser Leben lang: Sie findet sich im Familienleben, im Sport, im Berufsleben, in den Abteilungen von Kaufhäusern, in fast jedem offiziellen Antragsformular, wo wir ankreuzen müssen, ob wir weiblich oder männlich sind. Sie dringt bis zu den öffentlichen Toiletten vor, die zweigeteilt sind, und sie findet sich in unserer Sprache und unserem Gesprächsverhalten. Mit entsprechenden ritualisierten Arrangements, die unser Privatleben wie auch die soziale Organisation unserer Gesellschaft strukturieren, tragen wir nicht nur aktiv zur Konstruktion von Gender bei, sondern bestätigen zugleich die kulturellen Vorstellungen der scheinbar ‚natürlichen‘ Ordnung zwischen den Geschlechtern - im Sinne eines aktiven ‚doing gender‘ (West/ Zimmerman 1987; Kotthoff 2002; Günthner 2006; Franz/ Günthner 2012; Kotthoff/ Nübling 2018). Die soziale Geschlechtszugehörigkeit gilt hierbei nicht länger als eine reine Angelegenheit des Being, sondern - im Sinne der Ethnomethodologie - als 22 Susanne Günthner ein Doing (Günthner 2006). Allerdings geht es hierbei nicht etwa um individuelle Performances, sondern um konventionalisierte Inszenierungsverfahren, die im Sinne Bourdieus habitualisiert und verkörpert sind und als soziale Praxis im Alltag mitlaufen (Kotthoff/ Nübling 2018, 37-39). Auch in unserer heutigen Gesellschaft ist das ‚doing gender‘ und damit die Konstruktion einer binären Geschlechtszugehörigkeit nicht nur „eine Zuschreibung, die wir sowohl für uns selbst als auch für unser Gegenüber situationsübergreifend vornehmen“ (Hirschauer 2001, 215-216), sondern eine sozial relevante Kategorie, die unseren Alltag beherrscht und letztendlich für soziale Unterschiede in der gesellschaftlichen Verteilung von Besitz und Reichtum, in der Lebenserwartung, in Lebensstilen, im Habitus, in der Erfahrung sexualisierter Gewalt usw. mitverantwortlich ist. Im Sinne der Ethnomethodologie, der Interaktionssoziologie und Interakti‐ onalen Linguistik stellt sich nun die Frage, wie durch den jeweiligen Sprach‐ gebrauch ‚Gender‘ aktualisiert wird und welche sozialen Konventionen und Vorstellungen damit einhergehen. 2.1 Das ‚generische Maskulinum‘ als zentraler Kritikpunkt Bereits die Ende der 1970er/ Anfang der 1980er Jahre aufkommende Feministi‐ sche Linguistik setzte an der wirklichkeitskonstituierenden Kraft von Sprache an mit ihrem Ziel, soziale Repräsentationsformen der Geschlechterdifferenzen und das darin eingeschriebene Machtgefälle zwischen Frauen und Männern im alltäglichen Handeln aufzudecken und ‚sexistischen Sprachgebrauch‘ zu vermeiden. Neben der Erforschung der sprachlichen Konstruktion von ‚doing gender‘ durch geschlechtsspezifische Kommunikationsweisen bzw. Sprechstile (Trömel-Plötz 1982; Günthner/ Kotthoff 1991; 1992; Günthner 2006; Günthner/ Hüpper/ Spieß 2012; Kotthoff/ Nübling 2018) stand die in der deutschen Gram‐ matik kodierte Schieflage bei Personenbezeichnungen, die die Ideologie von ‚Mann als Norm‘ und ‚Frau als Abweichung‘ nicht nur widerspiegelt, sondern auch reproduziert, im Fokus (Günthner 2014; 2019). Die Personenbezeichnungen im Deutschen zeigen - so die Argumentation von Trömel-Plötz (1978) und Pusch (1979; 1980; 1984; 1990) - eine fundamen‐ tale Asymmetrie zugunsten der männlichen Bezeichnungen: Die männlichen Varianten (wie Schüler, Lehrer, Bäcker usw.) repräsentieren die Grundformen, die weiblichen (wie Schülerin, Lehrerin, Bäckerin) werden oftmals mittels der sogenannten ,-in-Movierung‘ davon abgeleitet. Umgekehrt existieren nur we‐ nige männliche Formen (der Witwer, der Hexer und der Bräutigam), die von weiblichen (die Witwe, die Hexe und die Braut) abgeleitet sind. 23 Personenbezeichnungen im Deutschen Hinzu kommt, dass im Falle der Referenz auf Personen, bei denen das Geschlecht nicht relevant ist, oder wenn auf Personen beiderlei Geschlechts referiert wird, die maskuline Form als ‚generische Form‘ gilt: Der Rheinländer ist ein geselliger Mensch; Jemand, der eine Eins im Abi hat, hat freie Wahl der Studienfächer oder Professoren verdienen im Schnitt mehr als Lehrer. In Zusammenhang mit dem im Deutschen verbreiteten ‚generischen Masku‐ linum‘ stehen u. a. folgende drei Aspekte des Sprachbzw. Grammatikgebrauchs im Fokus der aktuellen Debatte: 1) Durch die Verwendung der scheinbar generischen Form wird der Mann als ‚Norm‘ objektiviert, während Frauen als ‚sekundär‘ (als deuxième sexe) kodiert werden und sprachlich ‚unsichtbar‘ bleiben. Die asymmetrische Repräsentanz der Geschlechter zeigt sich u. a. daran, dass im Deutschen aus 19 Dozentinnen, die sich im Hörsaal befinden, plötzlich 20 Dozenten werden, sobald ein Dozent den Hörsaal betritt: „Es ist die scheinbar harmlose Grammatikregel, die aus beliebig vielen Frauen Männer macht, sowie ein einziger Mann hinzukommt“ (Pusch 1990, 86). Umgekehrt ist dies jedoch nicht der Fall: Obgleich die männliche Form Witwer die von Witwe abgeleitete Variante ist, werden aus 19 Witwern nicht etwa 20 Witwen, sobald eine Frau dazu kommt. Das für das generische Maskulinum häufig anzutreffende Argument der Ökonomie scheint hier nicht relevant zu sein (Günthner 2019, 574). Ferner erweist sich die scheinbare Geschlechtsneutralität der generischen Formen dann als problematisch, wenn diese eingesetzt werden, um auf Frauen zu referieren. Während ein Satz wie Ein Frisör erkrankt häufiger an Prostatakrebs als ein Bäcker unmarkiert ist, klingen Sätze mit der scheinbar genderneutralen Form markiert: Ein Frisör erkrankt seltener an Eierstockkrebs als ein Bäcker oder Welcher Schüler ist im dritten Monat schwanger? . Hinzu kommt, dass scheinbar genderneutrale Fragebzw. Indefinitpronomen wie wer? , man, jeder, jedermann nach den Kongruenzregeln der deutschen Standardgrammatik selbst dann maskuline Pronomina erfordern, wenn dezidiert auf Frauen Bezug genommen wird: Man erlebt seine Schwangerschaft jedes Mal anders; Hallo Frauen, wer von euch kann mir seinen Lippenstift leihen? ; Jeder, der seinen Mutterschutz verlängern möchte, soll dies nun offiziell mitteilen. 24 Susanne Günthner 8 So war in Ausgabe 11/ 14 der Zeitschrift Forschung & Lehre (2014/ 11, 873) folgender Satz zum Thema des ,Projekt-Professors‘ zu lesen: „Die Daueraktivität des projektorientier‐ ten Professors erfordert dagegen Gewandtheit im Auftreten, gute Laune, Flexibilität und weitestgehende Verfügbarkeit.“ Bis hier könnte eine Leserin davon ausgehen, dass das Maskulinum Professor auch Professorinnen einschließt. Doch der darauffolgende Satz verdeutlicht, dass dies keineswegs der Fall ist: „Wer sich als Familienvater […] zu sehr gebunden hat, gilt schnell als inflexibel und damit unbrauchbar.“ Hierzu Kotthoff/ Nübling (2018, 97). 2) Aufgrund der Ambiguität des Maskulinums als semantisch ‚männlich‘ und zugleich als Oberbegriff für semantisch ‚männlich und weiblich‘ bleibt für Frauen oftmals unklar, ob sie im Fall einer maskulinen Referenzform ‚mitgemeint‘ sind. Ein weiteres Problem in Zusammenhang mit dem ‚generischen Maskulinum‘ ist, dass bei Äußerungen wie Professoren in Deutschland Frauen zunächst nicht wissen, ob sie mitgemeint sind oder nicht. Wird der Satz fortgesetzt mit bekommen jetzt höhenverstellbare Schreibtische, können Professorinnen davon ausgehen, dass sie in der Kategorie Professor einbezogen sind. Geht der Satz aber weiter mit sind als Familienväter bislang nur wenig eingebunden, so erkennen sie, dass sie ausgeschlossen sind. Diese Ambiguität gründet in der Tatsache, dass männliche Personenbezeichnungen wie die Professoren sowohl geschlechtsspezifisch auf männliche Professoren als auch (in bestimmten Kon‐ texten) geschlechtsindifferent auf Professorinnen und Professoren referieren können und somit zwei Lesarten haben: ‘nur Männer’ oder aber ‘Männer und Frauen’. 8 Das ‚generische Maskulinum‘ wird also so behandelt, als wäre es so‐ wohl semantisch männlich als auch geschlechtsneutral. Pusch (1984) vergleicht das durch die Ambiguität des Maskulinums aufkommende Rätselraten um das Mitgemeintsein von Frauen folglich mit einem ‚Lotteriespiel‘: Man kann also unser deutsches Sprachsystem in diesem Bereich mit einer Lotterie vergleichen, in dem die Männer mit jedem Los gewinnen (mit beiden Lesarten gemeint sind), Frauen aber nur mit jedem zweiten. (Pusch 1984, 27) Auch Stefanowitsch (2018, 36-37) betont in seinem Buch Eine Frage der Moral. Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen: Das generische Maskulinum versteckt also Frauen systematisch und legt ihnen die zusätzliche Bürde auf, ständig darüber nachzudenken, ob sie in einem konkreten Fall mitgemeint sind oder nicht. […] Dass die Nicht-Betroffenen (die Männer) diskrimi‐ nierende Sprache so schwer erkennen, liegt natürlich auch daran, dass sie eben nicht betroffen sind. 25 Personenbezeichnungen im Deutschen 9 Cf. u. a. die Studien von Braun et al. (1998); Stahlberg/ Sczesny (2001); Klein (2004) und Irmen/ Steiger (2005). 3) Inwiefern werden Frauen durch den Gebrauch des ‚generischen Maskuli‐ nums‘ tatsächlich angesprochen? Stellen wir uns bei männlichen Personenbezeichnungen wie Rund um den Bahnhof sieht man immer wieder Drogendealer; Die Ärzte warnen eindringlich vor einer Lockerung der Maßnahmen; Der Kaukasier ist sehr gastfreundlich tatsächlich eher Männer als Frauen vor? Sämtliche seit den 1980er Jahren bis heute durchgeführten psycholinguistischen und kognitionspsychologischen Experimentalstudien bele‐ gen, dass ProbandInnen bei Stimulussätzen mit einem ‚generischen Maskulinum‘ häufiger und schneller an Männer denken als an Frauen - und dies nicht nur bei stereotyp maskulin besetzten Kategorien, wie die Soldaten, der Ingenieur usw., sondern selbst dann, wenn die verwendete Kategorie stereotyp weiblich besetzt ist, wie der Kosmetiker, der Kassierer, der Krankenpfleger (Gygax et al. 2008). Auch wenn bei maskulinen Formen im Singular die kognitive Wahrnehmung in Richtung ‚Mann‘ noch deutlicher zum Tragen kommt als bei Pluralformen, führen dennoch auch die Pluralformen (über unterschiedliche Kontexte hinweg) zur mentalen Repräsentation vorwiegend männlicher Personen. 9 Irmen/ Köhncke (1996, 163) ziehen aufgrund ihrer Untersuchungen zur kognitiven Repräsentanz weiblicher bzw. männlicher Personen beim ‚generischen Maskulinum‘ folgende Schlussfolgerung: Auch wenn das Konzept ‘Frau’ prinzipiell verfügbar ist, braucht seine Aktivie‐ rung nach einem GM [generischen Maskulinum; S.G.] mehr Zeit als die des Konzepts ‘Mann’. Ein ‚generisches‘ Maskulinum - wenn es überhaupt auf beide Geschlechter bezogen wird - bewirkt also den Aufbau einer mentalen Repräsentation, die den Mann als das typischere Exemplar beinhaltet. 2.2 Von der Beidnennung zur Kritik an der Binarität: Handelt es sich bei der binären Genderdifferenzierung um ein ‚altertümliches Dual‘ (Luhmann 1988)? Die Grammatik des Deutschen weist in Bezug auf die Mehrheit der Personen‐ referenzen ein binäres Kategoriensystem auf, das Menschen als ‚männlich‘ oder ‚weiblich‘ klassifiziert und dabei zugleich eine deutliche Asymmetrie zugunsten der als ‚unmarkiert‘ geltenden männlichen Referenzformen zeigt. Während die Feministische Linguistik bzw. Genderlinguistik die in der deutschen Sprache verankerte Schieflage kritisiert und fordert, Frauen 26 Susanne Günthner 10 Cf. die Pressemitteilung zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts: „Die Regelungen des Personenstandsrechts sind mit den grundgesetzlichen Anforderungen insoweit nicht vereinbar, als § 22 Abs. 3 Personenstandsgesetz (PStG) neben dem Ein‐ trag ,weiblich‘ oder ,männlich‘ keine dritte Möglichkeit bietet, ein Geschlecht positiv eintragen zu lassen. Dies hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss entschieden. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) schützt auch die geschlechtliche Identität derjenigen, die sich dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen lassen. Darüber hinaus verstößt das geltende Personenstands‐ recht auch gegen das Diskriminierungsverbot (Art. 3 Abs. 3 GG), soweit die Eintra‐ gung eines anderen Geschlechts als ,männlich‘ oder ,weiblich‘ ausgeschlossen wird. Der Gesetzgeber hat bis zum 31. Dezember 2018 eine Neuregelung zu schaffen“ (Bundesverfassungsgericht 2017). ‚sichtbar‘ zu machen, statt sie weiterhin sprachlich zu marginalisieren (Spieß/ Günthner/ Hüpper 2012; Günthner 2014; 2019; Diewald/ Steinhauer 2017; 2019; Kotthoff/ Nübling 2018), zeichnen sich in den letzten Jahren von Seiten der Queer Studies weitreichende Forderungen nach einer Personenreferenz jen‐ seits der tradierten Kategorien von ‚männlich/ weiblich‘ ab: Durch den Einfluss des Poststrukturalismus und dessen Genderkonzepten, die den Körper als vordiskursive Materialität in Frage stellen (Butler 2003, 206) und die Binarität der Geschlechter dekonstruieren, entwickelte sich in den Queer Studies (Motschenbacher 2012, 87) eine dezidierte Kritik der in unserer Sprache sedimentierten Binarität der Geschlechter. Diese Kritik umfasst auch die Forderung der Genderlinguistik nach einem sprachlichen Sichtbarmachen von Frauen, da diese eine biologisch-soziale Genderbinarität gar zementiere. Folglich plädiert die Queer Linguistics für ‚fluide‘, ‚geschlechtsneutrale‘ Per‐ sonenreferenzformen (Motschenbacher 2012), die so konturiert sein sollen, dass auch Intersexuelle bzw. nichtbinäre Personen eine sprachliche Repräsen‐ tanz finden. In diesem Kontext ist auch der Beschluss des Bundesverfassungs‐ gerichts vom Oktober 2017 bzgl. Artikel 3 des Grundgesetzes zu sehen: Das Personenstandsrecht in Deutschland ist künftig um ein ‚drittes Geschlecht‘ zu erweitern; d. h. neben den bisherigen Einträgen ‚weiblich‘ und ‚männlich‘ ist nun ‚divers‘ als weitere Option möglich. 10 Die Forderungen der Queer Linguistics nach einer Ausweitung der Personen‐ referenzen - jenseits der Geschlechtsidentitäten ‚weiblich‘ bzw. ‚männlich‘ - können m. E. durchaus im Rahmen der These Luhmanns (1988; 1995, 314) vom ‚altertümlichen Dual‘ der Geschlechter diskutiert werden: Ist die tradierte und in unserer Sprache kodierte Zweiteilung der Geschlechter etwa ‚ein Relikt aus alten Zeiten‘, das für postmoderne Gesellschaften, die weitgehend ‚geschlechts‐ neutral‘ funktionieren, längst überholt ist? Wie wäre eine Abkehr von diesem 27 Personenbezeichnungen im Deutschen 11 Zugleich zeigen sich im Deutschen gerade bei Referenzen auf Frauen solche Genus- Sexus-diskordanten Neutrumverwendungen, die oftmals als pejorativ bzw. als Schimpfwort (das Mensch, das Weib, das Frauenzimmer, das Merkel usw.) oder zur Indizierung ‚unreifer‘ (das Mädchen) bzw. nicht ernst zu nehmender bzw. ‚unfertiger‘ Personen (das Fräulein) eingesetzt werden (hierzu auch Kotthoff/ Nübling 2018, 83- 84; Nübling 2019, 40-46). Von Seiten der Queer Linguistics werden ferner verschie‐ dene Formen nichtbinärer Personalpronomina wie sier, cier, nin bzw. die Übernahme aus dem Englischen they vorgeschlagen. ‚altertümlichen Dual‘ sprachlich zu gestalten - speziell in einer Genussprache wie dem Deutschen? Im Deutschen (wie auch in vielen anderen indoeuropäischen Sprachen) ist ein ‚undoing gender‘ (Hirschauer 1989, 209; Günthner 2006, 35) keineswegs einfach zu bewerkstelligen: In der deutschen Sprache besteht nun mal (anders als in vielen Sprachen der Welt) in Bezug auf Personenbezeichnungen eine Ausweispflicht, die auf einer binären Genderzuweisung beruht: Das Deutsche verpflichtet uns darauf, Personen, über die wir reden, geschlechtsspezifisch zuzuordnen (u. a. durch Pronomen wie sie und er). Auch weisen wir Personen, die wir mit Titel anreden, binäre Genderkategorien zu (Frau Kaiser vs. Herr Kaiser; cf. Günthner 2006; 2014; Nübling/ Fahlbusch/ Heuser 2012). Selbst wenn das Geschlecht einer Person für meine Sprechhandlung irrelevant ist, gibt mir die deutsche Grammatik vor, auf diese Person beispielsweise mit Die Verkäuferin hat mich ignoriert. Sie tat so, als sehe sie mich nicht oder Der Verkäufer hat mich ignoriert. Er tat so, als sehe er mich nicht zu referieren. Ich kann im Falle einer Genderirrelevanz nicht Das Verkaufende hat mich ignoriert. Es tat so, als sehe es mich nicht sagen. Das Neutrum bei Personenreferenzen im Deutschen gilt als ‚verdinglichend‘, da es primär für Inanimata verwendet wird. 11 In alltäglichen zwischenmenschlichen Begegnungen wird also rasch klar, dass das scheinbar „altertümliche Dual“ (Luhmann 1995, 314; Hirschauer 2001, 211) und damit die alltägliche Genderkonstruktion bis dato keineswegs ein überholtes Ritual darstellt (Günthner/ Spieß/ Hüpper 2012, 1), sondern uns im Alltag begleitet und eng mit sozialen Macht- und Ungleichheitsverhältnissen verwoben ist. Wie beständig dieses Gender-Dual auch heute noch ist, wird aktuell u. a. während der Corona-Pandemie erkenntlich: Es sind neben den Kindern primär Frauen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, die vermehrt in prekären Arbeitssituationen stecken, Care-Arbeit leisten, was sich u. a. auf das Gehalt und die spätere Rente niederschlägt, und die durch den Gender Pay Gap selbst 2020 noch immer 18 % weniger verdienten als ihre männlichen Kollegen. 28 Susanne Günthner Die insbesondere von Butler (2003) vertretene Vorstellung einer ständig neu inszenierbaren Genderperformativität gründet auf einem Empirie-losge‐ lösten, poststrukturalistischen Konstrukt (Spieß/ Günthner/ Hüpper 2012; Kott‐ hoff/ Nübling 2018, 47-50), das nur randständig mit der sozialen Alltagsrealität wie auch mit sedimentierten symbolischen Machtstrukturen verwoben ist (hierzu u. a. Garfinkel 1967). So verweist u. a. Bourdieu (2016 [1998], 21) anhand des Konzepts der ‚symbolischen Herrschaft‘ auf die noch immer vorherrschende Vernetzung von gesellschaftlichen Machtpositionen mit sozial verfestigten Genderkonstruktionen: Die Macht der männlichen Ordnung zeigt sich an dem Umstand, dass sie der Rechtfertigung nicht bedarf. Die androzentrische Sicht zwingt sich als neutral auf und muss sich nicht in legitimatorischen Diskursen artikulieren. Die soziale Ordnung funktioniert wie eine gigantische symbolische Maschine zur Ratifizierung der männ‐ lichen Herrschaft, auf der sie gründet […]. Es ist die Macht der „männlichen Ordnung“, die auch in unserer Sprache insofern eingeschrieben ist, als die „Einteilung in zwei Geschlechter und die damit verbundene Hierarchisierung […] nach dem Prinzip der Dominanz des Männlichen (male as norm) funktioniert hat und teilweise noch funktioniert“ (Diewald 2020, 4). Angesichts dieser androzentrisch geprägten und sozial verfestigten Ordnung, die mittels Sprache nicht nur reflektiert, sondern auch perpetuiert wird, stellt sich die Frage, wie ein ‚undoing gender‘ (Hirschauer 2001; Günthner 2006) in der deutschen Sprache realisierbar ist, ohne zugleich das „symbolische Kapital der Mächtigen“ (Bourdieu 2016 [1998], 43) zu untermauern. 2.3 Zur Diversität aktueller Forderungen und Positionen in Bezug auf eine gendergerechte Sprache Aktuell scheinen sich recht unterschiedliche und vielfältige Positionen hin‐ sichtlich des Umgangs mit Fragen des Genderns abzuzeichnen. Da bislang keine größeren repräsentativen Umfragen zu dieser Thematik vorliegen, lassen sich nur Tendenzen anführen, die aus vereinzelten Pilotstudien stammen und deren Ergebnisse je nach Region, Bildungsstand der Befragten und Zeitpunkt der Durchführung mehr oder weniger variieren. Eine 2015 von Studierenden im Münsterland durchgeführte Umfrage unter 145 Proban‐ dInnen (88 weiblich, 57 männlich) zwischen 15 und 81 Jahren mit unterschied‐ lichem Schulabschluss lieferte folgende Ergebnisse: Etwas mehr Frauen (36 %) als Männer (34 %) sprachen sich für Forderungen nach einer gendergerechten Sprache aus. Zugleich gaben 44 % der Probandinnen an, dass ihnen diese Be‐ 29 Personenbezeichnungen im Deutschen 12 Cf. auch die im Auftrag der DPA im Jahr 2017 durchgeführte Umfrage, bei der 42 % der Befragten gegenderte Personenbezeichnungen ablehnten (davon gaben 23 % an, dass sie diese Formen „eher“ ablehnten, 19 % dagegen „voll und ganz“), während 37 % sie befürworteten (23 % davon befürworteten sie „eher“; 14 % „voll und ganz“; Frankfurter Allgemeine Zeitung 2021). 13 Der Dortmunder Verein Deutsche Sprache (VDS; https: / / vds-ev.de/ ), der gegen den „Gender- Unfug“ kämpft, sieht sich derzeit als zentrales Sprachrohr gegen die Verbreitung einer gendersensiblen Sprache und ruft aktuell zur Rettung der deutschen Sprache vor dem „Gendersprech“ auf: „Wer klagt, bekommt Hilfe“. Mit dieser Aktion appelliert der Verein „an die Studenten deutscher Universitäten: Wer wegen seiner Weigerung Nachteile erleidet, akademische Arbeiten in grammatisch falscher gendergerechter Sprache abzufassen, soll bis zur letzten Instanz dagegen klagen“ (VDS 2021b). strebungen „gleichgültig“ seien, und 18 % lehnten sie ganz ab. Als Gründe für ihre Ablehnung gaben sie an, gendergerechte Sprache sei „zu umständlich“, es würde dadurch „Zwang ausgeübt“, „als Frau hat man heutzutage solche feministischen Aktionen nicht mehr nötig“ bzw. „Frauen werden dadurch nur auf das Geschlecht reduziert“ (Günthner 2019, 578). Diese Studie bestätigt teilweise andere Pilotstudien, die in den letzten Jahren durchgeführt wurden: Junge Leute (insbesondere Männer) haben teilweise weniger Probleme mit dem ‚generischen Maskulinum‘ als Personen über 40. Zugleich halten selbst junge Frauen Bestrebungen für eine gendergerechte Sprache teilweise für „unnötig“ bzw. „nicht mehr zeitgemäß“ (cf. Wesian 2007; Schröter/ Linke/ Bubenhofer 2012; Stockmann 2013). 12 In den Medien kommen darüber hinaus immer wieder PolitikerInnen, Journa‐ listInnen, SchriftstellerInnen, SprachwissenschaftlerInnen usw. zu Wort, die sich aus recht unterschiedlichen Gründen gegen das Gendern wehren („zu sperrig“, „nicht nötig“, „unästhetisch“, „Gleichstellung von Frauen: ja; Vorschriften zur Sprach‐ verwendung: Nein“, „Bürokratieduktus“ usw.). Natürlich ist es verständlich, dass SchriftstellerInnen sich wehren, wenn ihnen gewisse, oftmals holprige und sperrige, Schreibformen geradezu vorgeschrieben werden, doch sind u. a. die von Diewald/ Steinhauer (2017) vorgelegten Vorschläge zum Gendern als Anregungen gedacht, geschlechtergerecht zu schreiben, so dass die Texte dennoch gut lesbar sind. Einige vehemente GegnerInnen bezeichnen die Bestrebungen gar als „Gender-Unfug“, „Gender-Gaga“, „bürgerlich-linken Sprachterror“ und „zerstörerischen Eingriff in die deutsche Sprache“ und gründen Initiativen bzw. starteten Aufrufe an die Öffentlich‐ keit gegen den „Gendersprech“. 13 Doch auch unter den VertreterInnen einer gendersensiblen Sprache existieren un‐ terschiedliche Positionen, beispielsweise bzgl. der Frage, ob jenseits der Beidnennung noch weitere Identitätsgruppen sprachlich sichtbar gemacht werden sollen/ können, welche graphischen Markierungen bei Personenreferenzen zu präferieren sind und 30 Susanne Günthner 14 Cf. hierzu die 2020 von Rekers durchgeführte Pilotstudie zur Verständlichkeit gegenderter Formen in medizinischen Beipackzetteln. Diese auf Fragebogen im Münsterland basierende Untersuchung legte ProbandInnen unterschiedlichen Geschlechts, Alters und Bildungsab‐ schlusses vier Varianten eines fingierten Beipackzettels zu einem Mittel gegen Sodbrennen vor: (i) Personenbezeichnungen mit dem sogenannten ‚generischen Maskulinum‘; (ii) Perso‐ nenbezeichnungen mit der Beidnennung; (iii) Personenbezeichnungen mit dem Binnen-I; (iv) Personenbezeichnungen mit dem Genderstern. Die Auswertung zeigte, dass die gegenderten Formen - entgegen vieler Annahmen - die Lesbarkeit und das Verständnis des Textes nicht negativ beeinflussen. Frauen über 30 Jahren bewerteten das Bemühen um eine gendergerechte Sprache als wichtiger und relevanter als jüngere Frauen und als Männer. Der Genderstern wurde von jüngeren studentischen Teilnehmerinnen eher begrüßt als von älteren, denen der Stern teilweise ‚fremd‘ war. Die Schreibweise mit dem Binnen-I stieß bei einigen LeserInnen auf Unsicherheit bezüglich des Einbezugs männlicher Personen. Positiv und als sehr gut lesbar wurde die Beipackvariante mit Beidnennung eingestuft. weshalb, ob auch Komposita gegendert werden sollen, wie mit Partizipialkonstruk‐ tionen und Abstrakta umzugehen ist, ob „punktuelle[s] Gendern“ (Kotthoff 2020, 120, 122) ausreicht oder ein systematisches Gendern in sämtlichen Texten und Äußerungen gefordert werden sollte (Kotthoff 2017; Zifonun 2018). 14 Aufgrund der in den letzten Jahren aufgekommenen Debatten trifft man mitt‐ lerweile auf eine sich beständig wandelnde Pluralisierung von Schreibweisen, zu denen neben den seit den 1980er Jahren tradierten Formen - wie Beidnennung (Lehrerinnen und Lehrer), Binnen-I (LehrerInnen), Schrägstrich (Lehrer/ innen), Partizipialkonstruktionen (Lehrende), Abstrakta (Lehrkraft) bzw. ‚generischem Femininum‘ (Lehrerinnen) - u. a. der (dynamische) Unterstrich (Lehrer_in bzw. Leh_rerin), das Ausrufezeichen (Lehrer! nnen), das Trema (Lehrerïnnen), der Dop‐ pelpunkt (Lehrer: innen), der Genderstern (Lehrer*innen), das ‚x‘ (Lehrx) gehören. Man begegnet selbst Schreibweisen des ‚generischen Maskulinums‘ mit Asterisk (z. B. Lehrer*), was als Symbol der Auflösung der Gendermarkierung gelesen werden soll (Baumgartinger 2008, 29). Letztere Option - wie auch die aktuell in Stellenanzeigen verbreitete Version Mitarbeiter (m/ f/ d) gesucht - wirft die Frage auf, ob solche Verwendungsweisen des Maskulinums u. U. gar einem ‚Backlash‘ in Richtung Androzentrismus Vorschub leisten? Auffällig in Zusammenhang mit den skizzierten Varianten ist ferner die metapragmatische Aufladung der betreffenden Symbolik: Während einige Ver‐ treterInnen das Binnen-I als „feministisch verwurzelt“, „binär ausgerichtet und folglich überholt“, „ewig gestrig“ oder gar „phallisch“ einstufen, soll der dynamische Unterstrich nicht nur eine „graphostilistische Störung“ indizieren, sondern auch „die Geschlechtervielfalt in der Sprache sichtbar […] machen“, was zugleich „der Kategorie Geschlecht, v. a. da sie meist als Zweigeschlechter‐ norm wahrgenommen wird, zumindest auf sprachlicher Ebene die machtvolle Präsenz“ nehmen kann (Baumgartinger 2008, 11). Durch den Asterisk bzw. 31 Personenbezeichnungen im Deutschen Genderstern mit seinen in verschiedene Richtungen verlaufenden Strahlen soll Sprache „entgeschlechtlicht“ werden (Baumgartinger 2008, 11). Ob diese ideologisch aufgeladenen Bedeutungszuschreibungen im Fall von Unterstrich und Asterisk tatsächlich die Vielfalt an Identitäten repräsentieren können, während das Binnen-I mit seiner skalaren Form und Spannbreite zur Indizierung von Genderfluidität nicht in der Lage sein soll, ist diskussionswürdig. So ist doch gerade das Binnen-I dasjenige Zeichen, das nicht länger die männliche Stammform vom suffigierten Rest abtrennt. Was ferner bei einigen Plädoyers für neue Schreibweisen ins Auge springt, ist die Vermischung unterschiedlicher Kategorisierungsebenen: In Argumenta‐ tionen für gewisse Schreibweisen wird neben der Indizierung von Fluidität der Genderidentitäten auch die Forderung nach sprachlicher Sichtbarmachung von Personen mit sexuellen Orientierungen jenseits der Heterobzw. Cisnor‐ mativität (d. h. Personen mit bisexuellen, lesbischen, homo-, pan-, asexuellen usw. Dispositionen) ins Spiel gebracht. So findet sich in einigen Richtlinien zur gendergerechten Sprache die These, dass graphische Zeichen wie Unterstrich oder Stern neben der Binarität der Geschlechtskategorisierung auch die „hete‐ rosexuelle Orientierung als Norm in Frage [stellen]“ und „denjenigen Personen einen sprachlichen Ort verleihen, die bislang vorwiegend nicht oder nur als ‚Ab‐ weichung‘ wahrgenommen werden (Intergeschlechtliche, Transidente, Homo- und Bi-Sexuelle, Transgender, Crossdresser, Drags, usw.)“ - so die Leitlinien zu einer Gendergerechten Sprache der Technischen Hochschule Nürnberg (s. a.). Diese Aufladung von graphischen Zeichen, die fortan bei der Personenrefe‐ renz nicht nur nichtbinäre Personen einbeziehen, sondern auch deren sexuelle Orientierung bzw. Präferenzen ausweisen soll, stellt eine denkwürdige Vermen‐ gung unterschiedlicher Ebenen dar. In Opposition zum aktuell populären Genderstern bzw. Unterstrich, welche die femininen Endungen erneut vom männlichen Stamm abtrennen (Lehrer*innen, Lehrer_innen) und damit die traditionelle, androzentrisch ausgerichtete Dicho‐ tomie ‚Norm (= männlich) vs. Abweichung (= weiblich)‘ rekontextualisieren, plä‐ dieren einige GenderlinguistInnen für das integrierte Ausrufezeichen (Lehrer! nnen) bzw. das Trema (Lehrerïnnen), das die Frauen nicht länger als deuxième sexe vom eigentlichen Stamm abgrenzt. Auch wird momentan die Variante mit Doppelpunkt (Lehrer: innen) beliebter, da Sprachprogramme für Blinde diese Schreibweise (im Gegensatz zum Genderstern) erkennen und eine kleine Pause bei der Übertragung einbauen können. Doch bereits während des Verfassens dieses Beitrags mehren sich kritische Stimmen aus der ‚queeren Community‘ zum Doppelpunkt: Dieser würde im Gegensatz zum „Sternchen und Unterstrich“ keine „aktive Störung der Sprech-, Schreib- und Sehgewohnheiten“ herbeifügen: „Der Doppelpunkt sieht für 32 Susanne Günthner Sehende aus wie ein kleines i, sticht weniger hervor, kommt somit weniger radikal daher und stört sehende cis Menschen vermutlich viel weniger als Sternchen oder Unterstrich“ (Steinfeldt-Mehrtens 2021). Anhand dieser Ausführungen wird deutlich, dass die Bedeutungszuschreibung wie auch die Begründung zur Präferenz bestimmter Grapheme auf der Ebene der Metapragmatik (Silverstein 1993) operieren. In Anlehnung an Kotthoff (2020) möchte ich argumentieren, dass mit der jeweils gewählten Option keineswegs nur eine Personenreferenz hergestellt wird, sondern die SchreiberInnen damit zugleich eine genderbezogene Positionierung indizieren: Während AutorInnen mit dem ‚generischen Maskulinum‘ u. U. ihre Distanz zur gendersensiblen Sprache markieren können, kontextualisieren andere mittels Beidnennung, Binnen-I, Schrägstrich, Doppelpunkt, Trema, Genderstern usw. ihre feministische, genderbzw. queer-bezogene Affiliation. (Beidnennungen, Partizipialkonstruktionen sowie Abstrakta werden übrigens als weniger stark metapragmatisch aufgeladen interpretiert). Ich möchte mich somit den Beobachtungen von Kotthoff (2020, 116) anschließen, dass SchreiberInnen durch das jeweilige Zeichen zugleich ihre eigene „Gruppenzugehörigkeit“ kontextualisieren: Dann kann ein derartiger Unterstrich für Kreise, die solche Texte rezipieren, einen Wiedererkennungswert symbolisieren. Er kann so zum textuellen Emblem von Gruppenzugehörigkeit werden nach dem Motto: aha, der Text wurde von einer Person verfasst, der viel an der Überwindung der Zweigeschlechtlichkeit liegt. 3 Abschließende Bemerkungen Angesichts der sich im Fluss befindenden Diskussionen, Vorschläge und Kri‐ tikpunkte zu Fragen und Realisierungsmöglichkeiten einer gendergerechten Sprache im Deutschen repräsentiert der vorliegende Beitrag eine Art Moment‐ aufnahme, die keineswegs die gesamte Spannbreite der aktuellen Vielfalt an Diskussionspunkten, Argumenten, Gegenargumenten usw. vorstellen kann. Al‐ lein während des Verfassens dieses Artikels sind zahlreiche neue Vorschläge und Richtlinien aufgekommen, frühere Vorschläge wurden revidiert, Ausrichtungen neu positioniert usw. Die Flut an Richtlinien, Vorgaben und Re-Interpretationen führt leider auch dazu, dass sich mittlerweile zahlreiche Personen resigniert von dem Thema abwenden. Obgleich ich das ‚Genervt-Sein‘ vieler (ehemaliger) VertreterInnen einer gendergerechten Sprache angesichts der ständig neuen Vorschläge und eines gelegentlich aufkommenden Rigorismus teilweise nach‐ vollziehen kann, so kann ich als Linguistin dem Prozess der Reflexion über Sprache, über Praktiken der Personenreferenz und der sprachlichen Kategorisie‐ rung bzw. über Sprachgebrauch und Wirklichkeitskonstruktion auch Positives 33 Personenbezeichnungen im Deutschen abgewinnen: Die sich in der breiten Öffentlichkeit abzeichnende Beschäftigung mit der eigenen Sprache, mit Fragen des Zusammenhangs von Sprache und sozialer Wirklichkeit, mit Aspekten von Sprachwandelerscheinungen, mit Stil‐ fragen usw. ist letztendlich ein deutliches Zeichen dafür, wie multidimensional und sozial komplex, faszinierend aber auch emotional hoch-affiziert die Beschäf‐ tigung mit Sprache und ihrer Verwendung sein kann. Bibliographie Baumgartinger, Perrson P. 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Une linguistique que l’on peut qualifier de ,queer‘ renvoie-t-elle à un objet de recherche spécifique, s’agit-il d’une approche méthodologique particulière, d’une discipline ou d’une sous-discipline à part entière? Avant d’examiner ces questions, on traitera à la fois du terme queer et de la théorie/ des études queer (Queer Studies) en général. Par la suite, nous nous concentrerons sur les questions de recherche que la linguistique queer se pose normalement et nous nous demanderons quels seraient les domaines de recherche auxquels elle pourrait ou devrait encore s’intéresser. Son orientation anti-normative serait-elle également transférable à d’autres domaines que le genre et les identités sexuelles? Quel rôle l’identité et les discussions actuelles sur les politiques de l’identité jouent-elles pour la linguistique queer? La notion de la construction socio-discursive signifiet-elle que l’on ne peut ou ne doit plus se référer à une réalité prédiscursive? Enfin, nous aborderons le rôle de l’application - quel rôle peut et doit jouer la linguistique appliquée queer? - ainsi que la question de savoir de quelle manière les approches linguistiques queer peuvent également être intégrées dans la recherche en études romanes. Abstract This contribution is intended to provide a first insight into the still relati‐ vely young research field of ,Queer Linguistics‘. Does a linguistics labelled as ,queer‘ refer to a specific research object, is it a specific methodological approach, a discipline or sub-discipline in its own right? Before we turn to these questions, however, we want to deal with both the term queer and 1 In der deutschsprachigen Queeren Linguistik besteht die Tendenz, das Adjektiv (Queer) mit Majuskel zu schreiben, um den Terminus-Charakter des Ausdrucks zu betonen - eine Praxis, die auch beim Partizip in der Bezeichnung Angewandte Linguistik üblich ist. Queer Theory or Queer Studies. After that, we will focus on what Queer Linguistics in general is or could or should be concerned with. Would its anti-normative orientation be transferable to fields other than gender and sexual identity issues? What role do identity and the current identitypolitical discussions play for Queer Linguistics? Does social-discursive construction mean that a prediscursive reality can or should no longer be referred to at all? Finally, we are interested in the application aspect - what role can and should queer applied linguistics play? - as well as the question in which way queer linguistic approaches can also be integrated into Romance Studies. Keywords: queer, Queer Studies, Queere Linguistik, Queere Angewandte Linguistik, Queere romanistische Linguistik 1 Einleitung Die folgenden Überlegungen sollen einen ersten Einblick in das noch relativ junge Forschungsfeld der ,Queeren Linguistik‘ geben. Selbst im Fall etablierter Forschungsbereiche herrscht oft weder intern noch extern totale Übereinstim‐ mung, welchen disziplinären Status sie haben oder für welche Forschungsfragen sie mit welchen Methoden zuständig sind oder sein sollten. Man denke hier z. B. nur an die immer wieder neu versuchten Definitionen von ,Angewandter Linguistik‘ (cf. Stegu 2011). Im Fall neu entstehender Forschungsansätze, die sich in vielen Fällen auch in sich neu bildenden communities ausbreiten und weiterentwickeln, ist die Situation noch um vieles unklarer oder zumindest komplexer. Bezeichnet sich eine Linguistik nur deshalb als ‚queer‘, weil sie sich auf ein bestimmtes, als ‚queer‘ identifiziertes Forschungsgebiet bezieht, oder handelt es sich um einen bestimmten methodischen Ansatz, um eine eigene Disziplin oder Subdisziplin? Bevor wir uns jedoch diesen Fragen zuwenden, wollen wir uns sowohl mit dem Begriff queer als auch mit Queer Theory bzw. Queer Studies auseinander‐ setzen. Danach soll es vor allem darum gehen, womit sich Queere Linguistik im Allgemeinen befasst bzw. noch befassen könnte oder sollte. Dabei interessiert uns auch der Anwendungsaspekt (also: Queere Angewandte Linguistik 1 ) sowie 40 Martin Stegu 2 Zu allgemeinen Fragen Queerer Linguistik ist vor Kurzem Stegu (2021) erschienen; der vorliegende Beitrag baut auf diesem auf, arbeitet aber auch viele neue Überlegungen mit ein. die Frage, in welcher Weise queerlinguistische Aspekte auch in die Romanistik einfließen könnten. 2 2 Queer Das englische Wort queer, das übrigens mit dem deutschen Wort quer verwandt ist, bedeutete ursprünglich ‘sonderbar’ und wurde ab dem letzten Jahrhundert auch immer mehr für ‘homosexuell’ verwendet (cf. Etymonline 2001-2021, s. v. queer), dies aber nicht mit neutraler Konnotation, sondern pejorativ und mit einem semantischen Fokus auf ‘tuntig, weibisch’. Ähnlich wie im Fall des deutschen Wortes schwul kam es dann innerhalb der gay & lesbian community und von dieser ausgehend zu einer neutralisierenden, ja positiven Umdeutung (cf. Rauchut 2008, 40-42), wobei sich queer u. a. als Oberbegriff für gay & lesbian anbot. Queer wird inzwischen als calque auch in vielen anderen Sprachen ver‐ wendet - wobei hier aber nur die neueren Bedeutungsvarianten übernommen wurden und der ursprünglich negative Bedeutungsaspekt vielen gar nicht bewusst ist. Bei einer semantischen Analyse des Wortes queer müsste daher klar zwischen primär englischsprachigen und anderssprachigen Kontexten unterschieden werden. Neben der bereits erwähnten Verwendung als Oberbegriff für gay & les‐ bian bzw. LGBTIQA* (Lesbian/ Gay/ Bisexual/ Trans*/ Inter*/ Queer/ Agender usw.; cf. Scheller-Bolz 2017) wird queer oft auch dann eingesetzt, wenn damit eine gewisse Nähe zu queertheoretischem Denken und/ oder queerem Akti‐ vismus ausgedrückt werden soll. Damit ist häufig eine identitätskritische Haltung verbunden, die eine eindeutige Zuordnung zu traditionellen gender‐ bezogenen Identitätskategorien ablehnt (cf. den Ausdruck genderqueer, dazu Richards/ Bouman/ Barker 2017). Interessant ist, dass queer sowohl Superonym als auch Kohyponym sein kann (und in diesem Fall in einer Reihe mit L, G, B usw. aufscheint, aber hier eine besonders identitätskritische Position ausdrücken soll). Ich vermute jedoch, dass das Wort queer von manchen einfach nur deshalb verwendet wird, weil es als intellektueller oder als mehr chic wahrgenommen wird als schwul oder lesbisch, ohne dass dadurch explizite Verbindungen zu queerer Theorie hergestellt werden sollen. Was ein: e Sprecher: in mit dem Wort queer genau ‚meint‘, lässt sich nicht immer präzise feststellen. Dazu kommt noch, dass sich viele Rezipient: innen der Polysemie dieses Worts nicht bewusst sind und in den Verstehensakt nur ihr 41 Linguistique(s) queer 3 Als allgemeine Einführung wäre - neben Rauchut (2008) und McCann/ Monaghan (2020) - nach wie vor Jagose (2001) zu empfehlen. eigenes, möglicherweise begrenztes Verständnis von queer einbringen. Wenn jemand queer in einem Kotext mit Foucault, Butler usw. verwendet, lässt sich eine Nähe zur Queer Theory annehmen, wenn aber jemand - ähnlich wie in von mir einmal untersuchten Datingportalen (cf. Stegu 2012) - z. B. schreibt: Queerer Tourist sucht lokale Bekanntschaften, wissen wir nicht, ob queer hier mehr oder etwas anderes als gay oder schwul ausdrücken soll oder nur ein Synonym bzw. eine stilistische Variante dafür ist. Polysemien wie die hier geschilderte treten in der Alltagssprache immer wieder auf, während im Wissenschaftskontext das Ziel besteht, diese zu ver‐ meiden oder zumindest zu reduzieren. Verschiedene wissenschaftliche Schulen definieren allerdings auch zentrale Termini immer wieder unterschiedlich, denken wir nur an die unzähligen Bedeutungen und Definitionen von ,Diskurs‘. Im Fall von queer ist die Lage allerdings noch ein wenig anders gelagert: Queer wird immer wieder als im Grunde undefinierbarer, offener Begriff bezeichnet, bei dem eine präzise Definition weder möglich noch erwünscht ist. Dies hat dann auch Auswirkungen auf Bezeichnungen wie Queer Studies und Queere Linguistik, auch wenn hier trotz allem andere Bedeutungsaspekte in den Vor‐ dergrund rücken als in der Alltagssprache (cf. dazu das erste Kapitel von McCann/ Monaghan 2020: „Defining Queer Theory/ Defining the Indefinable“). 3 Queer Studies Die Queer Studies  3 bauen auf feministischen und genderbezogenen Theorien sowie schließlich auf den Gay & Lesbian Studies auf. Ging es im Feminismus zu‐ nächst um die gesellschaftliche Rolle der Frau und um die Beendigung ihrer Un‐ terdrückung und Diskriminierung, erfolgte bei vielen Gendertheoretiker: innen in der Folge auch eine Hinwendung zu sexuellen Minderheiten. Dabei mag u. a. eine Rolle gespielt haben, dass es immer auch Affinitäten zwischen Feminismus und der lesbischen Bewegung gegeben hat (cf. die französische lesbisch-feministische Theoretikerin Monique Wittig mit ihrem bekanntesten Buch La pensée straight, 2001). Frauen begehren nicht automatisch Männer, Männer nicht automatisch Frauen: Die prinzipielle - und dabei nicht von Ablehnung gesteuerte - wissen‐ schaftliche Auseinandersetzung mit einem Phänomen, das es wohl schon immer gab, aber meistens als Bruch geltender gesellschaftlicher Normen angesehen wurde, kann sicherlich als ein erster wichtiger Schritt zu queerem Denken 42 Martin Stegu angesehen werden. Aus einer bestimmten Perspektive kann auch schwul-lesbi‐ sches Verhalten als solches bereits als Beitrag zu einem queering heterosexueller Normvorstellungen, der sogenannten ,Heteronormativität‘, gesehen werden. Trotzdem bedeutet in den Queer Studies queer auf jeden Fall mehr als nur ʻschwulʼ und/ oder ʻlesbischʼ (bzw. ʻLGBTIQA*ʼ); wichtig ist eine nicht zu‐ letzt auf den Poststrukturalismus zurückgehende identitätskritische und sozialkonstruktivistische Grundposition. Geschlechtskategorien sind in dieser Sicht‐ weise nicht prädiskursive, ‚natürliche‘ Wesensgrößen, sondern werden sozial konstruiert, wobei diese Konstruktionen nicht willkürlich entstehen, sondern durch herrschende Diskurse geformt oder zumindest sehr beeinflusst werden. Diese Diskurse und damit verbundene Einstellungen sind aber nicht gänzlich unüberwindbar, sondern können durch entsprechend starke Gegendiskurse verändert oder auch ersetzt werden. Ursprünglich erfolgte in Gendertheorien eine Unterscheidung zwischen bio‐ logischem und sozialem (= sozial-diskursiv konstruiertem) Geschlecht (sex vs. gender). Seit Butler (1991) wird jedoch auch der Konstruktionscharakter des so genannten ,biologischen Geschlechts‘ thematisiert. Die doppelte Einsicht, dass wir einerseits zur Realität keinen direkten Erkenntniszugang haben, sondern dieser nur über das Filter unserer (vor allem) sprachlich-kategorialen Konstruk‐ tionen erfolgen kann, dass wir aber andererseits wissen, dass es eine außer- oder vorsprachliche Realität gibt und sich diese auch auf unsere ‚Geschlechts‐ erfahrungen‘ auswirkt, ist eine Art epistemologischer Widerspruch, mit dem wir in irgendeiner Weise fertig werden müssen. Unsere Kategorien sind eben sowohl ,ausschließlich Konstruktion‘ als auch (meist) ,nicht nur ausschließlich Konstruktion‘. Als Beispiel für den ebenfalls von Butler (z. B. 1991) verwendeten Performa‐ tivitätsbegriff - der ursprünglich von Austin stammt, aber von ihr adaptiert und erweitert worden ist - wird gerne die Äußerung der Hebamme genannt, die nach der Geburt ihr It’s a girl oder It’s a boy ausruft (cf. Livia/ Hall 1997). Das ist für das Mädchen - nennen wir sie Lisa M.- und für den Jungen - nennen wir ihn Nenad O. - der Beginn einer sich regelmäßig wiederholenden und dadurch verstärkenden Bestätigung ihrer jeweiligen Geschlechtszugehörigkeit (später dann auch in Anreden wie Guten Tag, Frau M. bzw. Bis zum nächsten Mal, Herr O. usw.). Damit ist jedoch nicht gemeint, dass die Hebamme allein durch ihre Worte nach der Geburt eine Geschlechtsidentität konstruieren oder gar umkonstruieren könnte. Ohne dieses uns hier begegnende erkenntnistheoretische Problem ganz (auf)lösen zu können, sei zunächst nur die prinzipielle Entwicklung festge‐ halten, welche ausgehend von einer biologistisch-essenzialistischen Auffassung 43 Linguistique(s) queer genderbezogener Kategorien zu einer immer größeren Bewusstwerdung des konstruktiven Charakters dieser Kategorien geführt hat, wobei gerade auch dem Diskurs bzw. der Sprache eine immer größere Rolle zuerkannt worden ist. Der Übergang zwischen Gender- und queeren Theorien ist fließend; beson‐ ders queere Ansätze sind es, die sich gegen binäre Gendervorstellungen gewandt haben - es gebe eben viel mehr als nur ,männlich oder weiblich‘; Intersex-, Trans-, nichtbinäre, genderfluide Identitäten bekommen einen anderen Stellen‐ wert, auch ,agender‘ ist möglich (weil ja nicht nur ‚spezifische Genderkatego‐ rien‘ konstruiert sind, sondern auch die allgemeine ,[Ober-]Kategorie Gender‘, die eben nicht von allen als unbedingt notwendig aufgefasst wird). Über die Gendertheorien im engeren Sinn hinausgehend, interessieren sich queere Theorien auch für den weiter oben bereits angesprochenen Begehrens‐ aspekt. Die normative Übereinstimmung von sex, gender und dem jeweils auf ein ‚gegengeschlechtliches‘ Subjekt gerichteten Begehren wird dekonstruiert. Die Binaritätskritik richtet sich dabei nicht nur auf ,Mann vs. Frau‘, sondern auch auf eine reduzierte ,hetero-‘ vs. ,homosexuelle‘ Kategorisierung. Ein ganz zentraler Begriff in den Queer Studies ist schließlich die bereits erwähnte ,Hete‐ ronormativität‘ (cf. Marchia/ Sommer 2019). Nach wie vor umgeben uns sich an der angeblichen Natürlichkeit (oder gar ‚Gottgewolltheit‘) von Heterosexualität orientierende heteronormative ideologische Vorstellungen mit entsprechenden expliziten oder impliziten Vorgaben, Erwartungen und Regeln, die Menschen mit abweichenden Verhaltensweisen und Lebensentwürfen diskriminieren, bedrohen und teilweise noch immer kriminalisieren, was in manchen Fällen bis zur Todesstrafe führen kann (cf. LSVD s. a.). In vielen Ländern vor allem der westlichen Welt haben sich inzwischen LGBTIQA*-Rechte immer mehr durchgesetzt. Vor einigen Jahrzehnten noch mit Gefängnis bedroht, besteht vielerorts schon die Möglichkeit ‚gleichgeschlecht‐ liche‘ Partner: innen zu heiraten oder zumindest eine eingetragene Partnerschaft einzugehen. Dennoch bleibt, neben etlichen noch immer bestehenden rechtli‐ chen Unterschieden, Heteronormativität auch in auf den ersten Blick etwas weniger offensichtlichen Erscheinungsformen bestehen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Es ist z. B. für einen Mann noch immer viel unproblematischer, vor ihm nicht zu nahestehenden Personen bezüglich seiner Urlaubspläne ein Ich fahre mit Frau und Kindern an den Wörthersee zu äußern als ein Ich verbringe meinen Urlaub mit meinem Partner in Mykonos. LGBTIQA*-Personen müssen sich noch immer mehr kontrollieren und von Fall zu Fall überlegen, was sie wem in welcher Weise erzählen und bis zu welchem Grad sie sich ‚outen‘ dürfen. Bei Queer Studies - die Pluralform Queer Studies erscheint geeigneter als der Ausdruck Queer Theory, der eine Einheitlichkeit suggeriert, die aus queerer Sicht 44 Martin Stegu gar nicht angestrebt wird - handelt es sich jedenfalls um ein interdisziplinäres Feld, das „als wichtigste Bereiche […] Sprachwissenschaft, Literaturtheorie, Politikwissenschaft, Geschichtswissenschaft, Soziologie, Philosophie und Psy‐ chologie, daneben aber auch andere wissenschaftliche Disziplinen“ umfasst (cf. (Un)Doing Gender Projektteam 2009) und sich kritisch mit verschiedenen Ausprägungen von Heteronormativität auseinandersetzt. Motschenbacher (2011, 158) betont auch die bestimmende Rolle von Hete‐ ronormativität für heterosexuelle Personen im Hinblick auf ein als ‚richtig‘ angesehenes heterosexuelles Verhalten (also etwa im Zusammenhang mit Mo‐ nogamie, Einstellungen zu SM-Praktiken usw.), die für Queer Studies ebenfalls ein Forschungsfeld darstellen (sollten). In queertheoretischen Texten finden wir schließlich auch den Begriff Homonormativität, und diesen auch in zumindest zwei Bedeutungen (cf. Motschenbacher/ Stegu 2013, 524-525). Meist werden damit Phänomene bezeichnet, in denen heterosexuelle Muster direkt in ho‐ mosexuelle Kontexte übertragen werden, z. B. das heterosexuelle Ehemodell (,Ehe für alle‘ - anstelle auch denkbarer sonstiger Beziehungsformen). Eine andere Interpretation bezieht sich auf Normvorgaben und -konstellationen innerhalb von Homosexualitäten, z. B. ein stark ausgeprägter Körperkult, das Ideal des ,straight acting‘ (verbunden mit einer oft geäußerten Ablehnung effeminierter Schwuler [= ,Tunten‘]) usw. Zweifellos besteht ein historischer, aber auch synchron noch immer wirk‐ samer Nahebezug zwischen Queer Studies und LGBTIQA*-Agenda; wie aber gerade auch angeklungen ist - im Zusammenhang mit ,Normen innerhalb von Heterosexualität‘ -, lässt sich das Interesse der Queer Studies nicht auf diese beschränken. Im Gegenteil, ich sehe in deren antinormativer Haltung ein noch viel umfassenderes Potenzial queeren Denkens, das selten explizit beschrieben wird, aber doch immer wieder zwischen den Zeilen anklingt: Es scheint möglich und/ oder wünschenswert, auch genderunabhängige Normen, die allgemein als vorgegeben und unhinterfragt gelten, mit einem ‚queeren Blick‘ in Frage zu stellen. Auf solche den Genderbereich transzendierende Aspekte einer queeren erkenntnis-, wissenschafts- und auch sprachkritischen Grundhaltung werde ich noch einmal später zurückkommen. 4 Queere und andere Identitäten Bevor ich zum eigentlichen Abschnitt über Queere Linguistik übergehe, will ich noch auf einen Begriff eingehen, der sowohl im queeren Denken als auch in der gesamten heutigen sozial- und geisteswissenschaftlichen Diskussion eine ganz zentrale Stellung einnimmt und vielfach auch kritisch gesehen wird, 45 Linguistique(s) queer 4 Eine Art Kompromissposition zwischen Gay/ LGBTIQA* Linguistics und Queer Linguistics nehmen die vor allem mit dem Namen William Leap verbundenen Lavender Linguistics ein (cf. Leap 2019). auf ,Identität‘. In Jagose (2001, 165) lesen wir: „Queer ist keine Identität, sondern eine Kritik von Identität, insofern queer auf die unausweichliche Gewalt von Identitätspolitiken verweist und nicht auf die eigene Vorherrschaft setzt.“ Dieses Verhältnis zu ‚Identität‘ ist im gesamten Umfeld von ,Gender‘, ,LGBTIQA*‘ und ,Queer‘ ein sehr komplexes. In den Anfangszeiten von Feminismus und Gay & Lesbian Studies waren Iden‐ titäten in gewisser Weise weniger problematisch als vor der ,queeren Wende‘: Frauen waren Frauen, Lesben waren Lesben, Schwule waren Schwule usw. Gerade auch angesichts heteronormativer Erwartungen und Forderungen, Ho‐ mosexuelle sollten sich doch lieber für ein heterosexuelles Leben entscheiden, war das Argument ‚Wir können ja nicht anders, wir haben keine Wahl, wir sind lesbisch bzw. schwul‘ sehr wichtig. Als Folge einer poststrukturalistischkonstruktivistisch-queeren Wende wurden jedoch Identitäten problematisiert und zumindest ihre essenzialistische Interpretation in Frage gestellt. Identi‐ täten waren jetzt plötzlich nicht reale, prädiskursive Größen, sondern Ergeb‐ nisse sozial-diskursiver Konstruktion(en). Es bleibt im Weiteren auch nicht ganz klar, ob Identitäten dadurch als prinzipiell ‚problematisch‘ angenommen werden müssen oder eben nur in ihren essenzialistisch konzipierten Varianten. Eine konstruierte Identität wird im ersten Moment jedenfalls als weniger überzeugend aufgefasst werden als eine (angeblich) ‚reale‘. Und so gab und gibt es sowohl in der feministischen als auch schwul-lesbischen Bewegung Stimmen, die sich für weiterhin starke und sich nicht teilweise auflösende Identitäten der durch sie vertretenen Subjekte aussprechen. Hier könnte aber im LGBTIQA*-Kontext eine mögliche Grenze zwischen gay_lesbian und queer gezogen werden; Gay & Lesbian Studies sehen Identität weniger kritisch und noch um einiges ungebrochener als Queer Studies. 4 Das oben angeführte Jagose-Zitat geht übrigens weiter mit der Feststellung, „Queer [sei] immer eine Identitätsbaustelle“ ( Jagose 2001, 165) - dem Identi‐ tätsbegriff können wir anscheinend auch aus queerer Perspektive nicht ganz ausweichen. Das ,Problemfeld‘ Identität hängt jedenfalls sehr stark mit der be‐ reits angesprochenen grundsätzlichen Einstellung zu (Genderetc.) Kategorien zusammen. Wenn Menschen über eine starke z. B. lesbische Identität verfügen oder zumindest eine solche behaupten, müssen sie von einer ,Identitätskate‐ gorie‘ ,lesbisch‘ überzeugt sein. Eine meines Wissens dabei im Allgemeinen nicht näher behandelte Frage ist, ob bestimmte Meta-Identitätsvorstellungen (= -konstruktionen) Einfluss auf spezifische Identitätsbefindlichkeiten haben. 46 Martin Stegu Oder mit anderen Worten: Brauchen wir sowohl eine allgemeine Identitätsthe‐ orie als auch eine Theorie zu ,lesbischer Identität‘ (zumindest auf folk level), um selbst so etwas wie eine lesbische Identität (bzw. entsprechend andere als zutreffend empfundene Identitäten) zu entwickeln oder bei anderen eine solche Identität als ‚möglich‘ und ‚vernünftig‘ nachvollziehen zu können? Diese Überlegungen erinnern an die Fragestellung, ob z. B. Homosexualität erst zu dem Zeitpunkt zu existieren begann, als dieser Ausdruck ‚dafür‘ ge‐ schaffen wurde. Einerseits können wir uns ja nur mittels Sprache auf die außersprachliche Wirklichkeit - auf dieses ‚dafür‘ - beziehen. Dabei tritt gerade bei einem Wort wie Homosexualität - mit seinem auch für Nicht- Linguist: innen leicht erkennbaren Fokus auf Sexualität - der konstruktive Charakter von Sprache klar zu Tage. Andererseits, wie bereits weiter oben an einem anderen Beispiel angedeutet, haben wir den Eindruck, dass es sich hier nicht ausschließlich um eine Konstruktion denkender und sprechender, sich miteinander abstimmender Gehirne handelt, sondern dass da etwas ent‐ sprechendes Außersprachliches existiert (und das wohl auch schon seit Beginn der Menschheit), dem wir uns sprachlich-diskursiv aber nur versuchsweise annähern können. Innerhalb von queeren und queerlinguistischen Diskussionen wurde immer wieder vorgebracht, dass nichtheterosexuelle Handlungen nicht unbedingt mit einer eigenen schwulen oder lesbischen Identitätszuschreibung zusammen‐ hängen müssen (cf. Cameron/ Kulick 2003 und die Replik mit einer wiederum identitätsfreundlicheren Haltung Bucholtz/ Hall 2004). Eventuell liegt eine bi‐ sexuelle oder andere ,sexuell offene‘ Identität vor, oder es wird trotz homo‐ sexueller Aktivitäten weiterhin eine Art ,Basis-Hetero-Identität‘ empfunden. Schließlich können Identitätsfragen ganz in den Hintergrund treten, wenn diese für eine Person momentan oder längerfristig nicht relevant erscheinen. Auch aus historischer Sicht waren Identitätsaspekte nicht immer gleich wichtig oder stellten sich anders dar als heute. Ähnliches lässt sich interkultu‐ rell-synchron feststellen - dass in manchen sehr traditionellen Kulturen sowohl mit nichtheterosexuellen Praktiken als auch mit Transgender-Phänomenen ganz anders umgegangen wird als etwa in der ‚westlichen‘ Kultur (cf. ITVS 2021: A map of gender-diverse cultures). Dabei sei zusätzlich erwähnt, dass Begrifflich‐ keiten wie queer, gay usw. oft deren westlich-europäisch-amerikanischer bzw. ‚nördlicher‘ Ursprung vorgeworfen wird und ihre direkte Übertragung in andere Kulturen kritisch hinterfragt werden sollte (cf. Altman 2004). Dass sexuelle Praktiken und sexuelle Identitäten nicht zusammenfallen müssen, liegt auf der Hand. Andererseits ist es unwahrscheinlich, dass Men‐ schen, die überwiegend eine bestimmte Art sexueller Handlungen praktizieren 47 Linguistique(s) queer oder in eine bestimmte Richtung gehende Begierden haben, diese Erfahrungen nicht auch mit Identitätsüberlegungen zusammenbringen werden. Dabei ist anzunehmen, dass Menschen mit von der gesellschaftlichen ,Hauptnorm‘ ab‐ weichendem Verhalten sich diesbezüglich eher Fragen stellen werden als (he‐ tero)normkonforme Personen. Etwas anders formuliert: Die Frage ‚Bin ich denn vielleicht schwul (oder: lesbisch)? ‘ wird sich potenziell betroffenen Personen als existenzielle Frage eher aufdrängen, als es die entsprechende Formulierung ‚Bin ich denn vielleicht heterosexuell? ‘ bei sich grundsätzlich ‚straight‘ fühlenden Personen tun würde. Die Identitätsfrage stellt sich allerdings nicht für alle LGBTIQA*-Gruppen in gleicher Weise; bei Transpersonen (oder Personen, die sich noch unsicher sind, ob sie trans* sind oder diesen Weg weiter einschlagen sollten) spielt Identität auf jeden Fall eine wichtige Rolle (‚Ich bin [noch] eine Frau im Körper eines Mannes‘; ‚Endlich bin ich jetzt in jeder Hinsicht ein Mann‘; ‚Ich habe meine Identität gerade in diesem Zwischen-den-Geschlechtern gefunden‘ u. Ä.). Ein Grundproblem bei Identität liegt sicherlich in den Möglichkeiten und Grenzen einer gänzlich freien Identitätswahl - wo ist eine solche gegeben bzw. zu begrüßen, wo begrenzen externe Faktoren zu Unrecht oder zu Recht eine solche Freiheit? Wahrscheinlich kann z. B. ein so genannter ,Cis-Mann‘ für sich zum Schluss kommen, die Genderkategorien abzulehnen und sich als ,agender‘ zu bezeichnen (was staatlich meist [noch? ] nicht anerkannt werden wird). Aber wäre es für diese Person möglich, sich ,einfach so‘ von heute auf morgen als ,Frau‘ zu bezeichnen, ohne dass sie dafür bei Transpersonen (und selbstver‐ ständlich auch Cis-Frauen) sonst feststellbare Motive und Fakten vorweisen kann? Die Frage der freien Identitätswahl stellt sich nicht nur im Gender-Bereich: Inwieweit können wir z. B. zwischen kulturellen und ethnischen Zugehörig‐ keiten und Identitäten frei wählen - gerade auch angesichts postkolonialer und rassismuskritischer Diskussionen (weiteres Stichwort: ,kulturelle Aneignung‘) ein sehr komplexes Thema, das in diesem Rahmen nur oberflächlich gestreift werden kann. Aber wir werden zunächst einmal daran erinnert, dass für Queer Studies und deren antidiskriminatorische Haltung nicht nur genderbezogene Identitätsaspekte eine Rolle spielen, sondern auch die eigentlich unvermeidliche Koppelung mit anderen Zugehörigkeitsaspekten, ein Phänomen, das ,Intersek‐ tionalität‘ genannt wird (cf. Hess/ Langreiter/ Timm 2011). Dabei geht es darum, dass die Situation einer bestimmten Person nicht nur dadurch verstanden werden kann, dass sie bspw. den Kategorien ,Frau‘ und ,Lesbe‘ angehört, son‐ dern dass sie weitere Zugehörigkeiten (und wohl oft Identitäten) wie ‚race/ Eth‐ 48 Martin Stegu 5 Lutz/ Wenning (2001, 20) nennen zusätzliche potentielle Zuordnungen: Nation/ Staat, Kultur, Gesundheit, Alter, Sesshaftigkeit/ Herkunft, Besitz, Nord-Süd/ Ost-West, Gesell‐ schaftlicher Entwicklungsstand. 6 Hier ist an den Ausdruck ,strategischer Essenzialismus‘ zu denken. Dieser wird auf die Postkolonialitätsforscherin Gayatri Spivak zurückgeführt (cf. Nandi s. a.). nizität‘, ‚soziale Klasse‘ u. a. 5 aufweist und somit einer Mehrfachdiskriminierung (bzw. in manchen Fällen -privilegierung) ausgesetzt sein kann. Eine konstruktivistisch basierte identitätskritische Grundhaltung, wie wir sie bei den Queer Studies voraussetzen können, bedeutet nicht unbedingt eine Ablehnung jeglicher ,Identität‘. Identitäten werden hier als Konstruktionen gesehen, die in der Gesellschaft wirksam sind, in vielen Fällen (aber bei Weitem nicht in allen! ) auch nützlich bis unentbehrlich. Die Identitätskatego‐ rien ,Frauen‘ und ,Männer‘ mögen in einer gendertheoretischen Diskussion in Frage gestellt werden können, für eine Lösung sozialer Ungleichbehand‐ lungen (z. B. gender pay gap) sind sie zumindest provisorisch oder ‚strategisch‘ notwendig. 6 Es ist zweifellos ein wichtiges Anliegen, Gruppierungen - mit ihren jeweiligen Identitäten -, die bis heute diskriminiert, unterdrückt, oft zum Schweigen verurteilt wurden, ihre Stimmen zurückzugeben. Trotzdem sehe ich die Gefahr, dass sich das konstruktivistische Identitätsmodell in ein essenzialistisch oder sogar rassistisch basiertes Denkmodell zurückverwandeln könnte: Die Überzeugung, dass es sich bei allen Kategorien und Identitäten nur um mehr oder minder provisorische Konstruktionen handelt, die auch immer wieder in Frage gestellt werden können und müssen, gilt einem logischen Schluss zufolge auch dann, wenn wir es mit Identitäten diskriminierter Gruppen zu tun haben. 5 Queere Linguistik Schon in den vorangegangenen Abschnitten wurde immer wieder die Rolle sozialer Konstruktionen angesprochen - Konstruktionen, die ja ab einem bestimmten Abstraktheitsniveau nur mittels Sprache bzw. Diskurs geschaffen werden können; dies zeigt, dass bereits von vornherein eine starke Affinität zwischen den ‚allgemeinen‘ Queer Studies und einer an queeren Phänomenen im weitesten Sinn interessierten Sprachwissenschaft angenommen werden kann. Wenn wir uns dafür interessieren, was Queere Linguistik ‚ist‘ (= als was Queere Linguistik konstruiert wird/ worden ist/ werden könnte), müssten wir eine eher wissenschaftssystematische von einer eher inhaltlichen Perspektive unterscheiden, obwohl diese beiden Perspektiven miteinander in engem Bezug 49 Linguistique(s) queer 7 Queer Studies und Queere Linguistik werden zumindest primär nicht selbst als ‚queer‘ qualifiziert, sondern in Relation zu Phänomenen gesetzt, die als ‚queer‘ bezeichnet werden. (Dies schließt nicht aus, dass sich sekundär auch qualifizierende Bedeutungs‐ nuancen ausbilden). 8 Andere Überblickstexte sind Motschenbacher (2019) und zahlreiche weitere Veröffent‐ lichungen dieses Autors (cf. Motschenbacher s. a.), Leap (2012), Koch (2011). stehen. Wenden wir uns zunächst der wissenschaftssystematischen Perspektive zu. Das Adjektiv queer ist selbstverständlich hier nicht als qualifizierendes, son‐ dern als relationales Adjektiv zu verstehen (was auch bereits bei Queer Studies der Fall ist). 7 Es ist eine Linguistik, die in einem Nahebezug zu Queer Studies steht; es ließe sich eventuell auch sagen: Queer Studies mit einem starken Sprach- und Diskursfokus. Aus diesem Blickwinkel wäre Queere Linguistik den Queer Studies untergeordnet oder ein Teilbereich der letzteren. In einer Formulierung wie ,Linguistik mit Interesse an queeren Phänomenen‘ oder auch ,Linguistik mit queertheoretischen Ansätzen‘ erfolgt eine hierarchische Unterordnung unter die Sprachwissenschaft. Ebenso einleuchtend wäre eine interdisziplinäre Sicht‐ weise, die gleichermaßen Einflüsse aus (zumindest) zwei ,Mutterdisziplinen‘ sieht. Eine einfache Arbeitsdefinition von Queerer Linguistik lautet: „Queer Lin‐ guistics can […] be described as critical heteronormativity research from a linguistic point of view“ (Motschenbacher/ Stegu 2013, 522). 8 Diese Definition, die nicht explizit auf eine Bezugsdisziplin Queer Studies verweist - außer wir sehen Queer Studies und heteronormativity research als Synonyme an -, weist uns indirekt auf ein anderes Problem hin: Queere Linguistik wird hier als „research“ bezeichnet, ohne dass eine Zuordnung zu hierarchischen Begriffen wie ,Teildis‐ ziplin‘, ,Subdisziplin‘, ,Ansatz‘ u. Ä. getroffen wird. Selbst bei schon viel länger eingeführten Teil- oder Subdisziplinen wie ,Kontrastive Linguistik‘, ,Kontakt‐ linguistik‘, aber auch z. B. ,Genderlinguistik‘, wäre deren genaue Lokalisierung im Gesamtsystem der Wissenschaften, aber auch innerhalb der Linguistik, eine sehr schwere Aufgabe. Die Erstellung eines endgültigen ,Systems der Wissenschaften‘ halte ich aus verschiedenen Gründen für utopisch und auch unnötig, weil sich alle Wissenschaften methodisch, forschungsobjektbezogen und vor allem auch bedingt durch die sie betreibenden communities ständig wei‐ terentwickeln. Im Fall queertheoretischer (Sub-)Disziplinen kommt außerdem hinzu, dass sich die Bezeichnung queer ja auch im wissenschaftlichen Bereich gegen zu einschränkende Definitionen wehrt. Trotzdem müssen sich auch queere Disziplinen bis zu einem gewissen Grad bestehenden wissenschaftlichen Konventionen unterwerfen, und somit halte ich es in jedem Fall für wichtig, sich 50 Martin Stegu mit der Frage auseinanderzusetzen, wodurch sich queere Ansätze von ähnlichen Ansätzen unterscheiden - auch wenn endgültige Trennlinien weder möglich noch wünschenswert sind. Wenn es nun darum geht, inhaltliche Bereiche zu beschreiben oder wenigs‐ tens aufzuzählen, mit denen sich Queere Linguistik befasst, wären zumindest zwei (oder drei) Fälle zu unterscheiden: 1. a: Womit haben sich dieser Richtung bzw. dieser community zuordenbare Linguist: innen bisher befasst? (Variante b: Womit haben sich Linguist: innen befasst, die sich nicht explizit als Angehörige der Queeren Linguistik deklariert haben, aber de facto sehr ähnliche Forschungsinteressen haben? ) 2. Was wären noch unbehandelte Forschungsbereiche, die ebenfalls in den Bereich ,Queere Linguistik‘ fallen könnten? Im vorliegenden Beitrag kann weder ein umfassender Forschungsbericht über alle als queerlinguistisch zu bezeichnenden bereits verfassten Arbeiten noch über alle weiteren potenziell dazugehörigen Forschungsfelder geboten werden, es ist hier lediglich ein grober grundsätzlicher Überblick möglich. Zunächst leuchtet ein, dass vor allem diskursanalytische Ansätze eine große Rolle spielen werden (cf. Motschenbacher/ Stegu 2013; Leap 2012). Früher übliche Fragestel‐ lungen (‚Wie sprechen/ schreiben Frauen? ‘ oder auch ‚Wie sprechen/ schreiben Schwule? ‘ usw.) wurden durch Fragen des Typs ‚Welche sprachlichen Mittel verwendet eine Person, um sich als Frau, als Schwuler usw. performativ zu konstruieren? ‘ (oder in einer anderen Terminologie: ‚zu positionieren‘, cf. Spitzmüller/ Flubacher/ Bendl 2017) abgelöst. Es wird nicht mehr angenommen, dass z. B. Frauen, Schwule usw. jeweils über ganz bestimmte sprachliche Varietäten (Soziolekte, Genderlekte o. Ä.) ver‐ fügen, die in 1: 1-Entsprechungen den einzelnen Identitätskategorien eindeutig zugeordnet werden können. Trotzdem bin ich der Auffassung, dass eine gewisse Zirkularität nicht außer Acht gelassen werden sollte: Jemand positioniert sich z. B. in einer bestimmten Geschlechter- oder Sexualitätsrolle und wird dann von anderen als ,Frau‘ oder als ,Schwuler‘ quasi-essenziell wahrgenommen (was schließlich auch sehr oft für die Eigenwahrnehmung gilt). Wir nehmen in den meisten Fällen eine Frau unmittelbar als Frau wahr und nicht als eine ‘Person, die sich mit bestimmten sprachlichen (und non-verbalen) Mitteln als ‚Frau‘ positioniert’. Beim Positionierungskonzept bleibt außerdem die Frage bestehen, wie weit jeweils frei wählbare Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen und wo die Positionierung hingegen mehr oder minder unbewusst und ohne Optionen in einer ganz bestimmten Weise zu erfolgen hat. 51 Linguistique(s) queer Wenngleich in der Queeren Linguistik das Interesse an - konstruierenden und dekonstruierenden - Diskursen groß ist, sind auch Analysen von langue-Phä‐ nomenen aus queerer Sicht möglich. Die langue ist ja nichts anderes als das Ergebnis von Diskursen, ein abstrahiertes, für zumindest einen kurzen Moment als fixiert angenommenes Zeichensystem, in das bestimmte Geschlechts- und andere gesellschaftliche Normvorstellungen eingeflossen sind, die sich in Lexik und Grammatik widerspiegeln. Hier sei das Vokabular für Genderphänomene und sexuelle Orientierungen erwähnt oder das Genussystem, das trotz immer wieder zitierter Gegenbeispiele grundsätzlich mit ‚realen‘ Sex-Gender-Kate‐ gorien verbunden ist (,Männer‘ werden meist durch ,maskuline‘ Substantive bezeichnet usw.). Motschenbacher (2010, VII) erwähnt jedenfalls folgende linguistische Be‐ reiche - verschiedenster logischer Hierarchien -, für die er Queere Linguistik besonders relevant hält (ich übernehme die von ihm verwendeten englischen Termini): Sociolinguistics, Corpus Linguistics, Historical Linguistics, Contrastive Linguistics, Semantics, Pragmatics, Foreign language teaching, Critique of hetero‐ normative language use. Die ersten sieben Bereiche sind Teildisziplinen oder Forschungsfelder, in denen Queere Linguistik eine wichtige Rolle spielen kann; im letzten erwähnten Bereich ist Queere Linguistik nicht nur einer neben vielen anderen Ansätzen, sondern das ‚ist‘ ja gerade Queere Linguistik par excellence (natürlich nicht essenzialistisch gemeint). Ohne meinerseits Vollständigkeit zu behaupten, würde ich noch eine weitere Gliederungsmöglichkeit anführen: a) Analyse heteronormativer Sprache Viele werden Sprache als durchgehend heteronormativ konstituiert ansehen - gemeint ist hier vor allem die Auseinandersetzung mit besonders zentralen, auf‐ fälligen, aber auch versteckten heteronormativen Sprach- (inkl. Diskurs-)Phä‐ nomenen. Diese sollen aufgedeckt und beschrieben werden - als erster Schritt zu einem mehr inkludierenden Sprachgebrauch. b) Analyse und Weiterentwicklung nichtheteronormativer Sprache 1. Zunächst denke ich hier an Sprachphänomene, die typisch für LGBTIQA*-Personen sind oder auch für Hetero-Personen, die sich se‐ xuell nicht normativ verhalten. Obwohl ,nichtheteronormativ‘ lebende Menschen nicht auch automatisch als ,nichtheteronormativ kommunizie‐ 52 Martin Stegu 9 Letztlich eine Frage der Definition! 10 Einige der z. B. in den romanischen Sprachen gerne verwendeten Sonderzeichen, wie der Punkt oder @ (les ami.e.s, l@s amig@s), drücken dann nicht von sich aus Nichtbina‐ rität aus, müssen jedoch als nichtbinär umgedeutet werden (ähnlich wie im mündlichen deutschen Sprachgebrauch, wo FreundInnen und Freund*innen gleich klingen und das Gehörte sowohl als ,Frauen inkludierend‘ als auch als ,alle Geschlechter inkludierend‘ interpretiert werden kann). rend‘ wahrgenommen werden müssen, 9 würde ich es nicht ausschließen, dass eine breit aufgefasste Queere Linguistik auch weiterhin für gay & lesbian etc. speak-Phänomene zuständig ist - allerdings nicht mehr im Rahmen einer klassischen und eigentlich überholten ,Genderlekt‘-Theorie (cf. Motschenbacher 2007). 2. Hier sehe ich vor allem den Platz Queerer Angewandter Linguistik und damit für alle Bemühungen, gendergerecht und - auch außerhalb des un‐ mittelbaren LGBTIQA*-Bereichs - nichtheteronormativ zu kommunizieren; dabei sei vor allem die ,queere Wende‘ erwähnt, infolge deren im Deutschen binäre Formen wie Kolleginnen und Kollegen, aber auch KollegInnen durch inkludierendere Varianten wie Kolleg_innen, Kolleg*innen, Kolleg: innen, teilweise auch Kollegxx usw. nach und nach abgelöst werden. 10 Hier müssten sowohl die Bemühungen, solche Formen zu schaffen und zu verbreiten, als auch deren tatsächliche Verwendung untersucht werden - ein wesentliches Betätigungsfeld für Queere Angewandte Linguistik. Zu gendergerechter Kommunikation zählen nicht nur Personenbezeichnungen mit teilweise neuen Movierungsvarianten oder diverse andere Ersetzungsvor‐ schläge (wie man zu mensch, jemand zu jemensch usw.), sondern auch die entsprechende Wahl von Anredevarianten (Vermeidung von Sehr geehrte Damen und Herren, von Sehr geehrter Herr XY, wenn die Genderidentität nicht vorher ab‐ geklärt worden ist; die Angabe bevorzugter Pronomina: Ich heiße Mischa, meine Pronomina sind sie und ihr). Es gibt insgesamt bereits sehr viele Möglichkeiten, binäre Formen und Anreden zu umgehen, einige sind schon recht bekannt und verbreitet; bei einigen sehr alltagssprachfernen und schwer zu merkenden Vorschlägen kann jedoch selbst im Fall einer sehr positiven Einstellung zu inklusiver Sprache abgeschätzt werden, dass sich diese wahrscheinlich nicht so bald durchsetzen werden (cf. etwa viele Vorschläge in Hornscheidt/ Sammla 2021). Auch die Art und Weise, mit welchen Bezeichnungen auf LGBTIQA*-Men‐ schen Bezug genommen wird bzw. auch werden sollte (und welche eher als 53 Linguistique(s) queer diskriminierend aufgefasst werden können), gehört zum Aufgabenfeld Queerer Angewandter Linguistik im Bereich (gender)gerechter Sprache. Es ist bekannt, dass gendergerechte Kommunikation noch immer sehr viele Gegner: innen hat und auch in der Öffentlichkeit, in den (Sozialen, Massen-) Medien dazu sehr emotionale Diskussionen geführt werden. Dies war schon in jener Phase so, als es ‚nur‘ um die Sichtbarkeit von Frauen ging. Wahrscheinlich werden sich viele Menschen mit der Einbeziehung weiterer Identitäten noch um einiges schwerer tun. Ich sehe es daher als eine weitere wichtige Aufgabe einer Queeren Angewandten Linguistik an, auch die großen Probleme, die viele mit gendergerechter Sprache haben, ernst zu nehmen und zwischen möglicherweise etwas abgehobenen queer-poststrukturalistischen Theorien und folk-theoreti‐ schen Voraussetzungen zu vermitteln sowie zu einer allgemeineren Akzeptanz queerer und inklusionsfördernder Anliegen beizutragen. Ein zusätzliches Anwendungsfeld Queerer Angewandter Linguistik wäre der auch von Motschenbacher erwähnte Fremdsprachenunterricht (cf. dazu auch Liddicoat 2009; Peters 2020). In vielen Fremdsprachenlehrbüchern, gerade für den Anfangsunterricht, werden auch persönliche und familienorientierte Inhalte behandelt. Dabei fällt auf, dass nach wie vor meist sehr traditionelle Beziehungs-, Familien- und auch Berufsbilder vermittelt werden: Der Vater geht arbeiten, die Mutter kocht zu Hause, es sind zwei Kinder da (ein älterer Junge, ein jüngeres Mädchen) usw. Es gibt auch Untersuchungen aus Unterrichtssitu‐ ationen, wo u. U. unangenehme Situationen entstehen können, wenn prinzipiell immer von einer heterosexuellen ‚Default‘-Orientierung ausgegangen wird (wenn ein Student in einer Konversationsübung z. B. gefragt wird, was er denn am Wochenende mit seiner Freundin unternommen hat o. Ä.). Hier sollten sowohl Autor: innen von Schulbüchern und didaktischem Material als auch Lehrende eine größere Sensibilität entwickeln. Diese Sensibilisierung könnte sich dann auch positiv auf Lernende auswirken, die selbst eher aus einer ‚Default‘-Familie stammen und mit der Vielfalt von Gender-Identitäten und sexuellen Orientierungen zumindest bewusst noch wenig konfrontiert waren. Im Fremdsprachenunterricht sollte auch besprochen werden, in welcher Weise in der Zielsprache genderinklusiv formuliert werden kann - wobei die Situation in der L1 wohl mitbehandelt werden müsste - und welche sprachlichen, aber auch kulturell-politischen Faktoren dazu beitragen, dass der Umgang mit dieser Art von Sprachgebrauch in der zu lernenden Sprache möglicherweise anders ist als in der eigenen L1. Auf einen weiteren Teilbereich Queerer Angewandter Linguistik - Queere Lexikographie - werden wir noch in unserem romanistikbezogenen Abschnitt zu sprechen kommen. 54 Martin Stegu 11 Vielfach wird auch im Deutschen - meist im Sinn der Critical Race Theory (cf. Delgado/ Stefancic/ Harris 3 2017) - das englische Wort race verwendet, das weniger belastet ist als das deutsche Wort Rasse, welches für die meisten seit dem NS-Rassismus als (auf Menschen bezogener) Begriff Tabu ist. Interessant ist jedoch die Diskussion u. a. in der Rechtswissenschaft, wo aufgrund der Anwesenheit des Begriffs z. B. im deutschen Grundgesetz teilweise noch immer für dessen Beibehaltung plädiert c) Reflexion über die eigene Disziplin - Analyse von Möglichkeiten und Grenzen Jede Disziplin befasst sich nicht nur mit dem Objektbereich, für den sie sich als zuständig betrachtet, sondern muss auch immer Meta-Überlegungen zu eben dieser Zuständigkeit anstellen, inklusive des Verhältnisses ihrer (Sub-)Disziplin zu ihrem weiteren disziplinären Umfeld - etwas, was ja ebenfalls in diesem Beitrag unternommen wird. Dabei ist jeweils zusätzlich ein externer, wissen‐ schaftssystematischer/ -theoretischer Standpunkt einzunehmen; auch wenn hier eine interdisziplinäre Kooperation - mit benachbarten Disziplinen sowie mit Wissenschaftstheorie und -soziologie - denkbar oder sogar wünschenswert wäre, glaube ich, dass das Nachdenken über die Rolle und den Status der eigenen (Sub-)Disziplin ein konstituierender Bestandteil der jeweiligen (Sub-)Disziplin selbst ist. Besonders eine neuere Disziplin mit etwas unkonventionellem Hin‐ tergrund wie Queere Linguistik wird in diesem Fall mehr gefordert sein als traditionellere sprachwissenschaftliche Bereiche. Aber gerade Linguist: innen wären dazu berufen, zur Semantik von queer innerhalb und außerhalb von Wissenschaft oder - mit einem ausgeprägten sprachphilosophischen Fokus - zum Zusammenhang zwischen Sprache einerseits und Wirklichkeit, Kategorien, Identität usw. andererseits einen konstruktiven Beitrag zu leisten. Die Sprachwissenschaft hat immer offene Grenzen zur Sprachphilosophie gehabt, im Fall Queerer Linguistik erscheint mir das Überschreiten dieser Grenzen besonders naheliegend und notwendig. Ein weiteres Anliegen wäre mir die Öffnung einer Queeren Linguistik zu einer Queeren Semiotik in einer vielleicht noch etwas umfassenderen und allgemeineren Weise als der Ansatz, den z. B. Greco (2018) vertritt. Heteronormativität und Antiheteronormativität lassen sich jedenfalls nicht nur im verbalen, sondern auch im non-verbalen Bereich studieren (Gestik, Mimik, Kleidung, Frisur usw., ferner bildliche bzw. multimodale Darstellungen innerhalb von Theater, Musik, Film, Medien …). In meiner Auseinandersetzung mit Gender- und Queer-Theorien hatte ich manchmal den Eindruck, dass nur genderbezogene Kategorien bzw. die dafür verwendeten Ausdrücke als problematisch angenommen werden (der Sonder‐ fall ,race/ Rasse‘ sei hier einmal ausgeklammert). 11 Es handelt sich ja bei allen 55 Linguistique(s) queer wird, selbstverständlich nicht als ,essenzialistisch‘ interpretierte Kategorie, sondern als noch immer in der Gesellschaft anwesende und in rassistischen Diskursen wirkende Konstruktion (cf. Geulen 2020). Um im Deutschen das Wort Rasse zu vermeiden, wird es manchmal auch durch Ethnizität ersetzt - was aber auch nicht ganz unproblematisch ist, weil es sich hier sicher nicht um Synonyme handelt. Ich verwende in diesem Fall im Deutschen die kombinierte Variante ‚race/ Ethnizität‘. von uns verwendeten Begriffen um Konstruktionen, die uns helfen, über die Wirklichkeit zu kommunizieren und diese zu denken, ohne dass ihre objektive Wirklichkeitsentsprechung garantiert werden kann. Es leuchtet ein, dass für einen Menschen die Kategorien ,weiblich‘, ,lesbisch‘ usw. zentralere und persönlichere Bereiche betreffen als z. B. ,progressiv‘, ,kulturinteressiert‘ usw. Trotzdem stellt sich die Frage, ob Queere Linguistik nicht nur einen Teil‐ bereich einer prinzipiell poststrukturalistisch-konstruktivistischen Linguistik darstellt, die sich eben in einem ausgewählten Fall unter der Etikette ,queer‘ mit Gender- und sexuellen Identitäten auseinandersetzt. Oder hat, um auf meine bereits weiter oben angedeutete Idee zurückzukommen, ein queerlinguistischer Ansatz Eigenschaften an sich, die über poststrukturalistisch-konstruktivistische Linguistik hinausgehen und im Weiteren auch für nicht bloß genderbezogene sprachliche und kommunikative Forschungsthemen interessant sein würden? Queerlinguistisch ließe sich im vorhergehenden Satz auch durch queer bzw. Queer Studies-bezogen ersetzen, was unsere Fragestellung noch allgemeiner werden lässt. Eventuell ließe sich nämlich queer als ʻ(allgemein) antinormativʼ oder ʻnorma‐ tivitätsdekonstruierendʼ interpretieren und wäre dann auf jedes Aufspüren von Diskursen, in denen aufgrund herrschender Machtkonstellationen von hinter‐ fragbaren, aber jeweils als ‚einzig möglich‘ dargestellten Ausgangspositionen ausgegangen wird, anwendbar. Ich kann mich erinnern, dass auf einer Tagung in Bremen vor einigen Jahren (cf. BTWS Series 2018) am Rande darüber diskutiert wurde (v. a. mit Ingo Warnke), dass z. B. das Vorherrschen ganz bestimmter Wissenschafts- und Wissenschaftlichkeitsdiskurse ebenfalls ,gequeert‘ werden könnte und sollte, was nichts anderes hieße, als dass auch die vorherrschenden Wissenschaftsnormen (ihre verschiedenen sozialen rites de passage, inkl. A-Journal-Publikationen, Fundraising usw.) aus queerer Sicht hinterfragbar wären. Hier käme es dann eventuell zu einer Annäherung an anarchistische Wissenschaftskonzepte à la Feyerabend ( 15 2018). 56 Martin Stegu 6 Queere Linguistik und roman(ist)ische Implikationen Wir haben weiter oben (cf. 5) schon die Schwierigkeiten angesprochen, die mit einer genaueren Einordnung einer (Sub-) Disziplin im allgemeinen Wis‐ senschaftssystem verbunden sind. Eine auch nicht ganz leicht zu beantwor‐ tende Frage ist das Verhältnis zwischen der in eigenen Universitätsinstituten, -seminaren und -abteilungen betriebenen ,allgemeinen (und eventuell auch angewandten) Sprachwissenschaft‘ und der Sprachwissenschaft, die in den ver‐ schiedenen Einzelphilologien betrieben wird. Wodurch unterscheidet sich eine romanische oder romanistische - was nicht unbedingt das Gleiche sein muss - Linguistik von z. B. in einer Anglistik, Slavistik, Finno-Ugristik, Sinologie usw. praktizierten linguistischen Forschung? Einerseits ist in den Einzelphilologien das Interessensobjekt enger, weil z. B. in der Romanistik zumindest ein grö‐ ßerer Fokus auf eine oder mehrere romanische Sprachen gelegt werden muss, andererseits wird eine Reihe von Unterschieden eher wissenschaftssoziologisch erklärbar sein als grundsätzlich-theoretisch. Zunächst einmal lassen sich allgemeine queerlinguistische Ansätze auf ro‐ manisches ,Sprachmaterial‘ anwenden - so können z. B. Texte und Diskurse in romanischen Sprachen auf ihre Hetero- oder Antiheteronormativität untersucht werden oder es kann im Rahmen der Auseinandersetzung mit gendergerechter Sprache untersucht werden, inwiefern bereits ,queere‘ und nicht (nur) ,feminis‐ tische‘ Lösungen angewandt werden. Wenn es um gendergerechte Lösungen für unterschiedliche Sprachen geht, müssen wir allerdings zwei Typen von Faktoren unterscheiden - im engeren Sinn sprachbedingte und ,kulturbedingte‘. So machen Sprachen mit komplexer Morphologie und komplexen accord-Regeln - wie es im Allgemeinen romani‐ sche und slawische Sprachen sind - bestimmte Lösungsvarianten schwieriger. Im Englischen fällt es bspw. aus formal-morphologischen Gründen zumindest spontan leichter zu ‚gendern‘ als im Deutschen, aber das Deutsche ist seinerseits strukturell noch immer weniger kompliziert als das Französische (weil es z. B. nur eine einzige und dadurch geschlechtsneutrale Adjektivendung im Plural hat, z. B. die neuen Kolleg: innen). Der andere Aspekt ist der kulturelle, unter den ich hier auch (Sprachen-)Po‐ litisches subsumieren möchte: Bestimmte Widerstände oder auch positive Ein‐ stellungen zur Verwendung gendergerechter Sprache erklären sich meist nicht durch bestimmte grammatische oder lexikalische Gegebenheiten betroffener Sprachen, sondern durch den allgemeinen Diskurs, der in einer Gesellschaft zu diesem Thema (auch zu ,Gender‘ allgemein) geführt wird. 57 Linguistique(s) queer Für die (außerhalb romanischer Länder betriebene) Romanistik wäre es in diesem Zusammenhang auch nicht uninteressant zu wissen, ob queerlinguis‐ tische Studien in romanischen Ländern betrieben werden, auch wenn diese sich primär gar nicht mit romanischen Sprachen befassen sollten. Bevor wir einige für die Romanistik relevante Arbeiten vorstellen bzw. wenigstens kurz er‐ wähnen werden, lässt sich jetzt schon festhalten, dass, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bis heute weder die Romania noch die Romanistik als besonders intensive Zentren Queerer Linguistik aufgefallen sind. Bei einem ersten Überblick entsteht der Eindruck, dass im Bereich der gender‐ inklusiven Sprache vor allem die weiblichen (Berufsetc.) Bezeichnungen lange Zeit im Zentrum standen und noch immer stehen (also auteure/ autrice usw.) und dass bei inklusiver Sprache nach wie vor zunächst ‚nur‘ an die Einbeziehung von Frauen gedacht wird (und nur in Spezialveröffentlichungen z. B. Pronomina für Transpersonen diskutiert werden). Um aber ein abgesichertes Gesamtbild über Queere und queeraffine Linguistik in Romanistik und Romania gewinnen zu können, würde es eines umfassenderen Forschungsprojekts bedürfen. Der bekannteste Vertreter Queerer Linguistik in Frankreich ist der inzwi‐ schen an der Universität von Nancy tätige Luca Greco (Greco 2019; 2018; cf. auch Kunert 2013). Grecos Interesse geht über Sprache hinaus und fokussiert sich u. a. auf Kommunikation von drag kings in künstlerischen ‚Performances‘. Sein Beitrag aus dem Jahr 2019 ist in einem Themenheft einer Online-Zeitschrift erschienen, das auch andere Artikel zu Sprache von und für Transpersonen ent‐ hält (Swamy/ Mackenzie 2019). Weitere Materialien (inkl. einer Umfrage) über nichtbinäre Sprache im französischsprachigen Kontext sind über die Webseiten La vie en queer (2018) und On Parle Média (Labainville 2017) einzusehen. Ein: e der wenigen französischen Linguist: innen, die sich sehr stark für ,le langage inclusif ‘ einsetzen - und in diesem Fall auch aus einer queeren Position -, ist Alpheratz (genau unter diesem Namen - und ohne Vornamen - publizierend), cf. Alpheratz (2018) sowie Alpheratz (2012-2017). Einen interessanten vergleichenden Überblick über The non-sexist language debate in French and English bietet die an der Universität Aix-Marseille arbei‐ tende Ann Coady in ihrer so betitelten Doktorarbeit (Coady 2018). Dabei werden neben feministischen Positionen auch poststrukturalistische und queerlinguis‐ tische Positionen vorgestellt und berücksichtigt. Für den italienischen Bereich möchte ich die deutsche Anglistin, Italianistin und Übersetzungswissenschaftlerin Eva K. Nossem erwähnen mit ihrem Pro‐ motionsprojekt Un dizionario queer - il lessico italiano della non-eteronormatività (cf. dazu Nossem 2018). 58 Martin Stegu Auch Fabiana Fusco interessiert sich schon seit längerer Zeit für Geschlechts‐ stereotypen in der Lexikographie, allerdings nur aus feministischer und nicht aus queerer Sicht (cf. Fusco 2009). In einem italienischen Dissertationsverlag erschien vor einigen Jahren ein Buch von Daniel de Lucia über Il gergo gay italiano aus soziolinguistischer Sicht (De Lucia 2015), das hier erwähnt werden soll, auch wenn es nur sehr bedingt Queerer Linguistik zuzurechnen ist (weil die Kategorie ‚gay‘ noch in einer vorqueeren, unhinterfragt essenzialistischen Weise behandelt wird). Das sehr gute spanische Einführungswerk Lengua y género (Bengoechea Bar‐ tolomé 2015) gibt in einem „Últimas tendencias“ genannten Kapitel auch einen Überblick über Lingüística queer. Durch Zufall entdeckte ich eine überraschend gute Studierendenarbeit von der Universität Berkeley (inkl. kleiner Befragung) zum Thema Morphological Gender Innovations in Spanish of Genderqueer Speak‐ ers (Papadopoulos 2019). Dabei wird u. a. auch die umstrittene Form Latinx erwähnt, mit der sich englischsprachige Amerikaner: innen gerne genderneutral auf Latinos/ Latinas/ Latines/ Latin@s beziehen, die aber von der Latin*-Bevölke‐ rung teilweise als von außen aufgedrängt empfunden und daher abgelehnt wird (cf. dazu auch Kaur 2020). Ebenfalls aus dem studentischen Kontext kommt eine Arbeit, die Französisch, Spanisch und Portugiesisch einbezieht und auf die von bzw. für non-cis-people verwendeten Pronomina fokussiert ist (cf. Floyd 2020). Was das Portugiesische betrifft, fällt auf, dass es vor allem in Brasilien queerlinguistische Arbeiten gibt, so etwa Borba (2015) und das gerade erst erschienene Buch von Santos Filho (2021) mit dem Titel Linguística queer (eine Sammlung früherer Aufsätze des Autors). In diesem Zusammenhang soll noch die in dem hier vorgelegten Tagungsband ebenfalls vertretene Dinah Leschzyk erwähnt werden, die sich mit der Rhetorik Bolsonaros zu LGBTIQ*-Themen befasst hat (cf. Leschzyk 2020). 7 Ausblick In einer Zeit, in der sich die Queere Linguistik erst herauszubilden begann, gab es eine Tagung bzw. einen Sammelband, in dem verschiedene Diskutant: innen zu Grundsatzfragen (Nutzen, Ausrichtung usw.) Stellung bezogen (cf. Campbell- Kibler et al. 2002). Wahrscheinlich wäre es wieder an der Zeit, sich einer derartigen Grundsatzdiskussion zu stellen. Das Thema ,Identität‘ ist heute aktueller denn je - wie stehen wir, allgemein, aber ganz besonders auch als Vertreter: innen Queerer Linguistik, zu diesen plötzlich wieder in sehr radikaler Weise besprochenen identitätspolitischen Fragen? Wie gehen wir mit dem nie ganz gelösten Widerspruch ,Alles ist Konstruktion, aber gleichzeitig doch nicht 59 Linguistique(s) queer nur! ‘ um? Wieweit können, ja müssen sich auch queere Ansätze selbst queeren lassen, wo besteht die Gefahr, dass eine bestimmte queertheoretische und -linguistische Richtung selbst zu sehr tonangebend, normativ, ausschließend wird? Sehen manche von uns vielleicht das Plural-s in linguistiques queer zu wenig? Was können Linguist: innen dazu beitragen, queere Überlegungen aus elitären Elfenbeintürmen heraus- und in die Allgemeinheit hineinzubringen? Was ist das Potenzial, was sind die Grenzen queeren Denkens, wenn wir den Genderbereich im engeren Sinn verlassen? Wie können wir queere Ideen grenz- und kulturübergreifend diskutieren, ohne sie anderen unbedingt gleich missionarisch aufzwingen zu wollen? Zwischendurch hatte ich die Vermutung, dass das in uns gespeicherte Paral‐ lelwissen des Typs ‚Es gibt die Kategorie Frauen‘ und ,Es gibt keine Kategorie Frauen‘ - wobei zwischen diesen Gegen-Sätzen von Fall zu Fall hin- und her‐ zupendeln ist - eine Art Versöhnung zwischen ,präqueer‘ und ,queer‘ darstellen und insgesamt vielleicht ein ,postqueer‘ ergeben könnte. Aber möglicherweise liegt gerade die antinormative Kraft von ,queer‘ darin, dass dieser Begriff schon selbst eine derartige Widersprüchlichkeit aushalten muss. ‚Es gibt die Kategorie Frauen‘ ist sicher keine Aussage, die wir als ,queer‘ bezeichnen würden. ‚Es gibt keine Kategorie Frauen‘ ist aber vielleicht auch selbst noch immer zu wenig ‚queer‘. Vielleicht hat Emily Rose (2021, 8) recht, wenn sie schreibt: „Gender is stable yet fluid, dichotomous yet multiple, conservative yet radical, and, because of these contradictions, is queer.“ Bibliographie Alpheratz (2018): Grammaire du français inclusif: littérature, philologie, linguistique, Châteauroux, Vent solars. Alpheratz (2012-2017): Accueil - Alpheratz, https: / / www.alpheratz.fr (07.07.2021). Altman, Dennis (2004): „Queer Centres and Peripheries“, in: Cultural Studies Review 10 (1), 119-128, https: / / doi.org/ 10.5130/ csr.v10i1.3545 (07.07.2021). Bengoechea Bartolomé, Mercedes (2015): Lengua y género, Madrid, Síntesis. 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Wittig, Monique (2001): La Pensée straight, Paris, Balland. 64 Martin Stegu Leitfäden zur sprachlichen Gleichbehandlung der Geschlechter Leitfäden für geschlechtergerechte Sprache im Verlauf der Zeit Tendenzen in den romanischen Sprachen Daniel Elmiger Résumé Le débat sur l’égalité des genres en matière de langue a lieu dans de nombreuses langues, y compris les langues romanes. Si un grand nombre de guides existent pour certaines langues (comme l’espagnol, le catalan et le valencien), il semble que ces textes soient relativement peu nombreux dans d’autres (comme l’italien). Cet article se base sur une collection de 1.654 guides portant sur plus de 40 langues, dont environ la moitié se réfère à une ou plusieurs langues romanes. Après une définition et une description du genre textuel des guides de langue non sexiste/ inclusive, la collection et les catégories utilisées dans celle-ci sont décrites plus en détail. En prenant pour exemple quatre langues romanes, il est montré ensuite combien de guides sont apparus au fil du temps et comment est désigné leur contenu. L’article se termine par quelques suggestions pour la valorisation future du matériel rendu accessible dans la collection du guide, qui n’a jusqu’à présent été analysé que par fragments. Abstract The discussion about nonsexist/ inclusive language is taking place in many languages, including Romance languages. While a large number of guides exist for some languages (such as Spanish, Catalan and Valencian), there seem to be relatively few for others (such as Italian). The basis for the article is a collection of 1.654 guides on over 40 languages, about half of which refer to one or more Romance languages. After a definition and a description of the genre of nonsexist/ inclusive language guides, the collection of guides and the categories used are 1 Der Autor dankt dem Lektürekomitee, aber auch Christine Ivanov und Jan Georg Schneider für die Hilfe beim Verfassen und bei der Überarbeitung dieses Beitrags. 2 Hinzu kommen Arbeiten zu verschiedenen Sprachräumen: für das Deutsche z. B. Pantli (1997) oder Hellinger (2004); für das Spanische z. B. Guerrero Salazar (2007) und Vázquez Hermosilla (2011); für das Französische und Italienische Elmiger/ Tunger/ Alghisi (2014) und für verschiedene europäische Sprachen Moser et al. (2011). described in more detail. On the basis of four Romance languages, it is shown how many guides have appeared over the years and what designations have been chosen for their content. The article ends with some hints for the future exploitation of the material made accessible in the guide collection, which has so far only been analyzed in fragments. Keywords: geschlechtergerechte Sprache, inklusive Sprache, Leitfäden, Sammlung, romanische Sprachen 1 Einleitung Seit Ende der 1970er-Jahre hat die Frage, welche Auswirkung der Gebrauch einer geschlechtergerecht(er)en Sprache auf die Gleichstellung der Geschlechter haben kann (bzw. sollte), in vielen Sprachen zu teilweise heftigen Ausein‐ andersetzungen geführt (cf. Lobin 2021 über ‚Sprachkämpfe‘ im deutschspra‐ chigen Raum). 1 Neben der Forschung, die auf wissenschaftlicher Ebene geführt worden ist (cf. Kotthoff/ Nübling 2018 für einen Überblick), sowie verschiedenen rechtlichen und gesetzlichen Grundlagen und Empfehlungen zur Umsetzung geschlechtergerechter Sprache (cf. Elmiger/ Tunger/ Schaeffer-Lacroix 2017 für die Schweiz) hat eine Textsorte wesentlich zur Vermittlung des Themas für breitere Anwendungskreise geführt: die sogenannten Leitfäden für geschlech‐ tergerechte/ inklusive Sprache (für andere Bezeichnungen cf. unten Abschnitt 3.2). In solchen Hilfsmitteln wird festgehalten, wie Sprache gebraucht werden kann, um Personen verschiedener Geschlechter sprachlich gerechter zu reprä‐ sentieren. Leitfäden für geschlechtergerechte/ inklusive Sprache waren in der Vergan‐ genheit schon mehrmals Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung (z. B. Nilsen 1987; Denmark et al. 1988; Schlichting 1997; Elmiger 2000; Hellinger 2004), 2 wobei einzelne Arbeiten spezifische Aspekte beleuchtet haben: Christen (2004) hat sich etwa mit der Terminologie auseinandergesetzt, die von Fachper‐ sonen, aber auch von Laiinnen und Laien, die sich mit Geschlechtergerechtigkeit befassen, gebraucht wird: In der Tat handelt es sich um ein Thema, mit dem sich Personen aus ganz unterschiedlichen Perspektiven auseinandersetzen. 68 Daniel Elmiger 3 Für Letzteres cf. den Leitfaden der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt (2014). In einem neueren Aufsatz über deutschsprachige Leitfäden zur sprachlichen Gleichbehandlung zeigt Wetschanow (2017, 34) auf, wie sich „parallel zum Prozess der Institutionalisierung der feministischen Sprachpolitik auch die Geschlechtertheorie weiterentwickelt hat“, diskutiert die Entstehungszusam‐ menhänge verschiedener österreichischer Leitfäden und geht dabei auch auf unterschiedliche Begriffe (wie gendergerecht, genderfair oder gendersensibel bis hin zu gender_diversitätssensibel) 3 ein, die für die Benennung der Inhalte von Leitfäden eine Rolle spielen und Hinweise auf veränderte Herangehens- und Denkweisen geben (cf. Wetschanow 2017, 40). Für die Bezeichnung der Leitfäden, um die es im vorliegenden Beitrag geht, habe ich die Attribute geschlechtergerecht und inklusiv gewählt, wobei auch eine ganze Reihe anderer Charakterisierungen zur Verfügung stünden. Während geschlechtergerecht im Deutschen ein häufig verwendetes Adjektiv darstellt, wird inklusiv (in verschiedenen Ausprägungen: im Spanischen etwa inclusivo und incluyente) gerade in neuerer Zeit in den romanischen Sprachen sowie im Englischen sehr oft verwendet. Bei beiden Attributen stehen zwei Lesarten im Vordergrund: Einerseits geht es - vor allem in Leitfäden der ersten Jahrzehnte - um den sprachlichen Einbezug von femininen Personenbezeichnungen und Satellitenformen mit dem Ziel, generisch gebrauchte Maskulina zu vermeiden. In dieser Verwendung wird geschlechtergerecht oft ähnlich verwendet wie nichtsexistisch, feminisiert u. a. Andererseits kann sich inklusiv entweder auch auf die Berücksichtigung von Menschen beziehen, die sich nicht in einer binären Geschlechterdifferenzierung verorten lassen (etwa Trans-Personen oder solche mit einer nichtbinären (z. B. fluiden) Identität), oder auf den Einbezug von Personen(gruppen), die nicht aufgrund ihrer Geschlechtsidentität, sondern aufgrund anderer Merkmale (sexuelle Orientierung, Herkunft, Religion, Ge‐ sundheitszustand usw.) diskriminiert werden können. Die beiden Gesichtspunkte kommen in manchen Leitfäden gemeinsam vor, etwa im Dokument Manual de lenguaje no sexista. Instrumento para un lenguaje inclusivo (Metrópolis 2021). In dessen Inhaltsverzeichnis (cf. Abb. 1) geht es im Kapitel 2.2 um geschlechtergerechten/ nichtsexistischen Sprachgebrauch und in den Kapiteln 3, 4 und 5 um die Kategorien ‚Sexuelle Identität und Orientierung‘, ‚Herkunft, Religion und Hautfarbe‘ sowie ‚Körperliche und geistige Beeinträch‐ tigungen‘. 69 Leitfäden für geschlechtergerechte Sprache im Verlauf der Zeit Abb. 1: Inhaltsverzeichnis des Leitfadens der Asociación Mundial de las Grandes Metró‐ polis (Metrópolis 2021, 3) Im Folgenden wird das Genre der Leitfäden für geschlechtergerechte/ inklusive Sprache definiert und eingehender beschrieben werden (cf. Abschnitt 2). Grund‐ lage dafür ist eine Sammlung von Leitfäden zu verschiedenen Sprachen, die 70 Daniel Elmiger 4 Der Text folgt den schweizerischen orthografischen Konventionen (Schreibung von ss anstatt ß). 5 Für diesen Beitrag habe ich mich teilweise auf Definitionen und Inhalte gestützt, die in Elmiger (2022) in französischer Sprache thematisiert worden sind (damaliger Stand der Sammlung: Herbst 2019). 6 In Einzelfällen sind auf Anfrage solche internen Leitfäden für den Forschungsgebrauch zur Verfügung gestellt worden, nachdem etwa in der Presse über sie berichtet worden war. Es ist nicht abzuschätzen, wie viele interne Leitfäden unveröffentlicht bleiben. anschliessend 4 (cf. Abschnitt 3) vorgestellt wird, wobei auch andere Gesichts‐ punkte von Leitfäden (namentlich diejenigen, die systematisch erfasst worden sind), genauer beschrieben werden. Im Weiteren (cf. Abschnitt 4) wird anhand von vier grossen romanischen Sprachen gezeigt, wie viele Leitfäden im Verlauf der Zeit erschienen sind und welche Bezeichnungen für deren Inhalt gewählt worden sind. Der Beitrag endet (cf. Abschnitt 5) mit einigen Hinweisen für die künftige Erschliessung des in der Leitfadensammlung zugänglich gemachten Materials, das bisher nur bruchstückhaft ausgewertet worden ist, sowie einem Fazit. 5 2 Leitfäden: Definition und typische Elemente Unter einem Leitfaden für geschlechtergerechte/ inklusive Sprache verstehe ich • ein publiziertes Dokument, • bei dem es (ausschliesslich oder neben anderen Themen) um die Repräsen‐ tation von Personen in der (meistens: geschriebenen) Sprache geht, • das eine (mehr oder weniger starke) normative Handlungsaufforderung enthält, nämlich diejenige, die Geschlechter im Sprachgebrauch ausgegli‐ chen(er) zu berücksichtigen, • und das die Mittel beschreibt, die dabei verwendet werden sollen: typi‐ scherweise eine Liste der Verfahren oder Hilfsmittel, die empfohlen bzw. vorgeschrieben sind oder die vermieden werden sollen. 2.1 Präzisierungen Leitfäden können für einen internen Gebrauch (z. B. innerhalb einer Behörde oder eines Betriebs) konzipiert sein - und stehen in diesem Fall der Forschung nicht ohne weiteres zur Verfügung. 6 In den meisten Fällen sind sie aber ver‐ öffentlicht und allgemein zugänglich. In den letzten Jahrzehnten erfolgt die Veröffentlichung meistens (auch) elektronisch, während ältere Exemplare nur in Papierform existieren - und nicht immer über Bibliotheken oder andere Dokumentationsstellen greifbar sind. Wenn Inhalte eines Leitfadens auch im 71 Leitfäden für geschlechtergerechte Sprache im Verlauf der Zeit 7 Nicht immer geht es um sprachliche Formen von Repräsentation; thematisiert werden auch grafische Formen (Bilder, Illustrationen, Piktogramme, Beschilderungen u. ä.). Internet veröffentlicht worden sind (z. B. auf einer HTML-Seite), dann wurde in der Sammlung die gelayoutete Fassung bevorzugt. Nicht berücksichtigt werden andere Realisierungsformen wie mündliche Hinweise zur geschlechter‐ gerechten/ inklusiven Sprache, elektronische Hilfsmittel für die Umsetzung oder unveröffentlichte Dokumente, Notizen u. ä. Das Kernthema für die vorliegende Sammlung bildet die sprachliche 7 Reprä‐ sentation von Menschen unterschiedlicher Geschlechter, wobei in den ersten Jahrzehnten vorwiegend von einer Geschlechtsbinarität ausgegangen wurde (Frauen/ Männer). Seit den 2010er-Jahren wird der Geschlechterbegriff zuneh‐ mend ausgeweitet, um auch nichtbinäre und transitorische Geschlechtsidenti‐ täten einzuschliessen. Je nach Ausrichtung eines Leitfadens können daneben auch andere Merkmale berücksichtigt werden, etwa das Alter der Personen, deren Herkunft, sexuelle Orientierung oder Gesundheit (cf. unten Abschnitt 3.3). In anderen Fällen bildet das Thema geschlechtergerechte/ inklusive Sprache nur einen Teilaspekt neben anderen Gesichtspunkten, die bei der Verfassung von Texten berücksichtig werden sollen (etwa in behördlichen Redaktionsleitfäden oder in Anleitungen für das Verfassen wissenschaftlicher Arbeiten). Da dies in den letzten Jahren sehr oft der Fall ist, habe ich mich dazu entschieden, nur solche Texte zu berücksichtigen, bei denen das Thema geschlechtergerechte/ in‐ klusive Sprache nicht nur peripher behandelt wird. Daneben gibt es mittlerweile auch eine reichhaltige Menge an Dokumenten, bei denen fallweise entschieden werden muss, ob das Kernthema (sprachliche Repräsentation der Geschlechter) genügend zentral behandelt wird oder nicht: Ausgeschlossen wurden etwa Leitfäden, in denen es eher um rechtliche oder soziale Fragen der Gleichstellung (etwa von Frauen oder Trans-Personen) geht, sowie solche, die lediglich aus einem Glossar bestehen oder die sich mit der Umsetzung von Gender Mainstreaming befassen. Die Handlungsaufforderung kann aus verschiedenen Perspektiven und mit unterschiedlicher Geltungskraft erfolgen. In behördlichen oder legislativen Leitfäden ist sie öfters explizit thematisiert (indem etwa festgehalten wird, für welche Personen und/ oder Texte ein Leitfaden gilt) als in solchen, die allgemein für eine breitere Öffentlichkeit bestimmt sind. In den meisten Fällen sprechen 72 Daniel Elmiger 8 Dass auch in Behörden, die sich auf Leitfäden mit klaren Vorgaben stützen, nur ein recht geringer Anteil der produzierten Texte konsistent auf die Einhaltung von Vorgaben von Leitfäden überprüft wird, wurde für die Schweizer Behördensprache gezeigt (cf. Elmiger/ Tunger/ Schaeffer-Lacroix 2017). Die Angst vor einer ,Sprachpolizei‘ scheint in vielen, wenn nicht den meisten Fällen eher unbegründet zu sein. Leitfäden eher Empfehlungen aus als (juristisch) verbindliche Vorgaben, die bei der Verfassung von Texten berücksichtigt werden müssen. 8 Als Leitfaden für geschlechtergerechte/ inklusive Sprache werden nur solche Dokumente berücksichtigt, die neben einer Handlungsaufforderung auch auf‐ zeigen, mit welchen Mitteln eine angemessenere Berücksichtigung der Ge‐ schlechter erreicht werden soll. Dies unterscheidet Leitfäden von rein direktiven Dokumenten, d. h. solchen, die eine Umsetzung lediglich einfordern, ohne zu zeigen, in welcher Form dies geschehen soll. 2.2 Allgemeine Merkmale Neben den definitorischen Eigenschaften, die prinzipiell für alle Exemplare verbindlich sind (wobei in Einzelfällen entschieden werden muss, ob wirklich alle Kriterien zutreffen), zeichnen sich Leitfäden für geschlechtergerechte/ in‐ klusive Sprache auch durch eine Reihe von Merkmalen aus, die nicht in jedem Einzelfall vorhanden sind. So enthalten (proto)typische Exemplare etwa folgende Elemente: • In einer Einleitung wird oft erläutert, welche Anliegen eine geschlechter‐ gerechte/ inklusive Sprache verfolgt und warum ein veränderter Sprachge‐ brauch angeregt bzw. gefordert wird. Meistens wird dabei auf die Bedeutung von Sprache für die mentale Repräsentation von Menschen unterschiedli‐ cher Geschlechter verwiesen, wobei ein starker Zusammenhang zwischen sprachlicher und mentaler Repräsentation postuliert wird, der bei der Herstellung von Gleichbehandlung aller Geschlechter behilflich sein soll. In der folgenden Abbildung aus einem Leitfaden der Mancomunidad de Municipios Valle del Guadiato (2007) wird der Zusammenhang zwischen sprachlicher Repräsentation, gedanklichem Einbezug und Realität grafisch und sprachlich kompakt zusammengefasst: 73 Leitfäden für geschlechtergerechte Sprache im Verlauf der Zeit 9 In manchen Leitfäden geht es auch um andere Formen der Repräsentation, etwa um bildliche Darstellungen (Fotos, Illustrationen usw.), auf die hier nicht näher einge‐ gangen wird. Abb. 2: Ausschnitt aus dem Leitfaden der Mancomunidad de Municipios Valle del Guadiato (2007, 4) • Im meist umfangreichsten zentralen Teil wird dargelegt, mit welchen sprachlichen Mitteln eine angemessenere sprachliche Repräsentation 9 der Geschlechter erreicht werden soll. Dabei wird oft anhand einer Reihe von (Makro- und Mikro-)Strategien aufgezeigt, welche Formen unterlassen und welche Formulierungen stattdessen bevorzugt gebraucht werden sollen. In dieser Form weisen sie Ähnlichkeiten mit anderen Sprachratgebern auf, die ebenfalls klar zwischen zu vermeidenden und zu gebrauchenden Formen unterscheiden. Ein Beispiel dafür gibt die folgende Abbildung (in der es um Kollektivbezeichnungen geht), bei der links zu vermeidende und rechts die jeweiligen Ersatzformen vermerkt sind: Abb. 3: Ausschnitt aus dem Leitfaden des Concello da Pobra do Caramiñal (2018, 15) 74 Daniel Elmiger 10 Manche frühen Leitfäden aus dem französischsprachigen Raum bestehen fast aus‐ schliesslich aus einem Glossar, etwa Bureau de l’égalité entre hommes et femmes (1990) oder Becquer et al. (1999). Andere Elemente sind weniger frequent und finden sich nur in einem Teil der Leitfäden, z. B. • Verweise auf die administrativen oder juristischen Rahmenbedingungen, die für einen Leitfaden verbindlich sind; • Argumentationshilfen für den Umgang mit Kritik an geschlechterge‐ rechter/ inklusiver Sprache; • Hinweise auf die morphologische Bildung von femininen bzw. maskulinen Personenbezeichnungen, wenn diese bislang noch nicht gebräuchlich sind; • Glossare, in denen Personenbezeichnungen in allen akzeptierten Formen aufgelistet sind; 10 • Textbeispiele, die zeigen, wie geschlechtergerechte/ inklusive Sprache für einen bestimmten Kontext konkret umgesetzt werden kann; • bibliografische Hinweise sowie Linklisten. 2.3 Abgrenzungsprobleme Aufgrund ihrer Vielfalt ist die Kategorie, Leitfäden für geschlechtergerechte/ in‐ klusive Sprache‘ in vielerlei Hinsicht schwer von anderen, teilweise verwandten Textsorten abzugrenzen: Als Gattung lässt sie sich wohl eher prototypisch als idealtypisch definieren, wobei sich an den Rändern mancherlei Abgrenzungs‐ fragen stellen. Einige davon sollen im Folgenden kurz erläutert werden (zu den verschiedenen Bezeichnungen in den Titeln cf. Abschnitt 3.2). Verwandte Textsorten Einige der zentralen Bestandteile von Leitfäden kommen auch in anderen Texten vor, die sich mit einer vergleichbaren Thematik befassen. Ob es sich um juristische Dokumente handelt (bei denen die Frage der Umsetzung weniger klar im Zentrum steht), um journalistische oder wissenschaftliche Texte (die weniger klare Handlungsaufforderungen enthalten) oder im Internet publizierte Webseiten, Blogs o. ä. (bei denen nicht immer klar ist, ob sie Inhalte aus anderen Quellen wiedergeben oder originär zusammenstellen): In vielen Fällen muss im Einzelfall entschieden werden, ob ein bestimmtes Dokument als Leitfaden angesehen werden kann oder nicht. 75 Leitfäden für geschlechtergerechte Sprache im Verlauf der Zeit 11 Cf. hierbei auch die beiden Werke von Larivière, die in der Bibliografie unter Fachlite‐ ratur aufgeführt sind: Pourquoi en finir avec la féminisation linguistique […] (Larivière 2000a) und Comment en finir avec la féminisation linguistique […] (Lavrière 2000b). Zentralität des Themas In der Mehrheit der Leitfäden steht das Thema des sprachlichen Umgangs mit Menschen im inhaltlichen Zentrum des Interesses, während es in manchen Dokumenten nur ein Thema neben anderen darstellt, etwa in allgemeinen Redaktionsleitfäden oder in Texten, in denen es um mehrere Formen von sprachlich vermittelter Diskriminierung geht. In solchen Fällen muss jeweils im Einzelfall entschieden werden, ob der Teil eines Leitfadens, in dem es um die Versprachlichung von Geschlecht geht, den oben genannten Kriterien genügt oder nicht. Einzeldokument und Teildokumente Die meisten Leitfäden enthalten alle zentralen und für die Textsorte definito‐ rischen Merkmale (namentlich die Erläuterungen, warum und wie Sprache geschlechtergerecht(er) gebraucht werden soll) 11 in einem einzelnen Doku‐ ment. Bisweilen werden diese beiden Gesichtspunkte in getrennten Veröffent‐ lichungen behandelt: Ordre des enseignantes et des enseignants de l’Ontario (2005): Féminisation des documents en français. Partie 1: Politique. Toronto, 24 p. / / Partie 2: Guide pratique. Toronto, 16 p. Ähnlich verhält es sich bei Leitfäden, in denen die ‚Bildsprache‘ (d. h. die Art und Weise, wie Menschen bildlich repräsentiert werden) entweder neben der sprachlichen Repräsentation im selben Leitfaden behandelt wird, wie etwa im folgenden Fall: Fachhochschule des BFI Wien/ University of Applied Science BFI Vienna (2011): Guidelines for Using Gender-neutral or Gender-mainstreamed Language and Images in English Texts, 2 p., oder in einem separaten Dokument, wie etwa in den beiden Leitfäden der Universidad Carlos III de Madrid: Universidad Carlos III de Madrid (2016a, b): Buenas prácticas para el tratamiento del lenguaje en igualdad/ / Buenas prácticas para el tratamiento de imágenes en igualdad. Im letzteren Fall wurde nur der erste Text als Leitfaden in die Sammlung aufgenommen. 76 Daniel Elmiger Formelle Vielfalt der Leitfäden Die Mehrheit der Leitfäden sind als gedruckte Dokumente (als Broschüre, Falt‐ blatt, Buch o. ä.) und/ oder in elektronischer Form (mehrheitlich als PDF-Datei) veröffentlicht worden; in manchen Fällen sind die Inhalte je nach Rezeptionsart formal unterschiedlich aufbereitet (etwa für die Bildschirm- oder Papierlektüre). Andere Leitfäden sind online erschienen, etwa in Form einer Webseite oder in einem Blogbeitrag (teilweise parallel zu einer anderen Publikationsform). Gerade bei Onlineformaten musste eine Auswahl unter den vielen Texten getroffen werden, die inhaltlich den Kriterien für einen Leitfaden nahestehen, ohne sämtlichen Kriterien gänzlich zu genügen. Auch beim Umfang der Leitfäden zeigen sich teilweise beträchtliche Unter‐ schiede: Während manche Exemplare alle wesentlichen Teile auf einer einzigen Seite zusammenfassen, sind andere viel umfangreicher und bringen es auf den Umfang eines ganzen Buches: Lessard, Michaël/ Zaccour, Suzanne (2018): Manuel de grammaire non sexiste et inclu‐ sive, Paris, Éditions Syllepse, 192 p. Office québécois de la langue française (2006): Avoir bon genre à l’écrit. Guide de rédaction épicène, rédaction/ auteures: Pierrette Vachon-L’Heureux et Louise Guénette, Québec, Office québécois de la langue française, 212 p. Mehrheitlich sind Leitfäden allerdings weit weniger umfangreich; ihre mittlere (Median-)Länge beträgt 12 Seiten. Behandelte Sprache(n) In der grossen Mehrheit beziehen sich Leitfäden für geschlechtergerechte/ in‐ klusive Sprache nur auf eine Sprache. In manchen geht es allerdings um mehr als eine, etwa in solchen, die aus zwei- oder mehrsprachigen Regionen stammen (z. B. aus Katalonien, Kanada oder der Schweiz), oder in solchen, die sich auf einen spezifischen Sprachgebrauch (z. B. Englisch als Wissenschaftssprache an einer deutschsprachigen Universität) beziehen. 3 Die Leitfadensammlung Die Grundlage für diesen Beitrag bildet eine Sammlung von Leitfäden für ge‐ schlechtergerechte/ inklusive Sprache (Elmiger 2021), die im Zusammenhang mit verschiedenen Forschungsarbeiten entstanden ist und stetig weiter ausgebaut wird (neben Internetrecherchen und der Auswertung von bibliografischen Datenbanken werden auch Hinweise auf neue Leitfäden in der Presse sowie über andere Kanäle 77 Leitfäden für geschlechtergerechte Sprache im Verlauf der Zeit 12 Da sich ein Leitfaden auf mehr als eine Sprache beziehen kann, übersteigt die Häufigkeit ihrer Thematisierung die Anzahl der Leitfäden). Dunkelbzw. hellgrau markiert sind die Sprachen, für die mehr als 100 bzw. 10 Leitfäden vorhanden sind. so komplett wie möglich ausgewertet). Sie umfasst derzeit (Stand: Ende April 2021) 1.654 Exemplare zu insgesamt über 40 Sprachen (cf. Tab. 1). romanische Sprachen germanische Sprachen slawische Sprachen weitere indo‐ europäische Sprachen nicht-indoeuropäische Sprachen Französisch (189) Afrikaans (1) Bulgarisch (2) Griechisch (2) Arabisch (3) Galicisch (26) Dänisch (2) Kroatisch (3) Irisch (2) Baskisch (12) Italienisch (57) Deutsch (656) Polnisch (2) Lettisch (2) Estnisch (2) Katalanisch (80) Englisch (177) Slowakisch (2) Litauisch (2) Finnisch (2) Portugiesisch (20) Niederländisch (3) Slowenisch (2) Maltesisch (2) Rätoromanisch (3) Norwegisch (1) Tschechisch (4) Türkisch (3) Rumänisch (3) Schwedisch (2) Ungarisch (2) Spanisch (424) div. afrikani‐ sche Sprachen (insgesamt 8) Valencianisch (39) Tab. 1: Sprachen, um die es in den Leitfäden geht 12 3.1 Eingeschränkte Repräsentativität der Sammlung Die Sammlung ist in mancher Hinsicht eingeschränkt. Zum einen wurden nur Exemplare berücksichtigt, die dem Autor zugänglich waren oder in der Fachlite‐ ratur komplett bibliografisch erwähnt worden sind. Für manche Empfehlungen aus der Frühzeit der Auseinandersetzung mit Sprache und Geschlecht war dies nicht der Fall. Zum anderen ist die Sammlung durch die Sprachkenntnisse des Verfassers eingeschränkt: Die romanischen und germanischen Sprachen sind in Bezug auf andere Sprachen und Sprachfamilien übervertreten. 78 Daniel Elmiger Einigermassen repräsentativ ist die Sammlung lediglich für die Schweiz (auf Ebene der Behörden), da im Rahmen verschiedener Forschungsarbeiten (Elmiger 2008 und Elmiger/ Tunger/ Schaeffer-Lacroix 2017) die kantonalen und Bundesbehörden gefragt wurden, welche Leitfäden unter ihrer Zuständigkeit entstanden sind. Für die deutschsprachigen Länder und den frankofonen Raum sind die wichtigsten Exemplare von Behörden, von Universitäten sowie Hoch‐ schulen wohl in der Sammlung erfasst worden; für andere Kontexte und Sprachgebiete ist die Erfassung relevanter Dokumente weniger vollständig. 3.2 Bezeichnung der Leitfäden Die Suche nach bisher noch nicht in der Sammlung aufgenommenen Leitfäden wird dadurch erschwert, dass die Bezeichnungen der Dokumente sehr unein‐ heitlich sind. In der folgenden Tabelle sind die häufigsten Bestandteile, die sich in den Titeln von Leitfäden finden, für die romanischen Sprachen zusammen‐ gefasst (sämtliche Angaben sind auf Französisch (übersetzt) wiedergegeben). Unterschieden wird dabei zwischen drei Elementen: Zum einen geht es um die Textsorte (in einem weiten Sinn), also zum Beispiel um einen Leitfaden (guide) oder ein Handbuch (manuel); zum anderen um ein Objekt (die Sprache, die Kommunikation, das Schreiben usw.), das zum Dritten meistens über ein Attribut (wie etwa inclusif/ inclusive) spezifiziert wird. Textsorte Objekt Attribut guide/ (it.) linee guida, etc. langue non sexiste, désexisé·e règles, règlement rédaction inclusif/ inclusive recommandations écriture épicène propositions formulation … de genre orientations usage égalitaire manuel communication féminin·e, féminisé·e directives, alternatives, solu‐ tions, vademecum, suggestions, instructions, indications, déca‐ logue, charte, avis, notification, rapport, décision, bonnes prati‐ ques, conseils, critères, fil rouge, etc. approche, traite‐ ment, égalité, pa‐ rité, etc. non discriminatoire, neutre, neutralisé·e, sensible (aux genres), sensitif/ sensitive, approprié·e, etc. Tab. 2: Elemente der Bestandteile von Bezeichnungen für Leitfäden 79 Leitfäden für geschlechtergerechte Sprache im Verlauf der Zeit 13 Dasselbe Problem stellt sich natürlich auch in anderen Sprachen, so etwa im Deutschen, wo z. B. eine Vielzahl von Adjektiven verwendet werden: gendergerecht, -sensibel, geschlechtsbzw. geschlechtergerecht, -bewusst, -neutral, -bezogen; diversitätsgerecht, diskriminierungsarm, -frei, -sensibel, antidiskriminierend, fair, inklusiv, vielfaltssensibel usw. (cf. Ivanov/ Lieboldt, eingereicht). Bei der Bezeichnung der Textsorte zeigt sich, dass die meisten Dokumente eher Empfehlungen oder Vorschläge geben als verbindliche Vorgaben. Die meistver‐ wendete Bezeichnung Leitfaden (guide, guía usw.) ist ebenfalls ein Hinweis darauf, dass ein veränderter Sprachgebrauch eher beispielgebend angeregt als präskriptiv durchgesetzt werden kann. In anderen Bezeichnungen werden Bezüge zu schulischen (manuel), juristischen (directives, règlement) oder reli‐ giösen (décalogue) Genres gewählt. Beim Objekt geht es allgemein um Sprache oder einen Aspekt der Sprachverwendung: etwa das Verfassen/ Formulieren von Texten, schriftliche oder mündliche Kommunikation - oder um das Ziel, das über einen veränderten Sprachgebrauch erreicht werden soll, nämlich Gleichbehandlung oder Gleichstellung. Bei den Attributen schliesslich geht es teils um einen nicht befriedigenden Sprachgebrauch, der geschlechtergerechter (non sexiste, non discriminatoire oder égalitaire) verwendet werden sollte; teils um eine als zu maskulinlastig erachtete Sprache, die feminisiert (féminisé·e) oder neutralisiert (neutralisé·e, épicène) oder für andere Personen(gruppen) erschlossen werden sollte (inclusif/ inclusive). In manchen Kontexten (etwa in Leitfäden für das Italienische) kommen auch Bezeichnungen wie (linguaggio/ ap‐ proccio) di genere vor, wobei nicht immer klar ist, ob sich das in den romanischen Sprachen polyseme genere (frz. genre etc.) auf die sprachliche Kategorie des Genus oder die soziale Gender-Kategorie bezieht. Die Vielfalt der möglichen Bezeichnungen wirkt sich auch auf die Mög‐ lichkeiten aus, neu erschienene, aber auch ältere, bisher noch nicht erfasste Leitfäden für die Sammlung zu finden: Nur schon für jede einzelne romanische Sprache 13 ergibt sich eine Vielzahl möglicher Bezeichnungskombinationen, die nicht alle in bibliografischen Datenbanken oder per Webrecherche gesucht werden können. Wenn nur häufige Kombinationen (wie derzeit etwa guide + écriture + inclusive) eingegeben werden, dann besteht die Gefahr, dass Doku‐ mente, die andere Bezeichnungen gewählt haben, nicht aufgefunden werden. 3.3 Rubriken der Sammlung Für jeden Leitfaden sind die folgenden Informationen so komplett wie möglich erfasst worden. Bei fehlenden oder lückenhaften Angaben wurde versucht, die Informationen zu rekonstruieren (per Literaturrecherche oder Kontaktierung der Stelle, die den Leitfaden herausgegeben hat). 80 Daniel Elmiger 14 In solchen Fällen wird eine vermutete Jahreszahl (die etwa dem Erstellungsdatum einer Datei entspricht) mit einem Fragezeichen versehen, z. B. ,2021 (? )‘. Information Beispiel bibliografische Angaben (inkl. An‐ zahl Seiten) Université de Lausanne (2015): Guide de rédaction épicène du CHUV et de la FBM. Lausanne, Univer‐ sité de Lausanne/ CHUV, 8 p. Sprache(n), in der/ denen der Leit‐ faden verfasst wurde français Sprache(n), um die es im Leitfaden geht français Herkunft des Leitfadens (Land oder internationale Institution/ Re‐ gion, Kanton, Bundesland/ Stadt) Suisse canton de Vaud Lausanne Kontext Politik/ Behörden/ Recht Eigenbezeichnung der Textsorte guide Eigenbezeichnung der Thematik rédaction épicène behandelte Themen langage (non sexiste/ inclusif) Dokumententyp guide behandelte (Meta-)Strategien, die empfohlen werden (oder von denen abgeraten wird) doubles formes en entier; doubles formes ab‐ régées (trait d’union, point médian), … Stand der Bearbeitung fiche remplie; document électronique à disposition: 2015_epi‐ cene_electronique.pdf Tab. 3: Informationen, die pro Leitfaden erhoben worden sind Nachfolgend einige Hinweise auf die Art und Weise, wie die einzelnen Infor‐ mationen festgehalten werden: Bibliografische Angaben: Die Leitfäden werden nach gängigen bibliografi‐ schen Gepflogenheiten beschrieben, wobei nicht in allen Fällen sämtliche Informationen vorhanden sind: Oft fehlen etwa Jahreszahlen 14 oder Hinweise auf die genaue Herausgeberschaft. In vielen Fällen stellt sich die Frage, ob Neuauflagen eines Leitfadens als mehrfache einzelne Einträge erfasst oder Hinweise darauf bei der Erstauf‐ lage vermerkt werden sollen. Grundsätzlich werden unveränderte oder nur im Detail modifizierte Neuauflagen in einem gemeinsamen Eintrag mit der 81 Leitfäden für geschlechtergerechte Sprache im Verlauf der Zeit Erstauflage festgehalten; bei grösseren Änderungen werden jeweils separate Einträge erstellt. Dies gilt auch für inhaltlich identische Leitfäden, die unter der Herausgeberschaft verschiedener Stellen veröffentlicht worden sind (z. B. der Leitfaden Guia per a usar un llenguatge igualitari en l’Administració local, der von mindestens einem Dutzend valencianischer Gemeinden herausgegeben worden ist, z. B. vom Ajuntament de Silla 2018). Sprache(n), in der/ denen der Leitfaden verfasst wurde bzw. um die es im Leitfaden geht: In beiden Rubriken kann mehr als eine Sprache vermerkt werden, wenn es beispielsweise um ein Dokument geht, das Hinweise zu zwei oder mehreren Sprachen enthält (z. B. Spanisch und Baskisch im Baskenland). Herkunft des Leitfadens (Land oder internationale Institution/ Region, Kanton, Bundesland/ Stadt): Hinweise über die Verortung von Leitfäden werden in drei Feldern festgehalten, soweit sie bekannt sind und für deren Geltungsbereich von Bedeutung sind. Wenn sich ein Leitfaden nicht auf ein Land beziehen lässt, wird dies für (internationale) Dokumente, die sich auf einen ganzen Sprachraum beziehen, als allgemeiner Hinweis (z. B. ,francophonie‘) festgehalten; bei der Rubrik ,Region‘ wird je nach staatlicher Organisation eine Information (Bun‐ desland, Bundesstaat o. ä.) oder mehrere relevante Informationen festgehalten (z. B. in Spanien: Autonome Gemeinschaft/ Provinz). Nach Möglichkeit wird im Feld ,Stadt‘ nur ein Ort angegeben; in einigen Fällen sind auch zwei oder mehrere Orte vermerkt. Kontext: In den meisten Fällen lässt sich ein Leitfaden einer der folgenden Kategorien, die heuristisch erhobenen Kategorien entsprechen, zuordnen: 1 Pol_Admin_Jus Politik, Behörden, Justiz usw. 2 International internationale Organisationen (EU, Unesco, UNO usw.) 3 Religion Kirchen, religiöse Gemeinschaften usw. 4 Assoc_Firm Betriebe, Vereine, Verbände usw. 5 Univ Universitäten, Hochschulen usw. 6 Journal Journalismus 7 Edit Verlage, Redaktionen (bspw. von Zeitschriften) usw. 8 Ling Personen/ Verbände usw. aus dem Bereich der Sprachwissen‐ schaft 9 Priv Einzelpersonen oder Personengruppen ohne bestimmte Zu‐ gehörigkeit Tab. 4: Kategorien, die für den Vermerk ,Kontext‘ vorgesehen sind 82 Daniel Elmiger Die Kategorien sind nicht trennscharf, auch wenn sie sich für die Mehrheit der Leitfäden als durchaus nützlich erweisen. In Zweifelsfällen (z. B. bei Leitfäden, die von unterschiedlichen Institutionen herausgegeben worden sind, bei Insti‐ tuten, die sowohl politisch als auch universitär verortet sind, oder bei Parteien, die zugleich als politische als auch als Verbands-Entitäten angesehen werden können) wurde mehr als eine Kategorie ausgewählt. Eigenbezeichnung der Textsorte sowie Eigenbezeichnung der Thematik: In diesen beiden Rubriken wird - jeweils in der Originalsprache - festgehalten, wie die ,Textsorte‘ (z. B. Leitfaden, Empfehlungen, Richtlinien usw.) sowie der Gegenstandsbereich des Leitfadens (cf. zu beiden Punkten Abschnitt 3.2 weiter oben) bezeichnet wird, entweder im Titel der Publikation oder in einem ent‐ sprechenden Zwischentitel. Behandelte Themen: In dieser Rubrik wird vermerkt, welche Themenbereiche in einem Leitfaden behandelt werden. Allgemein muss hier festgehalten werden, dass die jeweilige Verschlagwortung nicht in jedem Fall gleich sorgfältig vor‐ genommen werden kann. Gerade bei umfangreicheren Dokumenten kann sie nur aufgrund von Hinweisen wie Inhaltsverzeichnissen oder Zwischentiteln erfolgen. Vorgesehen sind die folgenden Bereiche: • Sprache: Dieser für die Textsorte Leitfaden für geschlechtergerechte/ inklusive Sprache konstitutive Bereich ist für sämtliche in der Sammlung festgehal‐ tenen Dokumente vermerkt. • Alter: Hier geht es um Leitfäden, die sich mit dem Thema der (sprachlichen) Diskriminierung von Menschen aufgrund ihres Alters befassen. • Geschlecht/ Geschlechtsidentität: Bei diesem Thema geht es um die Ver‐ sprachlichung von (zugeschriebenem oder selbstgewähltem) Geschlecht und individuellen Identitäten, wobei es im Besonderen um Trans- oder um nichtbinäre Identitäten geht. • Sexuelle Orientierung: Zentral für diesen Bereich sind Themen wie Ho‐ mosexualität, Bisexualität, Pansexualität sowie andere Kategorisierungen von Personen(gruppen), die unter Kürzeln wie LGBTIQ zusammengefasst werden. • (Ethnische oder geografische) Herkunft: Dieser Punkt betrifft Dokumente, die sich mit dem Umgang mit Personen, die aufgrund ihrer (tatsächlichen oder vermuteten) Herkunft oder ihres Aussehens sprachlich diskriminiert oder rassistisch behandelt werden, befassen. • Religion und Politik: Zusammengefasst werden hier Merkmale, die Personen aufgrund ihrer religiösen oder politischen Ansichten oder Überzeugungen betreffen. 83 Leitfäden für geschlechtergerechte Sprache im Verlauf der Zeit • Behinderungen, Gesundheit, Schwangerschaft: In manchen Leitfäden geht es um Sprache in Bezug auf Menschen, die aufgrund ihrer körperlichen oder kognitiven Verfassung Diskriminierungen ausgesetzt sind. • Familiäre Situation, Wohnbzw. Aufenthaltsort: Bei diesem Bereich geht es um die Benennung von Personen, deren (familiäre) Lebens- oder Wohnsi‐ tuation Anlass zu Ungleichbehandlung geben kann. • Aussehen, Erscheinungsbild: Hier geht es um die Benennung von Menschen, deren Aussehen oder äussere Erscheinung in der Sprache zu Diskriminie‐ rung führen kann (z. B. Grossophobie, Bevorzugung von als attraktiv wahrgenommenen Menschen). In derselben Rubrik werden auch die folgenden Punkte festgehalten, die sich nicht auf mögliche Diskriminierungen beziehen, sondern auf spezifische allge‐ meine Gesichtspunkte von Leitfäden: • Wortschatz: Während in den meisten Leitfäden der Gebrauch von Personen‐ bezeichnungen (bzw. von Satellitenformen wie Pronomen, Adjektiven usw.) im Vordergrund steht, befassen sich manche Leitfäden ausschliesslich oder teilweise mit lexikalischen Fragen bezüglich der (Bildung von) Personenbe‐ zeichnungen. Dieser Bereich wird vermerkt, wenn ein Leitfaden zu einem wesentlichen Teil aus (Listen von) Personenbezeichnungen besteht oder solche enthält. • Textsorten: Dieser Vermerk wird für Leitfäden gewählt, die sich mit der Verwendung von Personenbezeichnungen in spezifischen Textsorten (z. B. Formularen, Gesetzen, Stellenausschreibungen) befassen und dazu Hin‐ weise oder Beispiele liefern. • Verständlichkeit: Neben geschlechtergerechter Sprache steht in neueren Leitfäden bisweilen auch das Thema Verständlichkeit von Texten (etwa unter der Bezeichnung ‚leichte/ einfache Sprache‘) im Zentrum des Inter‐ esses. • Bildliche Darstellungen: Dieser Punkt betrifft Leitfäden, die sich neben der sprachlichen Darstellung von Menschen auch mit deren bildlicher Darstellung (Fotos, Illustrationen usw.) auseinandersetzen. Dokumententyp: In dieser Rubrik wird vermerkt, zu welchem der folgenden Typen ein Dokument gehört. Auch hier handelt es sich um eine heuristische Unterteilung in Kategorien, die recht grob gehalten sind und deren Unterschei‐ dung nicht immer trennscharf erfolgt. 84 Daniel Elmiger 15 Neben der Anzahl der Leitfäden selbst ist auch die Art und Weise, wie bestimmte (Meta-)Strategien dargestellt und evaluiert (z. B. empfohlen) werden, höchst unter‐ schiedlich. Insbesondere gilt das etwa für Zeichen, die in abgekürzten Schreibweisen verwendet werden (z. B. Schüler*innen, Schüler: innen usw., die als „sozialsemioti‐ sche, indexikalische Zeichen“ (Schneider 2022) verschiedene Konnotationen vermitteln können (cf. hierzu auch Kotthoff 2020). Zur Verfügung stehen folgende Kategorien: • Leitfaden: Die meisten in der Leitfadensammlung festgehaltenen Doku‐ mente lassen sich als Leitfaden im engeren Sinne (cf. Abschnitt 2) be‐ schreiben, deren Funktion weitgehend erklärend oder illustrierend ist. • Gesetz, Verordnung usw.: In manchen Fällen sind die wichtigsten Merkmale eines Leitfadens in Form eines Gesetzes oder einer Verordnung festgehalten, das über eine hohe juristische Wirkungskraft verfügt. • Weisung, Direktive usw.: In anderen Fällen geht es um Dokumente aus einem politischen Umfeld, deren juristische Wirkungskraft als geringer einzuschätzen ist. • Parlamentarische Eingabe: Hier geht es um Texte, die Gegenstand einer par‐ lamentarischen Eingabe (Postulat, Interpellation, Gesetzesvorschlag usw.) sind und die nicht unbedingt umgesetzt werden bzw. in Kraft treten. • Bericht: Manche Dokumente sind weniger als Handlungsaufforderung, sondern eher als Beschreibung möglicher Lösungswege konzipiert, wie sie für (politische) Entscheidungsträger aufgezeigt werden. Solche Exemplare werden als Bericht verschlagwortet. • Sekundärliteratur: Diese Rubrik betrifft nicht Leitfäden im eigentlichen Sinn (und ist für die Sammlung daher nicht relevant), sondern mehrheitlich wissenschaftliche Arbeiten, die sich mit dem Thema Leitfäden befassen. Behandelte (Meta-)Strategien, die empfohlen werden (oder von denen abgeraten wird): Diese inhaltlich zentrale Rubrik ist bislang nur für einen kleinen Teil der Leitfäden, die in die Sammlung aufgenommen worden sind, ausgefüllt worden: Idealerweise würden hier nicht nur die allgemeinen Metastrategien (z. B. Sichtbarmachen von femininen Formen; Neutralisierung usw.), sondern auch alle einzelnen Mikrostrategien (z. B. Abkürzungszeichen oder sonstige Symbole für die Markierung von Nicht-Binarität) vermerkt, die in einem Leitfaden empfohlen werden oder von denen abgeraten wird. Diese Verschlagwortung er‐ fordert jedoch, dass die einzelnen Dokumente inhaltlich detailliert ausgewertet werden, was den Rahmen der bislang möglichen Dokumentationstätigkeit bei weitem sprengt. Sie bleibt folglich ein Forschungsdesiderat. 15 85 Leitfäden für geschlechtergerechte Sprache im Verlauf der Zeit 16 Drei katalanisch/ valencianische, darunter der von zwei Jugendorganisationen heraus‐ gegebene katalanisch-valencianische Leitfaden (Consell de la Joventut de Barcelona CJB/ Consell Joventut de València 2006), wurden nur einmal gezählt. Stand der Bearbeitung: In diesem internen Feld wird unter anderem fest‐ gehalten, wie vollständig die Bearbeitung eines Datensatzes ist, und ob ein Exemplar eines Leitfadens (in elektronischer oder Papierform) vorliegt. Da‐ neben werden auch (v. a. für im Internet publizierte Dokumente) Hinweise zu elektronisch verfügbaren Dateien (URL und Dateiname) festgehalten. 4 Leitfäden in den romanischen Sprachen: chronologische Verteilung und Benennung des Gegenstandes Im Folgenden geht es um zwei Auswertungen für die Leitfäden aus vier romanischen Sprachen(paaren), aus denen jeweils mehr als 50 Exemplare in der Sammlung vorhanden sind: Zum einen soll gezeigt werden, in welcher Zeit die Dokumente veröffentlicht worden sind, und zum anderen, wie der Gegenstand, um den es im Leitfaden geht, im Titel des Dokuments benannt wird. Ausgewertet wurden die Leitfäden der folgenden Sprachen, wobei die beiden recht eng verwandten Sprachen Katalanisch und Valencianisch zu einer Gruppe zusammengefasst worden sind: • Spanisch: 424 Leitfäden (davon 2 ohne Datumsangabe) • Französisch: 189 Leitfäden (davon 1 ohne Datumsangabe) • Katalanisch und/ oder Valencianisch: 16 116 (davon 2 ohne Datumsangabe) • Italienisch: 57 Bei unsicheren Jahresangaben wurde die vermutete Angabe (die oft dem Erstellungsjahr der PDF-Datei entspricht) gewählt. 4.1 Chronologische Verteilung Für die erste Auswertung wurden die datierten Exemplare aus den vier Sprachregionen nach Halbdekaden zusammengestellt, um aufzuzeigen, wie sich die ,Leitfadenproduktion‘ im Verlauf der Zeit entwickelt hat. In einer ersten Grafik werden die Zahlen aus allen vier Sprachen(paaren) zusammengestellt. Es zeigt sich, dass die Anzahl der Leitfäden in den letzten Jahren überall stark zugenommen hat, die jeweilige Verteilung nach Sprache recht unterschiedlich ist. Hier wie auch im weiteren Verlauf gilt: Sämtliche quantitativen Angaben zeigen lediglich Tendenzen auf, die aufgrund der Beschränkung der Leitfaden‐ sammlung nicht verallgemeinert werden dürfen. 86 Daniel Elmiger 0 50 100 150 200 250 1980-1985 1986-1990 1991-1995 1996-2000 2001-2005 2006-2010 2011-2015 2016-2020 2021 Französisch Spanisch Katalanisch/ Valencianisch Italienisch Grafik 1: Anzahl Leitfäden in vier romanischen Sprachen(paaren) zwischen 1985 und 2021 (N=782) Französisch Grafik 1: Anzahl Leitfäden in vier romanischen Sprachen(paaren) zwischen 1985 und 2021 (N=782) Französisch Grafik 2: Anzahl Leitfäden Französisch zwischen 1985 und 2021 (N=188) Für das Französische gibt es seit 1985 Leitfäden in der Sammlung. Bis Ende der 1990er-Jahre stammen diese zur grossen Mehrheit aus Kanada (und dort vor allem aus der Provinz Québec); vertreten sind aber auch Belgien, die Schweiz und internationale Organisationen wie der Europarat, die Unesco oder Amnesty International. Aus Frankreich stammen der Erlass zur Feminisierung von Personenbezeichnungen aus dem Jahr 1986 (Journal officiel 1986) sowie 0 50 100 150 200 250 1980-1985 1986-1990 1991-1995 1996-2000 2001-2005 2006-2010 2011-2015 2016-2020 2021 Französisch Spanisch Katalanisch/ Valencianisch Italienisch 0 10 20 30 40 50 60 70 80 1980-1985 1986-1990 1991-1995 1996-2000 2001-2005 2006-2010 2011-2015 2016-2020 2021 Grafik 2: Anzahl Leitfäden Französisch zwischen 1985 und 2021 (N=188) Für das Französische gibt es seit 1985 Leitfäden in der Sammlung. Bis Ende der 1990er- Jahre stammen diese zur grossen Mehrheit aus Kanada (und dort vor allem aus der Provinz Québec); vertreten sind aber auch Belgien, die Schweiz und internationale Organisationen wie der Europarat, die Unesco oder Amnesty International. Aus Frankreich stammen der Erlass zur Feminisierung von Personenbezeichnungen aus 87 Leitfäden für geschlechtergerechte Sprache im Verlauf der Zeit 17 In der Frage der geschlechtergerechten/ inklusiven Sprachverwendung scheinen die franko‐ fonen Länder und Regionen des sogenannten Nordens weitgehend meinungsführend zu sein, obwohl sie nur einen Teil der tatsächlichen französischsprachigen Welt umfassen. Aus anderen Teilen der Welt - namentlich aus Afrika, wo mehr Französischsprachige leben als in Europa und Nordamerika zusammen - sind uns keine Leitfäden bekannt. 18 Für die diachrone Verteilung der frankofonen Leitfäden auf die verschiedenen Länder und Regionen (Stand: 2019) cf. Elmiger (2022). dem Jahr 1986 (Journal officiel 1986) sowie die Broschüre von Becquer et al. (1999). Erst nach der Jahrtausendwende sind die verschiedenen Regionen der Frankofonie (des Nordens) 17 gleichmässiger vertreten. 18 Die Bedeutung von Frankreich als traditionellem Zentrum der Frankofonie, wo die Debatte um geschlechtergerechte/ inklusive Sprache 2017 neu entfacht ist (cf. z. B. Viennot 2019; Manesse/ Siouffi 2019; Gygax/ Zufferey/ Gabriel 2021), hat wohl auch in der hohen Anzahl der Leitfäden, die seither erschienen sind, einen Nachhall gefunden (rund ein Drittel, nämlich 62 von insgesamt 188 Dokumenten, sind seit 2018 in Frankreich veröffentlicht worden). Spanisch die Broschüre von Becker et al. (1999). Erst nach der Jahrtausendwende sind die verschiedenen Regionen der Frankofonie (des Nordens 14 ) gleichmässiger vertreten 15 . Die Bedeutung von Frankreich als traditionellem Zentrum der Frankofonie, wo die Debatte um geschlechtergerechte / inklusive Sprache 2017 neu entfacht ist (vgl. z. B. Viennot 2019, Manesse/ Siouffi 2019, Gygax/ Zufferey/ Gabriel 2021), hat wohl auch in der hohen Anzahl der Leitfäden, die seither erschienen sind, einen Nachhall gefunden (rund ein Drittel, nämlich 62 von insgesamt 185 Dokumenten, sind seit 2018 veröffentlicht worden). Spanisch Grafik 3: Anzahl Leitfäden Spanisch zwischen 1987 und 2021 (N=422) Für das Spanische sind sämtliche Leitfäden aus verschiedenen spanischsprachigen Ländern oder Regionen (sowie ein paar internationale Dokumente) zusammengefasst worden. Angesichts der grossen Bandbreite von (politischen und anderen) Institutionen, Bezeichnungen der Textsorte und des behandelten Gegenstands, die für das Spanische regional möglicherweise stärker variieren als in anderen Sprachen, kann nicht eruiert werden, ob sämtliche Länder und Regionen gleich gut abgedeckt sind 16 . Insgesamt bilden die Leitfäden zum Spanischen mit 424 Exemplaren jedenfalls die grösste Gruppe aus den romanischen Sprachen; in der Sammlung ist sonst nur das Deutsche mit 656 Leitfäden noch stärker vertreten. Bis zum Jahr 2000 sind für das Spanische nur insgesamt 9 Leitfäden eruiert worden; anschliessend steigt die Anzahl steil an und erreicht für die zweite Hälfte der 2010er-Jahre 14 In der Frage der geschlechtergerechten / inklusiven Sprachverwendung scheinen die frankofonen Länder und Regionen des sogenannten Nordens weitgehend meinungsführend zu sein, obwohl sie nur einen Teil der tatsächlichen französischsprachigen Welt umfassen. Aus anderen Teilen der Welt - namentlich aus Afrika, wo mehr Französischsprachige leben als in Europa und Nordamerika zusammen - sind uns keine Leitfäden bekannt. 15 Für die diachrone Verteilung der frankofonen Leitfäden auf die verschiedenen Länder und Regionen (Stand: 2019) vgl. Elmiger (im Erscheinen). 16 Am häufigsten vertreten ist Spanien mit 250 Leitfäden, gefolgt von Mexiko mit 70, Argentinien mit 19 und Chile mit 18. 0 50 100 150 200 250 1980-1985 1986-1990 1991-1995 1996-2000 2001-2005 2006-2010 2011-2015 2016-2020 2021 Grafik 3: Anzahl Leitfäden Spanisch zwischen 1987 und 2021 (N=422) Für das Spanische sind sämtliche Leitfäden aus verschiedenen spanischspra‐ chigen Ländern oder Regionen (sowie ein paar internationale Dokumente) zusammengefasst worden. Angesichts der grossen Bandbreite von (politischen und anderen) Institutionen, Bezeichnungen der Textsorte und des behandelten Gegenstands, die für das Spanische regional möglicherweise stärker variieren 88 Daniel Elmiger 19 Am häufigsten vertreten ist Spanien mit 250 Leitfäden, gefolgt von Mexiko mit 70, Argentinien mit 19 und Chile mit 18. als in anderen Sprachen, kann nicht eruiert werden, ob sämtliche Länder und Regionen gleich gut abgedeckt sind: 19 Insgesamt bilden die Leitfäden zum Spanischen mit 424 Exemplaren (darunter zwei undatierte) jedenfalls die grösste Gruppe aus den romanischen Sprachen; in der Sammlung ist sonst nur das Deutsche mit 656 Leitfäden noch stärker vertreten. Bis zum Jahr 2000 sind für das Spanische nur insgesamt 9 Leitfäden eruiert worden; anschliessend steigt die Anzahl steil an und erreicht für die zweite Hälfte der 2010er-Jahre einen Höchststand mit über 200 Exemplaren. Gründe dafür sind wohl einerseits allgemein eine stärkere öffentliche und institutionelle Auseinander‐ setzung mit geschlechtergerechter/ inklusiver Sprache, andererseits möglicherweise auch rechtliche Vorgaben für politische Administrationen, welche die hohe Anzahl an regionalen bzw. kommunalen Leitfäden erklären würden. Katalanisch und Valencianisch einen Höchststand mit über 200 Exemplaren. Gründe dafür sind wohl einerseits allgemein eine stärkere öffentliche und institutionelle Auseinandersetzung mit geschlechtergerechter / inklusiver Sprache, andererseits möglicherweise auch rechtliche Vorgaben für politische Administrationen, welche die hohe Anzahl von regionalen bzw. kommunalen Leitfäden erklären würden. Katalanisch und Valencianisch Grafik 4: Anzahl Leitfäden Katalanisch und/ oder Valencianisch zwischen 1987 und 2021 (N=115) In den beiden Regionalsprachen Katalanisch und Valencianisch gibt es in der Sammlung vor dem Jahr 2000 nur vereinzelte Leitfäden. Erst ab der zweiten Hälfte der 2000er-Jahre treten sie gehäuft auf: Aus dem ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts stammen 46 Exemplare und aus dem zweiten Jahrzehnt 62 Exemplare aus dem katalanisch-valencianischen Spachraum (im Vergleich dazu für das Spanische: 105 und 299). Angesichts der Tatsache, dass es sich dabei weitgehend um Regionalsprachen handelt, die sich auf bestimmte Regionen Spaniens beziehen, scheint deren Bedeutung im Vergleich zu den spanischen Leitfäden, die aus dem gesamten spanischsprachigen Raum stammen, deutlich überdurchschnittlich zu sein. Italienisch 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 1980-1985 1986-1990 1991-1995 1996-2000 2001-2005 2006-2010 2011-2015 2016-2020 2021 Grafik 4: Anzahl Leitfäden Katalanisch und/ oder Valencianisch zwischen 1987 und 2021 (N=114) In den beiden Sprachen Katalanisch und Valencianisch gibt es in der Sammlung vor dem Jahr 2000 nur vereinzelte Leitfäden. Erst ab der zweiten Hälfte der 89 Leitfäden für geschlechtergerechte Sprache im Verlauf der Zeit 2000er-Jahre treten sie gehäuft auf: Aus dem ersten Jahrzehnt des neuen Jahr‐ hunderts stammen 46 Exemplare und aus dem zweiten Jahrzehnt 62 Exemplare aus dem katalanisch-valencianischen Spachraum (im Vergleich dazu für das Spanische: 105 und 299). Angesichts der Tatsache, dass es sich dabei um Regionalsprachen mit eingeschränktem Geltungsbereich handelt, die sich auf bestimmte Regionen Spaniens beziehen, scheint deren Bedeutung im Vergleich zu den spanischen Leitfäden, die aus dem gesamten spanischsprachigen Raum stammen, deutlich überdurchschnittlich zu sein. Italienisch 0 5 10 15 20 25 30 1980-1985 1986-1990 1991-1995 1996-2000 2001-2005 2006-2010 2011-2015 2016-2020 2021 Grafik 5: Anzahl Leitfäden Italienisch zwischen 1987 und 2020 (N=57) Beim Italienischen fällt zunächst auf, dass es im Vergleich zu anderen romanischen Sprachen viel weniger Leitfäden gibt: In der Sammlung sind insgesamt 57 Exemplare verzeichnet - für das Katalanische und Valencianische jedoch 116 Leitfäden. Nach einem frühen, später oft zitierten Text von Sabatini (1987), der den Grundstein für viele weitere theoretische und praktische Arbeiten zur geschlechtergerechten/ inklusiven Sprache im Italienischen gelegt hat, beziehen sich die folgenden Leitfäden mehrheitlich nicht auf Italien selbst, sondern auf das Italienische als schweizerische Landesbzw. Amtssprache (auf nationaler und auf regionaler Ebene im Kanton Tessin) oder als Regionalsprache in Südtirol/ Alto Adige. Erst ab 2010 sind bedeutend mehr Leitfäden aus Italien vertreten, wobei es insgesamt relativ wenige sind: Gegenwärtig bilden etwa Leitfäden aus Städten oder Universitäten und Hochschulen eher die Ausnahme als die Regel. 90 Daniel Elmiger 4.2 Attribuierung des Gegenstandes Wie schon gezeigt (cf. Abschnitt 3.2), zeichnen sich die Leitfäden für geschlech‐ tergerechte/ inklusive Sprache durch eine grosse Bandbreite von Bezeichnungen aus, sowohl was ihr Genre als auch was ihr eigentliches Thema betrifft. Welche Benennungen finden sich in den romanischen Sprachen mit den meisten Leitfäden wieder? In der folgenden Auswertung habe ich auf die Angabe des im Fokus stehenden Gegenstandes (z. B. im Französischen: langue, langage, écriture, rédaction usw.) verzichtet, da meines Erachtens die Attribute für die jeweils gewählte Perspektivierung bezeichnender sind. Ich habe mich auf die folgenden sechs Attribute beschränkt, die einen Grossteil der Leitfäden abdecken (in Klammern alternative Formulierungen für das Französische; ähnliche Benennungen sind natürlich auch in anderen Sprachen gebräuchlich): • sexiste (auch: non-sexiste) • épicène • féminin/ féminine (auch: féminisé/ féminisée, féminisation) • neutre (auch: neutralisation) • inclusif/ inclusive • égal/ égale (auch: égalité, égalitaire) • genre/ gender/ générique Französisch inclusif/ inclusive égal/ égale (auch : égalité, égalitaire) genre/ gender/ générique Französisch Grafik 6: Anzahl Attribute der Leitfäden Französisch zwischen 1985 und 2021 Im Französischen sind bis zur ersten Hälfte der 2010er-Jahre eine ganze Bandbreite von Attribuierungen gebräuchlich; am häufigsten sind bis zu Beginn des neuen Jahrhunderts féminin·e, féminisation u. ä. Dies lässt sich teilweise darauf zurückführen, dass in einigen früheren Leitfäden die Bildung - und weniger der Gebrauch - femininer Personenbezeichnung im Vordergrund stand; auch heute noch wird in diesem Zusammenhang noch von féminisation (du lexique) gesprochen, auch wenn dieser Aspekt heute nicht mehr denselben Stellenwert hat wie früher. Am häufigsten ist seit der zweiten Hälfte der 2010er-Jahre 17 das Adjektiv inclusiv/ inclusive 0 5 10 15 20 25 30 35 1980-1985 1986-1990 1991-1995 1996-2000 2001-2005 2006-2010 2011-2015 2016-2020 2021 sexiste épicène féminin neutre inclusif égal genre Grafik 6: Anzahl der Attribute in den Leitfäden Französisch zwischen 1985 und 2021 91 Leitfäden für geschlechtergerechte Sprache im Verlauf der Zeit 20 Das Attribut inclusif/ inclusive taucht in den 2010er-Jahren nicht ganz neu auf; es wird bereits 1999 im französischen Titel des zweisprachigen Leitfadens des Hilfswerks der Evangelischen Kirchen der Schweiz, Entraide Protestante Suisse HEKS/ EPER (1999) verwendet; Aufmerk‐ samkeit erregt hat aber erst der Leitfaden Manuel d’écriture inclusive von Haddad, Raphaël (ed.; 2016). Im Englischen ist inclusive schon seit viel längerer Zeit in Gebrauch. 21 Das Attribut épicène hat verschiedene Bedeutungsebenen, die nicht immer gleichermassen aktualisiert werden. Am engsten ist die Bedeutung ‘flektierte Wortform, deren feminine und maskuline Form identisch sind’ (z. B. libraire, comptable, artiste). In diesem Sinn entspricht épicène dem deutschen geschlechtsneutral. In einer etwas weiteren Bedeutung, die auch ,ge‐ schlechtsabstrakte‘ Formen (z. B. la personne, l’individu) oder Kollektivbezeichnungen (le lectorat, la clientèle) einschliesst, umfasst der Begriff alle Formen, die nicht mit generisch intendierter Maskulinform gebraucht werden (können). Als allgemeiner Oberbegriff kann épicène (z. B. als rédaction épicène) sich auch auf alle möglichen Formen geschlechtergerechter Sprache beziehen, inklusive flektierter Doppelformen (directrices et directeurs) u. ä. Im Französischen sind bis zur ersten Hälfte der 2010er-Jahre eine ganze Bandbreite von Attribuierungen gebräuchlich, am häufigsten féminin/ féminine, féminisation u. ä. Dies lässt sich teilweise darauf zurückführen, dass in einigen früheren Leitfäden die Bildung - und weniger der Gebrauch - femininer Personenbezeichnungen im Vordergrund stand; auch heute noch wird in diesem Zusammenhang von féminisation (du lexique) gesprochen, auch wenn dieser Aspekt heute nicht mehr denselben Stellenwert hat wie früher. Am häufigsten ist seit der zweiten Hälfte der 2010er-Jahre das Adjektiv inclusif/ inclusive, 20 das durch die öffentliche Auseinandersetzung äusserst populär geworden ist und seither auch in den Leitfadentiteln am weitaus häufigsten auftaucht. Daneben bleiben aber weiterhin andere Bezeichnungen bedeutsam, vor allem épicène, 21 das seit den 1980er-Jahren gebräuchlich ist (allerdings nur im Französischen) und auch - wenngleich in geringerem Masse - neben inclusif/ inclusive in den letzten Jahren an Bedeutung zu gewinnen scheint. 92 Daniel Elmiger Spanisch Spanisch 0 20 40 60 80 100 120 140 1980-1985 1986-1990 1991-1995 1996-2000 2001-2005 2006-2010 2011-2015 2016-2020 2021 sexiste épicène féminin neutre inclusif égal genre 0 5 10 15 20 25 30 1980-1985 1986-1990 1991-1995 1996-2000 2001-2005 2006-2010 2011-2015 2016-2020 2021 sexiste épicène féminin neutre inclusif égal genre Grafik 7: Anzahl der Attribute in den Leitfäden Spanisch zwischen 1987 und 2021 Im Vergleich zum Französischen gibt es im Spanischen weniger - aber dafür öfter verwendete - Attribuierungen, mit denen das Thema eines Leitfadens für geschlechtergerechte/ inklusive Sprache bezeichnet wird. Neben igualitario/ igualdad sind seit den 2010er-Jahren vor allem (no) sexista/ sexismo und noch stärker inclusivo/ incluyente im Gebrauch: oft gemeinsam (z. B. im bereits erwähnten Dokument der Asociación Mundial de las Grandes Metrópolis 2021: Manual de lenguaje no sexista. Instrumento para un lenguaje inclusivo). Andere Varianten wie neutro oder (de) género kommen in letzter Zeit nur noch in einzelnen Fällen vor. 93 Leitfäden für geschlechtergerechte Sprache im Verlauf der Zeit Katalanisch und Valencianisch 0 5 10 15 20 25 30 1980-1985 1986-1990 1991-1995 1996-2000 2001-2005 2006-2010 2011-2015 2016-2020 2021 sexiste épicène féminin neutre inclusif égal genre Grafik 8: Anzahl der Attribute in den Leitfäden Katalanisch und Valencianisch zwischen 1987 und 2021 Die Attribute, die sich in katalanischen und valencianischen Leitfäden finden, unterscheiden sich nicht sehr von denjenigen der spanischsprachigen Leitfäden: Am meisten vertreten ist (no) sexista), neben inclusiu/ inclusivo und igualitari/ igualitario/ igualtat. Nicht vertreten sind jedoch neutro, femení (‚feminin‘) sowie frz. épicène. 94 Daniel Elmiger Italienisch 5. Ausblicke für die Forschung Die Leitfadensammlung hat einen dokumentarischen Wert, soll aber auch Ausgangspunkt für weitere Forschungen geben. Die Dokumentation einer Textgattung, die mittlerweile schon über vierzig Jahre alt ist, scheint aus mehreren Gründen wichtig. Zum einen handelt es sich bei Leitfäden um Dokumente, die nur teilweise von Bibliotheken oder anderen Dokumentationsstellen gesammelt werden: Dies scheint vor allem bei umfangreicheren und gedruckten Exemplaren der Fall zu sein. Zum anderen ist es gerade bei Online-Dokumenten so, dass ihre längerfristige Verfügbarkeit nicht gesichert ist und dass neuere Versionen eines Dokuments oft frühere Fassungen ersetzen, was eine Auseinandersetzung mit ihrer diachronen Verfestigung bzw. thematischen Neuausrichtung erschwert. Manche Leitfäden existieren mittlerweile schon in einer Reihe von Neuauflagen und Überarbeitungen 19 , die von den Institutionen, die sie herausgegeben haben, nicht unbedingt dokumentiert werden. Im Folgenden sollen eine Reihe von Vorschlägen für die weitere wissenschaftliche Vertiefung mit der Leitfadensammlung gegeben werden. 19 Ein Beispiel dafür ist die Universität zu Köln, deren Leitfaden 2020 in der 5. Auflage erschienen ist. 0 2 4 6 8 10 12 1980-1985 1986-1990 1991-1995 1996-2000 2001-2005 2006-2010 2011-2015 2016-2020 2021 sexiste épicène féminin neutre inclusif égal genre Grafik 9: Anzahl der Attribute in den Leitfäden Italienisch zwischen 1987 und 2020 Im Italienischen hat die Diskussion um geschlechtergerechte/ inklusive Sprache mit dem Attribut (non) sessista begonnen, das auch heute noch in einzelnen Leitfäden verwendet wird. Ebenso verwendet werden neutralità und seit we‐ nigen Jahren inclusivo; seit den Zehnerjahren am häufigsten verwendet wird allerdings eine Bezeichnung, die in anderen romanischen Sprachen gar nicht oder nur verhältnismässig selten Verwendung findet, nämlich (di) genere (z. B. ottica/ diversità/ linguaggio di genere). Dies kann als Indiz dafür angesehen werden, dass sich die Leitfadenliteratur im Italienischen eher unabhängig von derjenigen in anderen romanischen Sprachen entwickelt hat. 5 Ausblicke für die Forschung Die Leitfadensammlung hat einen dokumentarischen Wert, soll aber auch Grundlage für weitere Forschungen geben. Die Dokumentation einer Textgat‐ tung, die mittlerweile schon über vierzig Jahre alt ist, scheint aus mehreren Gründen wichtig. Zum einen handelt es sich bei Leitfäden um Dokumente, die nur teilweise von Bibliotheken oder anderen Dokumentationsstellen gesammelt werden: Dies scheint vor allem bei umfangreicheren und gedruckten Exem‐ plaren der Fall zu sein. Zum anderen ist es gerade bei Online-Dokumenten so, dass ihre längerfristige Verfügbarkeit nicht gesichert ist und dass neuere Versionen eines Dokuments oft frühere Fassungen ersetzen, was eine Auseinan‐ 95 Leitfäden für geschlechtergerechte Sprache im Verlauf der Zeit 22 Ein Beispiel dafür ist die Universität zu Köln, deren Leitfaden 2021 in der 7. Auflage erschienen ist (Universität zu Köln 2021). dersetzung mit ihrer diachronen Verfestigung bzw. thematischen Neuausrich‐ tung erschwert. Manche Leitfäden existieren mittlerweile schon in einer Reihe von Neuauflagen und Überarbeitungen, 22 die von den Institutionen, die sie herausgegeben haben, nicht unbedingt dokumentiert werden. Im Folgenden sollen eine Reihe von Vorschlägen für die weitere wissenschaftliche Vertiefung mit der Leitfadensammlung gegeben werden. Detailliertere Auswertung der vorgeschlagenen Strategien Für die Erstellung der Datenbank können die einzelnen erfassten Dokumente nur zum Teil ganz durchgelesen werden; bei den meisten Exemplaren muss aus Zeitgründen darauf verzichtet werden. Aus diesem Grund werden zwar die oben erwähnten Informationen erfasst, aber nicht die in den einzelnen Leitfäden er‐ wähnten Strategien, die teils nur erwähnt werden, manchmal aber auch explizit empfohlen (bisweilen mit Einschränkungen) oder von denen abgeraten wird. Aus diesem Grund bleibt die Frage, welche Strategien für geschlechtergerechte Sprache sich im Verlauf der Zeit bewährt oder verändert haben, weitgehend offen. Folgenden Fragen könnte beispielsweise nachgegangen werden: • Welche Zeichen (*, _, : usw.) werden ab wann und für welche Kontexte empfohlen? • In welchen Leitfäden werden neben eher standardnahen Verfahren auch solche angeregt, die sich weiter von bisherigen Sprachnormen entfernen (z. B. im Spanischen Formen wie todes, im Französischen solche wie lecteu‐ rices, im Italienischen Zeichen wie tutt*)? • Inwiefern verändert sich der Blickwinkel der Leitfäden, der - zumindest in den deutschsprachigen Leitfäden und denjenigen aus dem romanischspra‐ chigen Raum - lange hauptsächlich auf einer traditionellen Geschlechter‐ binarität (Frauen/ Männer) beruht hat: In welcher Form soll auf nichtbinäre Personen Bezug genommen werden? Diese und weitere Fragen werden auch in den folgenden Punkten noch detail‐ lierter besprochen. Verbreitung von Strategien in verschiedenen Leitfäden-Subgenres Leitfäden für geschlechtergerechte/ inklusive Sprache sind tendenziell nicht Texte, in denen Strategien für geschlechtergerechten Gebrauch neu erfunden werden: Diese werden eher darin dokumentiert, nachdem sie in anderen Texten 96 Daniel Elmiger 23 Interessant ist auch zu sehen, dass andere Vorschläge, die etwa auf die Etablie‐ rung nichtbinärer Pronominalsysteme abzielen, kaum in die Leitfäden aufgenommen werden, cf. etwa die Vorschläge von Sylvain/ Balzer (2008), die zur gleichen Zeit wie der Genderstern theoretisiert worden sind. und Diskurszusammenhängen als neue Mittel propagiert und diskutiert worden sind. Vermutlich sind die Herkunft und die Zielgruppe eines Leitfadens ent‐ scheidend für die Bereitschaft, neuere Entwicklungen aufzugreifen und dem Publikum als Lösungsansatz vorzuschlagen: In privaten Leitfäden ist dies wohl weit schneller der Fall als in öffentlichen. Im Deutschen kann man etwa an neuere Formen wie die Sternchen- oder Unterstrich-Formen denken, die beschrieben und theorisiert worden sind (cf. z. B. Baumgartinger 2008) 23 , bevor sie in Leitfäden auftauchen (ein früher Beleg dafür ist der Leitfaden der Alice Salomon Hochschule Berlin 2012; einer breiten Öffentlichkeit mögen solche Formen erst später bekannt geworden sein, etwa über die mediale Auseinandersetzung über den Leitfaden der Landeshauptstadt Hannover 2019). Für das Spanische lässt sich an die geschlechtsneutralen -e-Formen (les, todes, algunes usw.) denken, für die Belege mindestens bis in die Mitte der 1980er-Jahre zurückreichen sollen (cf. Montoya 2019) und die in progressiveren Leitfäden (z. B. Lauredal Ediciones 2019) schneller propagiert werden als in institutionellen. Ein letztes Beispiel betrifft das Französische, für das seit Anfang der 1980er- Jahre eine reichhaltige wissenschaftliche sowie Leitfadenliteratur besteht. Die Auseinandersetzung betraf in den ersten Jahrzehnten sowohl die Frage der Bildung bzw. Verwendung femininer Personenbezeichnungen (besonders in Bereichen, wo Frauen bislang nicht oder nur eingeschränkt tätig waren) als auch die Frage, welche Formen in der geschriebenen (teilweise auch gesprochenen) Sprache als geschlechtergerecht angesehen werden können. Dazu gehört im Besonderen die Frage, ob maskuline Formen als geschlechtsübergreifend (gene‐ risch) angesehen werden können oder nicht, d. h. ob allenfalls Ersatzformen präferiert werden sollen. Letztere Diskussion wurde vor allem in frankofonen Gebieten der europäischen und nordamerikanischen Peripherie (z. B. in Belgien, der Schweiz oder in Québec) geführt, aus der viele Leitfäden hervorgegangen sind. In Frankreich hingegen wurde die Frage der geschlechtergerechten Ver‐ wendung von Personenbezeichnungen lange nicht prioritär diskutiert und stand in wichtigen Leitfäden (wie Becquer et al. 1999) nicht im Zentrum des Interesses. In der breiten Öffentlichkeit wurde die Auseinandersetzung erst im Herbst 2017 unter dem eher neuen Begriff der écriture inclusive bekannt, als ein Schulbuchverlag Formen wie agriculteur.rice.s gebraucht hat, die im Rest der 97 Leitfäden für geschlechtergerechte Sprache im Verlauf der Zeit 24 Cf. in diesem Zusammenhang auch die politischen und rechtlichen Bestrebungen, die etwa in Deutschland seit Ende 2018 und in Österreich ab 2019 dazu geführt haben, dass neben ,männlich‘ und ,weiblich‘ auch ,divers‘ als Geschlechtseintrag möglich ist. Frankofonie eher abgelehnt worden waren, in neueren Leitfäden aus Frankreich (wie demjenigen des Haut Conseil à l’Égalité entre les femmes et les hommes 2015) jedoch propagiert worden sind. Eine genauere Prüfung von Leitfäden aus dem ganzen französischsprachigen Raum sollte zeigen können, inwiefern mit écriture/ langue inclusive als Oberbegriff einerseits und mit abgekürzten Formen wie agriculteur.rice.s andererseits tatsächlich neue diskursive Tatsachen geschaffen worden sind, die aufgrund der Zentralität Frankreichs wieder in den Rest der Frankofonie zurückstrahlen. Evolution des Genres ,Leitfaden für geschlechtergerechte/ inklusive Sprache‘ Nachdem ab den 1980er-Jahren zunächst die sprachliche Repräsentation von Frauen im Zentrum der Leitfäden gestanden hat, ist es seit dem neuen Jahrhun‐ dert - und in den letzten Jahren vermehrt - auch um die Berücksichtigung anderer Menschen(gruppen) gegangen: zum einen um die Geschlechtsidentität von Menschen, die nicht einer binären Geschlechtslogik verhaftet sind. Dazu gehören neben Personen mit einer Trans-Identität vor allem auch solche, die sich nicht als Frau oder Mann identifizieren können oder wollen. 24 Zum anderen werden in neueren Leitfäden vermehrt auch Fragen der sprachlichen Berücksichtigung von Personen(gruppen) thematisiert, die sich nicht über ihre Geschlechtsidentität voneinander unterscheiden, sondern über andere Kriterien wie Herkunft, Alter, Gesundheit oder sexuelle Orientierung. Im englischsprachigen Raum sind solche Bestrebungen schon seit längerer Zeit zu beobachten als in anderen (Genus-)Sprachen, was zum Teil damit zusammen‐ hängen mag, dass sich im Englischen in Bezug auf die Geschlechtergerechtigkeit weniger Probleme stellen als in anderen Sprachen, da etwa für gewisse Punkte wie den generischen Gebrauch von Pronomen (früher oft: he/ him/ his) schon seit längerem Alternativen gefunden wurden (z. B. they/ them/ their), die sich bewährt haben. Heute existieren ,klassische‘ Leitfäden für geschlechtergerechte/ inklusive Sprache neben solchen, die vermehrt auch andere Formen der Inklusion thema‐ tisieren. So existiert etwa für die Stadt Berlin ein traditioneller Leitfaden (Stadt Berlin 3 2012), aber auch ein Leitfaden Vielfalt zum Ausdruck bringen! Ein Leit‐ faden für Mitarbeitende der Berliner Verwaltung aus dem Jahr 2021, in dem es um den Einbezug von Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft/ Hautfarbe, Religion und Weltanschauung, Geschlecht und Geschlechtsidentität, Behinde‐ 98 Daniel Elmiger rungen, sexueller Orientierungen und Altersstufen geht (der in der Leitfaden‐ sammlung aber nicht fungiert, da die Repräsentation von Geschlechtern nur am Rande behandelt wird). Thematisch stehen sich die beiden Leitfäden zwar nahe, da es in beiden Fällen um die Vermeidung sprachlicher Diskriminierung geht, doch nicht umsonst verweist der neuere Diversity-Leitfaden auf den früheren Leitfaden für geschlechtergerechte Sprache. Wenn es nämlich um die Benennung von Gruppen wie etwa Menschen mit Migrationsgeschichte geht, stellt sich nicht nur die Frage der Bezeichnungen selbst (Migrant/ Migrantin, Geflüchtete, Asylbewerber/ Asylbewerberin usw.), sondern zusätzlich auch noch diejenige der geschlechtergerechten Verwendung dieser Formen. Vergleich von vorgeschlagenen Strategien in unterschiedlichen Sprachen(familien) Die sprachstrukturellen Gegebenheiten in verschiedenen Sprachfamilien (bzw. Einzelsprachen) und Kulturtraditionen führen dazu, dass gegebenenfalls ganz unterschiedliche Strukturen bzw. Formen im Interesse eines Leitfadens stehen bzw. zu variablen Empfehlungen führen können. Ein paar Beispiele: In Sprachen ohne grammatisches Genus wie etwa Ungarisch oder Finnisch sind die Gegebenheiten, (maskuline) Formen generisch bzw. spezifisch zu ge‐ brauchen, gar nicht vorhanden. Leitfäden für solche Sprachen (etwa diejenigen der Europäischen Union oder des Europäischen Parlamentes) beziehen sich somit auf andere (z. B. semantische) Merkmale als solche für Genussprachen. Im Englischen gibt es ausser in wenigen Bereichen wie Familie (son/ daughter) oder Adel (king/ queen) kaum mehr Personenbezeichnungen, die in unterschied‐ lichen Formen existieren (bei Berufsbezeichnungen etwa noch actor/ actress oder waiter/ waitress). In Leitfäden für geschlechtergerechte/ inklusive Sprache für das Englische ist es demnach von Anfang an - neben der Vermeidung von Stereotypen - mehr um den Gebrauch von Pronominalformen, die sich auf Menschen beziehen, gegangen - und früher als in anderen Sprachen um den Einbezug anderer Personen(gruppen). Im Deutschen sind alle Pronominal- und Artikelformen sowie sämtliche substantivierten Adjektiv- und Partizipialformen im Plural geschlechtsneutral, was dazu führt, dass die Pluralisierung oft als Strategie empfohlen wird, um ge‐ nerisch gebrauchte Maskulinformen zu vermeiden. In anderen Genussprachen (wie etwa generell in den romanischen, aber auch slawischen Sprachen) ist dies nicht der Fall, weshalb je nach Sprachsystem unterschiedliche Strategien empfohlen werden. Der Frage, in welchem Ausmass sprachstrukturelle Unterschiede Auswir‐ kungen auf die Umsetzung von geschlechtergerechter/ inklusiver Sprache in 99 Leitfäden für geschlechtergerechte Sprache im Verlauf der Zeit 25 Meine Datensammlung beschränkt sich hauptsächlich auf (indo-)europäische Sprachen mit grammatischen Genera. Ob sich ähnliche Entwicklungen auch in anderen Sprach‐ familien mit Genussprachen (z. B. in semitischen Sprachen) oder in solchen mit anderen Klassifizierungssystemen zeigen, entzieht sich meiner Kenntnis. verschiedenen Sprachen haben, sollte in künftigen sprachenübergreifenden Untersuchungen nachgegangen werden. Zusammenhang zwischen Leitfäden, tatsächlichem Sprachgebrauch und öffentlichem Bewusstsein Als letzter Gesichtspunkt soll eine Forschungsfrage erwähnt werden, die sich in Bezug auf die Leitfäden stellt - aber auch allgemein in Bezug auf die Ausein‐ andersetzung mit geschlechtergerechter/ inklusiver Sprache: Welche konkreten Auswirkungen haben sich im Sprachgebrauch gezeigt - im Allgemeinen, aber im Besonderen natürlich in Texten, auf die sich etwa institutionelle Leitfaden‐ vorgaben beziehen? Die Beschreibung des Gebrauchs von Personenbezeich‐ nungen (bzw. von Ersatzformen) gestaltet sich aus verschiedenen Gründen als schwierig (cf. Elmiger/ Tunger/ Schaeffer-Lacroix 2017 für die Schweizer Behördensprache und Elmiger 2009 für theoretische Gesichtspunkte), sodass nicht nur der historische Sprachgebrauch schlecht dokumentiert ist, sondern in vielen Fällen auch der heutige. Forschungsbedarf besteht somit einerseits bei der Beschreibung von Personenreferenzen (sowie von Alternativformen) und andererseits bei der Erforschung des tatsächlichen Sprachgebrauchs in unterschiedlichen Kontexten. Daneben stellt sich natürlich auch die Frage, inwiefern Leitfäden für unterschiedliche Personen(gruppen) dazu beigetragen haben, ein Bewusstsein für geschlechtergerechte/ inklusive Sprache zu schärfen und den Sprachgebrauch zu beeinflussen - bzw. welchen Stellenwert andere Formen der Informationsvermittlung (etwa über Schule und Weiterbildung, Medien, berufliche Tätigkeit usw.) für die Kenntnis des Themas haben (cf. Ivanov et al. 2019, 9). 6 Fazit In den rund 50 Jahren, seit denen in - meist westlichen 25 - Ländern über die Art und Weise, wie Menschen unterschiedlicher Geschlechter sprachlich bezeichnet werden sollen, diskutiert wird, hat sich ein spezifisches Genre her‐ ausgebildet, nämlich die Leitfäden für geschlechtergerechte/ inklusive Sprache. Darin werden einerseits die Anliegen und Forderungen der (feministischen) Sprachkritik aufgenommen und Vorschläge für eine praktische Umsetzung gegeben; andererseits wirken die Leitfäden aber auch wieder in die Debatte 100 Daniel Elmiger zurück: Gerade in den letzten Jahren hat die Auseinandersetzung über ge‐ schlechtergerechte/ inklusive Sprache vielerorts wieder an Heftigkeit gewonnen und der Streit darüber entzündet sich regelmässig wieder, wenn neue Leitfäden erscheinen. Auch neuere Entwicklungen, wie etwa der Einbezug nichtbinärer Personen, von Trans-Menschen oder anderen Personengruppen, spiegelt sich in der Leitfadenliteratur wider; teils in deren Inhalten, teils auch in den Bezeichnungen dessen, was im Zentrum der Aufmerksamkeit steht: Vermehrt geht es nicht mehr nur um die Sichtbarmachung von Frauen, sondern auch um den sprachlichen Einbezug (Inklusion) aller möglichen Menschen. In Bezug auf ihre Verbindlichkeit bleiben Leitfäden in den meisten Fällen recht ambivalent. Einerseits zeigen sie als formale Richtschnur an, welche sprachlichen Formulierungen bevorzugt zu gebrauchen sind; andererseits bleiben sie oft eher Vorschläge als feste Vorgaben, deren Einhaltung durchge‐ setzt, kontrolliert oder gar sanktioniert werden könnte: Nur in wenigen Fällen scheint dies überhaupt möglich bzw. wünschenswert zu sein. Die weitere Beobachtung der Leitfadenliteratur wird zeigen, wie sich die im vorliegenden Beitrag skizzierten Tendenzen entwickeln werden: Werden sich beispielsweise Leitfäden weiter diversifizieren oder werden sich, nach einer gewissen Experimentierphase, bestimmte Formulierungspraktiken allgemein durchsetzen? Bleiben Leitfäden als Instrumente einer öffentlichen Selbstdar‐ stellung bestimmter Institutionen weiterhin relevant oder werden die darin behandelten Fragen künftig in anderer Form thematisiert werden? Zu hoffen ist, dass die Leitfadensammlung dazu beitragen wird, solche und andere Fragen der angewandten sprachlichen Geschlechterforschung zu beantworten. Bibliografie (alle Links wurden Anfang August 2021 abgerufen) Zitierte Leitfäden Ajuntament de Silla (2018): Guia per a usar un llenguatge igualitari en l’Administració local, 80 p., https: / / www.dival.es/ es/ normalitzacio/ sites/ default/ files/ normalitzacio/ G uia_llenguatge_igualitari_DIVAL.pdf. 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Vers le dernier quart du XX e siècle, allant de pair avec les efforts pour l’égalité des genres dans les institutions et fonctions ecclésiastiques et l’entrée du langage sensible au genre dans le débat public, ce sujet a également émergé parmi les institutions membres de l’Église évangélique en Allemagne (EKD) et, dans une moindre mesure, dans les églises protestantes de France (FPF) et de Suisse (EKS). Cette contribution reconstitue le discours sur l’égalité des genres dans les églises protestantes des trois pays et les débats sur le langage sensible au genre qu’il entraîne. Elle porte sur deux grands champs discursifs: le langage spirituel (Bible, exégèse et liturgie) et le langage institutionnel (administration et législation ecclésiastiques). Les activités des églises concernant l’usage du langage sensible au genre (règlements ou guides pratiques pour différents contextes ecclésiastiques tels que la législation, l’administration, la liturgie etc.) sont liées au degré d’institutionnalisation de leurs activités générales dans le domaine de l’égalité des genres. Tandis que beaucoup d’églises membres de l’EKD ont mis en place des délégations à l’égalité des genres et travaillent intensément sur le langage sensible au genre, ceci n’est pas le cas pour les églises membres de la FPF, et dans les églises membres de l’EKS, ces efforts portent surtout sur le domaine germanophone. Abstract The Protestant church has been putting emphasis on its use of language from its very beginning. By the last quarter of the 20 th century, along with 1 Die Terminologie ist hier nicht einheitlich. In diesem Beitrag wird die Formulierung gendersensible Sprache bevorzugt, da dieser eine grundsätzliche Sensibilität bezüg‐ lich Genderidentität und darauf bezogene sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten bezeichnet und offenlässt, welche sprachlichen Strategien zum Einsatz kommen. Gendergerechte/ geschlechtergerechte Sprache bedeutet im engeren Sinne, dass Perso‐ nenbezeichnungen und darauf bezogene grammatische Elemente wie Pronomina dem Geschlecht der bezeichneten oder angeredeten Personen entsprechen - streng genommen ist dies nur möglich, wenn die Genderidentität der jeweiligen Personen bekannt ist und nicht aus Hinweisen wie Vornamen, Aussehen etc. abgeleitet wird. Eine weitere geläufige Formulierung ist inklusive Sprache, deren Bedeutung kontextabhängig und damit polyvalent ist: Inklusive Sprache kann darauf verweisen, efforts for gender equity in the churches’ institutions and functions and at the same time as gender-fair language became a debate in society as a whole, this subject also emerged among the member institutions of the Evangelical Church in Germany (EKD) and, to a lesser extent, also in the Protestant churches of France (FPF) and Switzerland (EKS). This paper re‐ traces the discourse on gender equity in the Protestant churches of all three countries and the subsequent debates on language. It draws upon two large parts of the discourse: spiritual language (Bible, exegesis and liturgy) and institutional language (ecclesiastical administration and legislation). The churches’ handling of gender-fair language (regulations or guidelines for various ecclesiastical contexts such as legislation, administration, liturgy, etc.) is related to the degree of institutionalization of their overall activities in the field of gender equity. Whereas many EKD member churches have established equal opportunity departments and do extensive work also in the field of gender-fair language, this is not the case in French Protestant churches, and in EKS member churches it is mostly related to the Germanspeaking area. Keywords: gendersensible Sprache, Evangelische Kirche, Verwaltungs‐ sprache, liturgische Sprache, Geschlechtergleichstellung 1 Einleitung Die evangelische Kirche ist die Kirche des Wortes, geprägt durch Lesen und Schreiben, Reden und Hören. In ihrem Zentrum stand seit Martin Luther die Predigt. (Cornelius- Bundschuh 2001, Klappentext) Als „Kirche des Wortes“ spielen Sprache und ihre Verwendung bei unter‐ schiedlichen Anlässen eine zentrale Rolle für die evangelische Kirche. Die Diskussion über gendersensible Sprache 1 , die in den letzten Jahren in vielen 108 Kristina Bedijs dass Menschen aller Geschlechtsidentitäten (auch jenseits des binären Mann-Frau- Modells) eingeschlossen sind; sie kann sich auf Menschen mit Sinnesbehinde‐ rungen oder Verständnisschwierigkeiten beziehen und sprachliche Barrierefreiheit bedeuten; sie kann Geschlechterinklusivität und Barrierefreiheit umfassen. Mit genderneutrale/ geschlechtsneutrale Sprache ist eine Formulierungsweise gemeint, die Sexusbezüge aus der Sprache möglichst entfernt und maskuline/ feminine Personen‐ bezeichnungen durch geschlechtsneutrale oder -umfassende Begriffe ersetzt. Im öffentlichen und medialen Diskurs, der sich hauptsächlich auf einer laienlinguisti‐ schen Ebene abspielt, findet eine saubere Abgrenzung der Begriffe selten statt. Alle aufgeführten Formulierungen sowie das Verb gendern werden quasi-synonym verwendet (wenn auch nicht in gleicher Häufigkeit), um sich grob auf den Einsatz sprachlicher Mittel zum Zweck der Gendersensibilität zu beziehen. Im vorliegenden Beitrag wird in Zitaten die jeweilige Formulierung übernommen und ggf. durch einen Kommentar ergänzt, wenn unklar ist, worauf sie sich bezieht. gesellschaftlichen Bereichen in Deutschland, Frankreich und der Schweiz Fahrt aufgenommen hat, ist auch für die evangelischen Kirchen der drei Länder ein Thema - jedoch in unterschiedlicher Umsetzung. Der vorliegende Beitrag stellt vor, wo der Diskurs jeweils aktuell steht. Der Überschneidungsbereich von drei Diskursen - Kirche, Sprache, Gender - ist in der kirchlichen Praxis in Deutschland schon sehr vital, in der Forschung aber noch wenig bearbeitet. Forderungen nach geschlechtergerechter Sprache insbesondere im liturgischen Bereich gibt es hingegen seit den frühesten Veröffentlichungen der feministischen und queeren Theologie (cf. u. a. We‐ gener/ Köhler/ Kopsch 1990; Greene/ Rubin 1991; Meurer 1993; Fritsch-Opper‐ mann 1996; Wegener et al. 2008). Französische Forschungsliteratur, die sich explizit auf den Gebrauch gendersensibler Sprache in kirchlichen Kontexten bezieht, findet sich hingegen kaum (eine Ausnahme bilden einige Absätze in Savoy 2018). Im folgenden Abschnitt erfolgt zunächst eine vergleichende Darstellung der institutionellen Strukturen der evangelischen Kirchen sowie ihrer Bemühungen um Gleichstellung, an die Praktiken des gendersensiblen Sprachgebrauchs eng gebunden sind. Der dritte Abschnitt zeigt diese Praktiken im Ländervergleich auf, und zwar einerseits im liturgischen Bereich, andererseits im Bereich der Kirchenverwaltung, da hier in allen drei Ländern deutliche Unterschiede und Traditionen bestehen. 109 Gendersensible Sprache im Kirchenkontext 2 Die UEPAL vereinigt ihrerseits die Église Protestante de la Confession d’Augsbourg (EPCAAL) und die Église Protestante Réformée d’Alsace et de Lorraine (EPRAL). 3 Bis Ende 2019 ,Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund (SEK)‘. 2 Grundlegendes zur evangelischen Kirche in Deutschland, Frankreich und der Schweiz 2.1 Organisationsstrukturen der evangelischen Kirchen In allen drei Ländern, die Gegenstand dieser Untersuchung sind, sind evange‐ lische Kirchen in der Regel verbandlich organisiert. In Deutschland sind evan‐ gelische Freikirchen in der Deutschen Evangelischen Allianz (DEA) organisiert, sie sind jedoch nicht Teil dieses Beitrags. Für Deutschland untersucht werden die Gliedkirchen der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) und der Union Evangelischer Kirchen (UEK), die wiederum gemeinsam mit den reformierten Kirchen im ,Dachverband‘ Evangelische Kirche in Deutsch‐ land (EKD) organisiert sind. Insgesamt haben diese Kirchen ca. 21 Millionen Mitglieder, dies entspricht etwa 25 % der deutschen Bevölkerung (Stand 2019, cf. EKD 2020b, 4). In Frankreich ist der Dachverband für lutherische, reformierte, evangelikale und Pfingstkirchen die Fédération protestante de France (FPF). Die größten Verbände innerhalb der FPF sind die Église protestante unie de France (EPUdF), die lutherische und reformierte Kirchen vereinigt und ca. 270.000 Mitglieder hat, sowie die Union des églises protestantes d’Alsace et de Lorraine (UEPAL) 2 mit ca. 250.000 Mitgliedern. Insgesamt vertritt die FPF ca. 2,1 Millionen protestantische Gläubige, dies entspricht etwa 3 % der französischen Bevölkerung (Stand 2019, cf. Observatoire de la laïcité 2020, 102-103). Die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz (EKS) 3 ist der Zusammenschluss der 24 reformierten Kantonalkirchen und der Evangelisch-methodistischen Kirche in der Schweiz. Sie vereinigt ca. 2 Millionen Mitglieder, was etwa 24 % der schweizerischen Bevölkerung entspricht (Stand 2020, cf. EKS 2020a, 2). Es wird deutlich, dass der Protestantismus in den drei Ländern erheblich unterschiedliche Bevölkerungsanteile und erheblich unterschiedliche absolute Zahlen aufweist. 2.2 Gleichstellungsbestrebungen in den evangelischen Kirchen Für die evangelische Kirche als große gesellschaftliche Akteurin mit vielen Mitgliedern ist Gender ein wichtiges Thema, das sich grundsätzlich durch alle kirchlichen Bereiche zieht und darin mehr oder weniger intensive Debatten an‐ stößt. Unter den Kirchenmitgliedern sind viele Frauen, denen bis zum Beginn des 110 Kristina Bedijs 4 Aus dem Beschluss der Synodentagung in Bad Krozingen 1989: „[…] die ehrenamtliche Arbeit an der kirchlichen Basis wird zu 70 % bis 80 % von Frauen getragen; etwa 70 % der in Kirche und Diakonie hauptamtlich Arbeitenden sind Frauen. Die Leitungsfunktionen aber werden überwiegend von Männern ausgeübt“ (EKD 1990, 476). 5 2021 wurde Annette Kurschus zur EKD-Ratsvorsitzenden gewählt. Ihre Stellvertreterin ist Kirsten Fehrs. Präses der EKD-Synode ist seit 2021 Anna-Nicole Heinrich. 20. Jahrhunderts allerdings wenige Rechte zugestanden wurden - bis die Rolle der Frauen für das spirituelle Leben in der evangelischen Kirche erkannt 4 und fortan Gleichstellungsbestrebungen auf verschiedenen Ebenen initiiert wurden. Dies betraf insbesondere die Möglichkeit der Frauenordination (Einsetzung von Frauen ins Pfarramt, cf. Mantei/ Bergmann 2017) und des Frauenwahlrechts in kirchlichen Gremien (cf. Buche/ Bergmann 2019). In Deutschland waren die Synoden Bad Krozingen 1989 (BRD) und Leipzig 1990 (DDR) wegweisend für die Gleichstellungsbestrebungen der evangelischen Kirchen. Unter dem Schwerpunktthema Gemeinschaft von Frauen und Männern in der Kirche wurden in Bad Krozingen u. a. die Einrichtung der „Stelle einer Frauen-Beauftragten mit Querschnittfunktionen“ (EKD 1990, 807) sowie das Ziel der paritätischen Zusammensetzung von Leitungs- und Beratungsgremien in der EKD (cf. EKD 1990, 807-808) und ein Anteil von mindestens 40 % Frauen in der EKD-Synode binnen 10 Jahren (cf. EKD 1990, 808) beschlossen. Die Leipziger Bundessynode empfahl, ausgelöst durch den Bericht über die ökumenische Dekade Solidarität der Kirche mit den Frauen, „den Gliedkirchen des Bundes der Evangelischen Kirchen die Errichtung eines Frauenreferates (Frauenbeauftragte), wie es in mehreren Gliedkirchen der EKD bereits besteht“ (Falkenau 1996, 426). Das Paritätsziel war auf der Ebene der EKD-Synode sowie des EKD-Rats im Jahr 2020 nahezu erreicht - in anderen Gremien und Leitungspositionen der Landeskirchen beträgt der Frauenanteil jedoch immer noch teils deutlich unter 50 % (cf. Buche 2020). Von der Synode in Bad Krozingen bis zur Wahl Margot Käßmanns zur ersten Frau an der Spitze der EKD im Jahr 2009 vergingen 20 Jahre, und seit ihrem Rücktritt 2010 waren die Ratspräsidenten wieder Männer. 5 Die Forderung, Frauenbeauftragte einzusetzen, ist umgesetzt: Jede Gliedkirche der EKD hat ein Gleichstellungsreferat (wenn auch unterschiedlich stark personell ausgestattet), viele haben auch eigene Frauenwerke oder Stellen für Frauen- und Männerarbeit. Die EKD selbst hat das Referat für Chancenge‐ rechtigkeit, dem auch das Studienzentrum für Genderfragen angegliedert ist, seinerseits 2014 hervorgegangen aus dem 1994 gegründeten Frauenstudien- und -bildungszentrum der EKD. Das Evangelische Zentrum Frauen und Männer, eine 111 Gendersensible Sprache im Kirchenkontext gemeinsame Gesellschaft der Evangelischen Frauen in Deutschland (EFiD) und der EKD-Männerarbeit, ist ebenfalls bundesweit aktiv. In Frankreich wählte die Synode der EPUdF 2017 mit Emmanuelle Seyboldt erstmals eine Frau zur Ratspräsidentin. Der Conseil des Dachverbands FPF forderte im Jahr 2019 die Parität von Frauen und Männern in allen Instanzen: Égalité dans la représentation: pour une participation plus égale des deux sexes aux instances de la fédération Lors de sa séance du 7 juin 2019, au moment de se prononcer sur la composition des commissions pour la nouvelle période quadriennale, le conseil a constaté le nombre insuffisant de femmes proposées. Il a demandé que soit inscrit dans les textes de référence de la fédération le principe d’une participation au moins égale à 40 % des membres de chaque sexe pour toutes ses instances. Une telle ambition nécessitait une modification des textes de référence qui fera l’objet d’une décision lors de l’AG [scil. Assemblée Générale] 2020. (FPF 2019, 19) Seit einer Entscheidung der Assemblée générale der FPF im Januar 2020 ist dieses Ziel auch in den Verbandsstatuten festgeschrieben: Titre II - COMPOSITION ET ATTRIBUTIONS DE L’ASSEMBLEE GENERALE Article 7 : Composition […] 7-1 […] Toute délégation d’au moins six personnes doit comporter un nombre égal de personnes de chaque sexe. […] 7-3 Les membres de la Fédération sont invités à veiller à la répartition la plus équitable possible des sièges entre les femmes et les hommes. (FPF 2020) Der französische Protestantismus hat jedoch keine institutionellen Kommis‐ sionen für Frauen oder Gleichstellung. Arbeit in diesem Bereich leisten interes‐ sierte Ehrenamtliche. Die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz wählte 2020 mit Rita Famos ihre erste Präsidentin. Mit Frauen- und Gleichstellungsarbeit sind institutionell die Evangelischen Frauen Schweiz beschäftigt, die durch den Fonds für Frauenarbeit unterstützt werden. Trotz großer Schritte im Bereich Gleichstellung in den drei evangelischen Kirchen steht ein Teil der Funktionstragenden und Mitglieder Genderfragen ablehnend gegenüber oder vertritt konservative Haltungen. Diese werden oft mit der Bibel begründet, besonders der Genesis, aus der bereits wichtige Positionen hervorgehen (der Mensch wird zuerst als Mann nach Gottes Bild erschaffen, danach als Frau aus der Rippe Adams; die Rolle der Frau wird als untergeordnet 112 Kristina Bedijs 6 Zur Verdeutlichung hier einige Verse aus der Genesis (Übersetzung Lutherbibel 2017, cf. Deutsche Bibelgesellschaft 2016): 1. Mose 2, 18: „Und Gott der Herr sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht.“ 1. Mose 2, 21-24: „ 21 […] Und er nahm eine seiner Rippen und schloss die Stelle mit Fleisch. 22 Und Gott der Herr baute eine Frau aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm. 23 Da sprach der Mensch: Die ist nun Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch; man wird sie Männin nennen, weil sie vom Manne genommen ist. 24 Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seiner Frau anhangen, und sie werden sein ein Fleisch.“ 1. Mose 3, 16-19: „ 16 Und zur Frau sprach er: Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen sollst du Kinder gebären. Und dein Verlangen soll nach deinem Mann sein, aber er soll dein Herr sein. 17 Und zum Mann sprach er: Weil du gehorcht hast der Stimme deiner Frau und gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot und sprach: Du sollst nicht davon essen -, verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang. 18 Dornen und Disteln soll er dir tragen, und du sollst das Kraut auf dem Felde essen. 19 Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde wirst, davon du genommen bist. […].“ und die Rolle des Mannes als die des Ernährers festgelegt). 6 Die Bibel als Grundlage des Glaubens wird so gelesen, dass sie eine biologische Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität repräsentiert, was eine Ablehnung von Geschlechtervielfalt und die ausschließliche Akzeptanz von Cisgender und Heterosexualität sowie die Verteidigung ,natürlicher‘ (im Sinne von: traditioneller, Mann und Frau zuge‐ wiesener) Geschlechterrollen und des Familienmodells ,Vater, Mutter, Kind(er)‘ begründet. In diese Perspektive fügt sich eine grundsätzliche Ablehnung von Gender Mainstreaming, Diversity-Bestrebungen und schließlich auch ,Gendern‘ als sprachlicher Praxis organisch ein. 3 Kirche und gendersensible Sprache Für ein linguistisches Interesse an kirchlichen Sprachpraktiken lassen sich grob vier Diskursbereiche bestimmen: 1. Spirituelle Sprache • Bibel und Bibelauslegungen (Exegese) • Liturgie, Gottesdienst 2. Sprache der Organisation • Kirchengesetze • offizielle Texte der Kirchenverwaltung 113 Gendersensible Sprache im Kirchenkontext 3. Evangelische Publizistik • Veröffentlichungen kirchlicher Institutionen • kirchliche Presse und Kirchenpressestellen 4. Sprache des kirchlichen Lebens • Gemeindebriefe und weitere Kommunikationsformen in Gemeinden • Sprache unter Ehrenamtlichen, Diakon*innen, Gemeindemitgliedern Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf die Bereiche der spirituellen Sprache sowie der Sprache der Organisation (1 und 2). 3.1 Spirituelle Sprache In Deutschland ist für den Bereich der spirituellen Sprache zunächst ein großes Übersetzungsprojekt zu nennen: die Bibel in gerechter Sprache (im Folgenden BigS). An diesem feministisch-theologischen Großprojekt einer Neuübersetzung der Bibel aus den Urtexten Hebräisch und Griechisch, das von 2001 bis 2006 dauerte, waren 52 Theolog*innen beteiligt, darunter 40 Frauen. Ziel der BigS war, die in traditionelle Bibelübersetzungen hineingelangte sexistische, androzentrische Sprache in geschlechtergerechter Weise zu ändern, um den Androzentrismus des historischen Kontexts sowie der Exegese (Bibelauslegung) neu zu perspektivieren: Zum einen geht es um eine geschlechtergerechte Sprache. […] Die deutsche Sprache und der Sprachgebrauch der meisten Menschen haben sich in den letzten Jahrzehnten deutlich verändert. […] Auch die Kirchensprache hat sich bewegt; von der Diakonin bis zur Bischöfin sind weibliche Amtsbezeichnungen alltäglich geworden. Nun stammt die Bibel aus einer patriarchalen Welt und spricht oft grammatisch nur von „Söhnen Israels“ und von „Jüngern“. Ist aber eine rein philologisch korrekte Wiedergabe […] auch die sachlich richtige? Was haben Menschen damals verstanden? Und wie müssen wir das damals Gemeinte heute in Worte fassen? (Bail et al. 2014, 10) Nach ihrem Erscheinen wurden breite Debatten um die BigS geführt. Der Rat der EKD kritisierte sie 2007 in einer Stellungnahme deutlich: Der Rat sieht in der „Bibel in gerechter Sprache“ eine ergänzende Bibelausgabe. […] Der Rat achtet die Kraft und die Leidenschaft, mit der das Vorhaben einer „Bibel in gerechter Sprache“ begonnen und in einem jahrelangen Prozess vorangebracht wurde. Er bedauert jedoch, dass diese Anstrengung durch die der Übersetzung zugrundeliegenden problematischen Grundsätze und Kriterien fehlgeleitet und so weithin um ihre Früchte gebracht wurde. […] Die „Bibel in gerechter Sprache“ eignet sich nach ihrem Charakter und ihrer sprachlichen Gestalt generell nicht für die Verwendung im Gottesdienst. (EKD 2007) 114 Kristina Bedijs 7 In der Bibel in gerechter Sprache (Bail et al. 2014) sind die entsprechenden Verse Mt 6, 9-13 folgendermaßen übersetzt: „So also betet. Du, Gott, bist uns Vater und Mutter im Himmel, dein Name werde geheiligt. Deine gerechte Welt komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf der Erde. Das Brot, das wir brauchen, gib uns heute. Erlass uns unsere Schulden, wie auch wir denen vergeben, die uns etwas schuldig sind. Führe uns nicht zum Verrat an dir, sondern löse uns aus dem Bösen. Denn wenn ihr den Menschen, die an euch schuldig geworden sind, vergebt, wird euch Gott, Vater und Mutter im Himmel, auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, wird Gott euch auch nicht vergeben, wenn ihr schuldig geworden seid.“ In der Stellungnahme ist außerdem zu lesen, das „Konzept einer ‚gerechten Sprache‘ oder eines ‚gerechten Sprachgebrauchs‘ [sei] unklar“ und würde als Übersetzungskriterium „den Charakter von vorgefassten Meinungen“ be‐ kommen (EKD 2007). Der Herausgabekreis wies diese Kritik in einer Replik im Rundbrief der Fachstelle für Frauenarbeit der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern wiederum zurück: Die „Bibel in gerechter Sprache“ macht im deutschen Wortlaut sichtbar, dass Frauen viel‐ fach in grammatisch maskuline hebräische und griechische Formulierungen einbezogen sind. […] [Die „Bibel in gerechter Sprache“] klärt und verdeutlicht den im Text enthaltenen Sinn sachgemäß. Sie achtet darauf, dass die deutsche Wortwahl nicht den Zugang zur befreienden Botschaft der Bibel verstellt. (BigS-Herausgabekreis 2007, 2) Eine Befragung im Jahr 2010 unter ca. 30 % der EKD-Gemeinden (repräsentative Stichprobe) anlässlich der Perikopenrevision ergab, dass lediglich 2-3 % der mit der Lesung betrauten Personen (insb. Pfarrperson, Kirchenvorstände) für ihre Lesungen häufig auf die BigS zurückgreifen (cf. Pickel/ Ratzmann 2010, 101). Zum regelmäßigen Einsatz kommt die BigS im Projekt Gottesdienst ge‐ schlechter*gerecht feiern der EKBO (Evangelische Kirche Berlin-Brandenburgschlesische Oberlausitz), wo sie eine der Grundlagen gendersensibler Liturgie ist (cf. EKBO 2020). Auf der Website des Projekts finden sich Materialien und Beispieltexte für Votum, Kyrie und Gloria, Lesung, Glaubensbekenntnis, Predigt, Fürbitte, Abendmahl, Sendung und Segen sowie Lieder. Interessanterweise wird ausgerechnet für das Vaterunser 7 kein Alternativtext angeboten, für dieses 115 Gendersensible Sprache im Kirchenkontext zentrale Gebet finden sich nur Predigttexte, die auf einer Metaebene vom Vaterunser handeln. Bereits 1997 bis 2001 waren die vier Bände der gottesdienst - Liturgische Texte in gerechter Sprache (Domay/ Köhler 1997-2001) sowie von 2003 bis 2005 vier weitere Bände zur liturgischen Arbeit in gerechter Sprache erschienen (Domay/ Köhler 2003a; 2003b; 2004; Domay/ Jungcurt/ Köhler 2005), die agendarisch ausgerichtet waren und „sowohl Frauen, anderen Religionen als auch allen Formen von unterdrückten Menschen wirklich gerecht werden“ sollten (Domay/ Köhler 2003a, Klappentext). Alle acht Bände sind heute aller‐ dings vergriffen. Auch in Frankreich ist seit Kurzem eine Neuübersetzung der Bibel erhält‐ lich: die Nouvelle Français Courant (im Folgenden NFC), 2019 nach drei Jahren Arbeit als revidierte Auflage der Bible en français courant erschienen. Beauftragt von der Alliance Biblique Française, waren an dem Projekt 57 Übersetzer*innen beteiligt, darunter elf Frauen. Es handelte sich um ein überkonfessionell-christliches (also nicht rein evangelisch besetztes) Team, das durch Mitglieder aus Frankreich, der Schweiz, Belgien, Kanada und der Republik Kongo für die Diversität der Frankophonie stehen sollte: „[…] l’une des forces de la Bible en français courant est d’être interconfessionnelle et diffusée dans l’ensemble de la francophonie“ (NFC 2019; Fettdruck aus Original nicht übernommen). Die NFC sollte eine Bibel für den breiten Gebrauch werden, bei der Übersetzung wurde sich deshalb am mündlichen Sprachgebrauch orientiert, um den Einsatz im Gottesdienst zu erleichtern und bei den Gläubigen breite Akzeptanz zu erreichen: „[…] la Nouvelle Français courant se veut accessible, son langage clair, fluide et contemporain“ (ABF 2019; Fettdruck aus Original nicht übernommen). Zugleich ist das Ziel dieser Übersetzung, nah am Originaltext zu bleiben: „Il s’agit d’une version intégrale et fidèle, qui traduit avec rigueur et respect tous les textes originaux“ (ABF 2019; Fettdruck aus Original nicht übernommen). Neben der Treue zu den Ausgangstexten wurde beim NFC-Projekt auch das Ziel verfolgt, den Bibeltext in Übereinstimmung mit den Originalen weniger androzentrisch zu gendern. La NFC, fidèle aux textes en langues originales, a choisi un langage épicène qui rende justice aux précisions apportées en grec ou en hébreu. Lorsque le grec ou l’hébreu emploie un terme qui désigne à la fois les hommes et les femmes, elle a choisi des termes épicènes (c’est à dire neutre, non genré et donc non sexiste) comme être humain, personne, quelqu’un… (ABF 2019) 116 Kristina Bedijs 8 Stichprobenhaft hier einige Beispielverse jeweils in den Übersetzungen Lutherbibel 2017/ Bibel in gerechter Sprache (BigS) 2006/ Segond révisée 1978/ Nouvelle Français Courant (NFC) 2019 (cf. ABF 2016): 1. Mose 1, 27 Lutherbibel 2017: „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau.“ BigS 2006: „Da schuf Gott Adam, die Menschen, als göttliches Bild, als Bild Gottes wurden sie geschaffen, männlich und weiblich hat er, hat sie, hat Gott sie geschaffen.“ Segond révisée 1978: „Dieu créa l’homme à son image: / Il le créa à l’image de Dieu, / Homme et femme il les créa.“ NFC 2019: „Dieu créa l’être humain / comme une image de lui-même; / il le créa à l’image de Dieu, il les créa homme et femme.“ Hesekiel 18, 20 Lutherbibel 2017: „Denn nur wer sündigt, der soll sterben. Der Sohn soll nicht tragen die Schuld des Vaters, und der Vater soll nicht tragen die Schuld des Sohnes, sondern die Gerechtigkeit des Gerechten soll ihm allein zugutekommen, und die Ungerechtigkeit des Ungerechten soll auf ihm allein liegen.“ BigS 2006: „Das Leben, das sich verfehlt, wird zugrunde gehen. Die nachfolgende Generation aber wird nicht für die Schuld der Vorfahren verantwortlich gemacht, die Vorfahren werden nicht für die Schuld der nachfolgenden Generation verantwortlich gemacht! Eine Person, die gerecht handelt, erfährt ihre Gerechtigkeit, einer Person, die ungerecht handelt, widerfährt ihre Ungerechtigkeit.“ Segond révisée 1978: „L’âme qui pèche, c’est celle qui mourra. Un fils ne supportera pas (le poids de) la faute de son père, et un père ne supportera pas (le poids de) la faute de son fils. La justice du juste sera sur lui, et la méchanceté du méchant sera sur lui.“ NFC 2019: „C’est la personne coupable qui doit mourir. Un enfant n’aura pas à payer pour les fautes de ses parents, ni les parents pour les fautes de leur enfant. Celui qui est juste sera récompensé d’agir avec justice et le méchant sera puni pour le mal qu’il fait.“ Im Ergebnis ist der NFC-Text dabei weit weniger radikal in Bezug auf Gender als die BigS. 8 Kanadische Beteiligte wären bei der genderlinguistischen Überar‐ beitung gern weiter gegangen, zumal der Diskurs in den französischsprachigen Gebieten Kanadas schon weiter fortgeschritten ist als in anderen Teilen der Frankophonie. Andererseits fielen die Reaktionen auf die NFC - anders als bei der BigS - im Allgemeinen sehr positiv aus, auch bei eher konservativen Evangelikalen, was mit einer radikaleren Bearbeitung möglicherweise nicht ge‐ lungen wäre. Valérie Duval-Poujol, Vizepräsidentin der FPF und Koordinatorin der NFC-Revisionskommission, ist überzeugt, dass die Neufassung der Bibel breite Zustimmung findet - „parce qu’elle convainc“ -, und dass die moderaten genderbezogenen Eingriffe in den Text sich allmählich durchsetzen werden: „Ça va s’infuser comme le thé“ (Valérie Duval-Poujol im persönlichen Gespräch 2020). 117 Gendersensible Sprache im Kirchenkontext 9 Auch im französischen Sprachraum ist die Terminologie nicht einheitlich. Der Service de l’égalité entre femmes et hommes der Université de Fribourg listet die Termini langage inclusif, rédaction égalitaire, écriture épicène, féminisation du langage, langage neutre, écriture non discriminatoire, langage non sexiste, langage dégenré auf und erläutert: „C’est un ensemble de règles et de pratiques qui cherchent à assurer l’égalité entre les femmes et les hommes dans l’utilisation du langage oral et écrit“ (UniFR s. a.). Damit ist zunächst schon einmal festgehalten, dass sich sämtliche Termini im Rahmen des binären Modells bewegen und die sprachliche Inklusion nichtbinärer Personen noch nicht vorgesehen ist. Im engeren Sinne bedeutet langage épicène eine Strategie, Begriffe zu verwenden, die keinen Genusmarker haben und im Plural daher geschlechtsneutral sind (z. B. les membres, les responsables, les fonctionnaires) oder die im Singular bereits semantisch geschlechtsneutral sind (z. B. la personne, le personnel, l’être humain). Mit langage inclusif ist gemeint, immer Frauen und Männer sprachlich sichtbar zu machen, z. B. durch Beidnennung (la pasteure ou le pasteur) oder durch den Einsatz eines typographischen Genderzeichens wie des Mediopunkts (les pasteur⸱e⸱s). Die genderlinguistische Entscheidung fiel auf langage épicène, nicht langage inclusif  9 , was im Detail bedeutet, dass Personenbezeichnungen durch neutrale Begriffe ersetzt wurden. Inklusives Gendern, das Geschlechtervielfalt beispiels‐ weise durch Punkt oder Asterisk sichtbar macht, ist ähnlich wie im Deutschen wesentlich auffälliger und wird in der Öffentlichkeit stärker kritisiert. Zudem stehen inklusive Formen wie pasteur.e aktuell noch oft dem Ziel der NFC ent‐ gegen, möglichst gebrauchsnah zu sein. Nicht zuletzt wirkt in Frankreich trotz staatlicher Laizität noch die lateinisch-katholische Tradition bei kirchlichen Themen, was Bemühungen um gendersensible Sprache ebenfalls ausbremst. So ist genderneutrale Sprache (langage épicène) durchaus im Gespräch für die Revision der Traduction œcuménique de la Bible (TOB), die für 2025 angekündigt wird (cf. Richelle 2019), „mais ce n’est pas encore dans le cahier des charges“ (Valérie Duval-Poujol im persönlichen Gespräch 2020). Im protestantischen Kirchenalltag Frankreichs sind Genderfragen noch eher eine Ausnahmeerscheinung. Gemeindliche Inklusionsbestrebungen gehen in Frankreich von einzelnen Pfarrpersonen aus. Die Gemeinde Saint-Guillaume in Strasbourg sticht mit ihrem besonderen Engagement für LGBTQIA*-Personen, Inklusion als Grundhaltung und mit geschlechterinklusiven Gottesdiensten aus der Gemeindelandschaft hervor. Dies wird auch aus der Selbstbeschreibung auf der Website der Gemeinde deutlich: Saint-Guillaume représente à la fois un lieu d’histoire et un lieu de vie tourné vers l’avenir au cœur de Strasbourg. L’accueil, la convivialité, la culture du débat et une lecture ouverte et critique des textes bibliques en fonction de l’actualité représentent des priorités pour le Conseil presbytéral. (Paroisse protestante Saint-Guillaume s. a.) 118 Kristina Bedijs 10 Französische Fassung: „L’étoile * indique qu’il n’existe pas uniquement deux genres, deux pôles, homme et femme, entre ciel et terre et attire ainsi le regard sur les différences entre les êtres humains.“ Die Schweizer Reformierte Kirche verwendet hauptsächlich die Zürcher Bibel (im deutschen Sprachraum). Spezielle Empfehlungen für die in der Schweiz erstellte Zürcher Bibel oder die Neue Genfer Übersetzung gibt es seitens der EKS oder der Schweizerischen Bibelgesellschaft nicht. Hingegen üben feminis‐ tisch-theologische Kreise Kritik an der Neuen Zürcher Bibel aufgrund ihrer androzentrischen Sprache (cf. Röll 2018). Schweizer Theolog*innen waren an den Übersetzungen der BigS und der NFC beteiligt. Während die NFC im fran‐ zösischen Sprachraum der Schweiz durchaus verbreitet ist, spielt die BigS in der Deutschschweiz eine ähnliche Rolle wie in Deutschland als sehr spezialisierte Ergänzung zu den anderen vorhandenen Bibelübersetzungen. Mit „aktuellen Geschlechterfragen aus Kirche und Gesellschaft“ befasst sich in der Schweiz die Fachstelle für Genderfragen und Erwachsenenbildung der reformierten Kirche Basel-Land, die sich außerdem „für geschlechtergerechte Theologie in Spiritualität, Gottesdiensten, Feiern und Ritualen ein[setzt]. Sie unterstützt ehrenamtliche und angestellte Mitarbeitende im gendergerechten Handeln in ihrer Arbeit im kirchlichen Umfeld“ (ERKBL 2020). Konkret bietet die Fachstelle Gesprächskreise und Informationsveranstaltungen für Frauen, Männer und Menschen mit Behinderung an, die sich an den jeweiligen Bedürf‐ nissen orientieren (Trauergruppen, Austauschgruppen für Alleinerziehende, Gottesdienste etc.). Das bislang einzige zweisprachig (deutsch und französisch) angelegte Projekt der Schweizer Kirchen mit Bezug zu gendersensibler Sprache stammt vom Arbeitskreis für Zeitfragen der Bieler Kirchgemeinde (Teil der Landeskirche Bern-Jura-Solothurn). Das Glossar Ehe für alle/ Repères terminologiques Mariage pour tous „[…] entstand anlässlich der Gesprächssynode der Reformierten Kir‐ chen Bern-Jura-Solothurn zum Thema ‚Ehe und Trauung für alle‘ […] in enger Zusammenarbeit mit Mitgliedern des Thinktanks ‚Sexualität im kirchlichen Kontext‘“ (AfZ Biel 2021, 5) und enthält 17 themenrelevante Stichworte mit Erklärungen. In der deutschen Fassung wird bei Personenbezeichnungen das Gendersternchen benutzt, dessen Bedeutung unter dem Stichwort LGBTIQ* erklärt wird: „Das Gendersternchen * macht darauf aufmerksam, dass es mehr gibt zwischen Himmel und Erde als zwei Geschlechter, zwei Pole, Mann und Frau und öffnet den Blick für die Vielfalt unter den Menschen“ (AfZ Biel 2021 (deutsch), 11). 10 Die französische Fassung verwendet ebenfalls inklusive Sprache, und zwar die optische Abtrennung der femininen Endung durch Bindestriche und 119 Gendersensible Sprache im Kirchenkontext 11 Für die Recherche der vier auf Deutschland bezogenen Tabellen wurde auf die Erkennt‐ nisse im Bericht von Spitz-Jöst (2017) zurückgegriffen. zusätzlich ein Sternchen: „Le terme ,transsexualité‘ n’est plus utilisé par de nombreux expert-e-s* car il est étroitement lié au fait que les personnes trans étaient considérées comme malades“ (AfZ Biel 2021 (französisch), 17). Die französische Version nutzt außerdem noch die Paarform: „Qui en est encore exclu-e? Que gagne ou que perd l’Église en admettant l’égalité pour toutes les chrétiennes et tous les chrétiens? “ (AfZ Biel 2021 (französisch), 7). In den meisten Instanzen neutralisieren aber beide Sprachfassungen die personenbezogenen Formulierungen durch , AD J + Personen‘, ,Menschen, welche…‘/ ,personnes + AD J ‘, ,personnes qui…‘ anstelle von genusmarkierten Personenbezeichnungen. 3.2 Sprache der Organisation Unter ,Sprache der Organisation‘ wird im Folgenden die Sprachverwendung der Kirchenverwaltung sowie in Kirchengesetzen verstanden. Dieser Abschnitt zeichnet die Entwicklung der Bemühungen um gendersensible Sprache durch Verordnungen und Leitfäden in den evangelischen Kirchen nach und zeigt anhand der Kirchenverfassungen und einiger aktueller Gesetze, inwieweit sprachliche Gendersensibilität bereits im Kirchenrecht verankert und umgesetzt ist. 3.2.1 Deutschland In Deutschland kann jede EKD-Gliedkirche für Verwaltung und Kirchenrecht eigene Sprachregelungen festlegen, die auch Hinweise zur gendersensiblen Formulierung umfassen können. Die 20 Gliedkirchen machen davon in unter‐ schiedlicher Weise Gebrauch. In der folgenden Tabelle 11 ist erfasst, in welchen Gliedkirchen es bereits eine Verwaltungsvorschrift oder einen Leitfaden für gendersensible Sprache gibt, welcher Geltungsbereich davon erfasst ist und ggf. auch welche Strategie(n) darin empfohlen werden: 120 Kristina Bedijs Was? Wann? Geltungsbereich ggf. empfohlene Strategie(n) Anhalt - EKIBA Handreichung/ Vorschläge Frauen & Männer in der Sprache in der evangelischen Landes‐ kirche in Baden 1997 Empfehlungen „für alle die‐ jenigen, die sich schriftlich und mündlich an eine Öffent‐ lichkeit aus Frauen und Män‐ nern wenden“ (Busch-Wagner/ Schellhorn 1997, 7) in allen kirchlichen Handlungsfeldern „inklusive Sprache - also eine Frauen mit ein‐ beziehende Sprache“ (Busch-Wagner/ Schell‐ horn 1997, 20): „1. Differenzieren […] 2. Neutralisieren bzw. geschlechtsübergreifend formulieren […] 3. Neuverwenden oder Neubilden von Worten […] 4. Aufheben alter Rollen- und Rang‐ zuschreibungen“ (Busch-Wagner/ Schellhorn 1997, 21-23) Leitfaden Inklusive Sprache in rechtlichen Texten (unveröffent‐ licht) 1997 „rechtsrelevante Texte, also Gesetze, Ordnungen, Verord‐ nungen, Satzungen und dgl.“ (EKIBA/ Die Gleichstellungsbe‐ auftragte 1997, 1) Verweis auf Kirchenamt der EKD 1992: kein generisches Maskulinum, kein Disclaimer, kein Binnen-I (cf. EKIBA/ Die Gleichstellungs‐ beauftragte 1997, 1), „1. Differenzieren […] 2. Neutralisieren bzw. geschlechtsübergreifend formulieren […] 3. Neuverwenden oder Neu‐ bilden von Worten […]“ (EKIBA/ Die Gleich‐ stellungsbeauftragte 1997, 3-6) ELKB Beschluss „Die zeitgemäße Sprache in Gesetzen“ des Rechts- und Verfassungsausschusses, Feb. 1991 (Landessynode der Evang.-Luth. Kirche in Bayern 1991, 179), zur Kenntnis ge‐ nommen und in den Ausschuss verwiesen durch die Landes‐ synode April 1991 (cf. Landes‐ synode der Evang.-Luth. Kirche in Bayern 1991, 81-82) 1991 Vorschriftensprache (Kirchen‐ gesetze, Rechtsverordnungen), Amtssprache (Entscheidungen, Mitteilungen, Aufforderungen, Vordrucke, Schriftverkehr; cf. Landessynode der Evang.-Luth. Kirche in Bayern 1991, 179) Vorschriftensprache: kein generisches Mas‐ kulinum, stattdessen Partizip, Passiv, ge‐ schlechtsneutrale Begriffe, Umschreibungen mit „wer…“ bzw. Adjektiven; kein Binnen-I, keine Sparschreibungen, keine Paarformeln; Amtssprache: Frauen und Männer konkret ansprechen und bezeichnen (cf. Landes‐ synode der Evang.-Luth. Kirche in Bayern 1991, 179) 121 Gendersensible Sprache im Kirchenkontext Was? Wann? Geltungsbereich ggf. empfohlene Strategie(n) ELKB Beschluss der Landessynode zur inklusiven Sprache 1998 „bei kirchlichen Äußerungen“ (Landessynode der Evang.-Luth. Kirche in Bayern 1998, 158) „inklusive Sprache“ (Landessynode der Evang.-Luth. Kirche in Bayern 1998: 158 - hier bezogen auf Frauen und Männer) EKBO Gleichstellungsgesetz 2003 Kirchengesetze, Rechtsvor‐ schriften, Schriftverkehr (cf. EKBO 2003) §3, 3: „Es sind entweder geschlechtsneutrale Personenbezeichnungen zu verwenden oder die weibliche und die männliche Sprachform aufzuführen.“ (EKBO 2003) EKBS - BEK - Han‐ nover Rundverfügung G4/ 1991 Gleich‐ berechtigung von Frauen und Männern in der Sprache 1991 „bei Agenden, neuen Liedtexten und Gebeten sowie bei neuen Gesetzen und Verordnungen“, „bei Formularen und im Schrift‐ verkehr“ (Hannover 1991) Paarform, Spezifizierung, Disclaimer, Quer‐ strich, geschlechtsneutrale Personenbezeich‐ nung, kein Binnen-I (cf. Hannover 1991) EKHN Beschluss der Kirchenleitung zu gendergerechter Sprache 2018 Dokumente der Kirchenverwal‐ tung und der Zentren (cf. EKHN Stabsbereich Chancengleichheit 2018a) „[…] möglichst gendergerechte Sprache durch Benutzung von neutralen Bezeichnungen und Begriffen, Umformulierungen mit Infi‐ nitiv oder Passiv, Anwendung von Plural, Verben, Adjektiven oder direkter Anrede […]. Ist eine solche Formulierung nicht möglich, ist es den Mitarbeitenden der Kirchenverwaltung und der Zentren freige‐ stellt, on [sic] sie die Schreibweise in Paar‐ form oder die Sternchenschreibweise ver‐ wenden. In Rechtstexten ist neben neutraler Sprache nur die Schreibweise in Paarform anzuwenden.“ (EKHN Stabsbereich Chancen‐ gleichheit 2018a) 122 Kristina Bedijs Was? Wann? Geltungsbereich ggf. empfohlene Strategie(n) EKHN Formulierungshilfe Info- Schreiben zum gendergerechten Formulieren 2018 Verweis auf EKHN Stabsbereich Chancengleichheit 2018a Beispiele für Anreden, geschlechterspezifi‐ sche Formulierungen, Neutralisieren der Be‐ zeichnungen, Umformulierungen mit Infi‐ nitiv, Passiv, durch Benutzen von Verben, Adjektiven, Umformulierungen mit Verb oder Adjektiv statt Substantiv, Weglassen der geschlechtszuweisenden Anrede (cf. EKHN Stabsbereich Chancengleichheit 2018b, 2-4) EKKW Beschluss der Landessynode 2013 „Vorschriften- und Verwaltungs‐ sprache“ (EKKW 2013) Vorschriftensprache: „1. geschlechtsneutrale Personenbezeichnungen […] 2. kreative Um‐ schreibungen, die es ermöglichen, auf Perso‐ nenbezeichnungen zu verzichten […] 3. Paar‐ formen“ sowie Orientierung am Handbuch für Rechtsförmlichkeit (EKKW 2013) Verwaltungssprache: „Paarformen […] voll ausgeschrieben […]. Im Übrigen sind die Grundsätze der Vorschriftensprache entspre‐ chend zu beachten“ (EKKW 2013) Beschluss des Kollegiums des Landeskirchenamts 2019 „schriftliche Äußerung des Lan‐ deskirchenamtes sowie der üb‐ rigen unselbständigen Einrich‐ tungen der Landeskirche“, „alle Texte, die nicht der Vorschriften- oder Verwaltungssprache […] zuzurechnen sind“ (EKKW 2019) „neutrale Bezeichnungen und Begriffe, Um‐ formulierungen mit Infinitiv oder Passiv, An‐ wendung von geschlechtsneutralem Plural, Verben, Adjektiven oder direkte Anrede. […] Schreibweise in Paarform [oder] mit Gender‐ star“, „Gender-Unterstrich […] nicht emp‐ fohlen“ (EKKW 2019) Lippe - EKM - 123 Gendersensible Sprache im Kirchenkontext Was? Wann? Geltungsbereich ggf. empfohlene Strategie(n) Nord‐ kirche Geschlechtergerechtigkeitsge‐ setz 2013 Kirchengesetze und andere Rechtsvorschriften, Schriftver‐ kehr, Veröffentlichungen (cf. Nordkirche 2013) „sprachliche Gleichbehandlung von Frauen und Männern“ (Nordkirche 2013) ELKiO Beschluss der Landessynode 2009 Kirchengesetze „geschlechterspezifische Sprache mit der Er‐ wähnung der weiblichen und männlichen Form“ (ELKiO 2009a, 6) Handreichung Auf ein Wort, 1. Aufl. 2011 „Vorschläge für Sprachregelun‐ gen für Pressemitteilungen, Dienstvereinbarungen und Rundverfügungen“ (ELKiO 2011, 2) „von Frauen und Männern gleichberechtigt und differenzierend reden“ (ELKiO 2011, 4); kein generisches Maskulinum, stattdessen geschlechtsneutrale Bezeichnungen, Paarfor‐ meln, Reihenfolge der Geschlechter abwech‐ seln, „man“ und „jeder“ vermeiden (cf. ELKiO 2019, 7) Handreichung Auf ein Wort, 2. Aufl. 2019 „z. B. Pressemitteilungen, Dienstvereinbarungen und Rundverfügungen“ (nicht ver‐ pflichtende Empfehlungen, cf. ELKiO 2019, 4) „[…] von Frauen, Männern und Menschen, die sich anders definieren […], gleichberechtigt und differenzierend reden“ (ELKiO 2019, 7); kein generisches Maskulinum, kein Dis‐ claimer, stattdessen geschlechtsneutrale Be‐ zeichnungen, Genderstern, Paarformeln, Zu‐ satz (m/ w/ d), dem Geschlecht entsprechende Anrede (cf. ELKiO 2019, 7) Pfalz Gleichstellungsordnung 2005 neue Gesetze/ Gesetzesände‐ rungen (cf. Spitz-Jöst 2017, 21) §1 (3): „Auf den Gebrauch der geschlechterge‐ rechten Sprache ist zu achten.“ Handbuch für Presbyterinnen und Presbyter 2020 „In der Gemeinde und im Pres‐ byterium“ (Pfalz 2020, 14) Verweis auf Empfehlungen in EKD/ EWDE 2020 124 Kristina Bedijs Was? Wann? Geltungsbereich ggf. empfohlene Strategie(n) Refor‐ mierte Kirche - EKiR Leitlinien zur Abfassung von Ge‐ setzestexten, Verordnungen und Formularen 1995 Neufassung von Gesetzestexten, Verordnungen, Formularen (cf. EKiR 1995) kein generisches Maskulinum, stattdessen dem Geschlecht entsprechende Anrede, ge‐ schlechtsindifferente Bezeichnungen, Paar‐ formeln (cf. EKiR 1995 - nahezu wortgleich zu EKvW 1994a) Gleichstellungsgesetz 2001 Kirchengesetze und andere Rechtsvorschriften, Schriftver‐ kehr (cf. EKiR 2001) „Sofern geschlechtsneutrale Personenbe‐ zeichnungen nicht gefunden werden können, sind die weibliche und männliche Sprachform zu verwenden.“ (EKiR 2001) EVLKS Gleichstellungsordnung 2011 „In allen Arbeitsbereichen der Landeskirche“ (EVLKS 2011) „Sprache […], die niemanden ausgrenzt“ (EVLKS 2011 - hier bezogen auf Frauen und Männer) LKSL - EKvW Leitlinien zur Abfassung von Ge‐ setzestexten, Verordnungen und Formularen 1994 Gesetzestexte, Verordnungen, Formulare (cf. EKvW 1994a) „[…] von Frauen und Männern gleichberechtigt und differenziert reden“ (EKvW 1994a, 82); kein generisches Maskulinum, stattdessen dem Geschlecht entsprechende Anrede, ge‐ schlechtsindifferente Bezeichnungen, Paar‐ formeln (cf. EKvW 1994a, 82) Leitlinien für die kirchliche All‐ tagssprache 1994 „in allen kirchlichen Arbeitsbe‐ reichen“ (mündlich und schrift‐ lich) (cf. EKvW 1994b) keine sprachlichen Geschlechterstereotypen (cf. EKvW 1994b, 85-87); Spezifizierung, Paar‐ form, neutrale Begriffe (cf. EKvW 1994b, 87) 125 Gendersensible Sprache im Kirchenkontext Was? Wann? Geltungsbereich ggf. empfohlene Strategie(n) EKvW Anregungen zur gerechten Sprache im Gottesdienst 1994 Gottesdienst „Sprache vermeiden, die stereotype Wertset‐ zungen enthält“ (EKvW 1994c, 89-90); Frauen und Männer ausdrücklich benennen, von Gott ohne Geschlechtsstereotype und ohne rein maskuline Pronomina sprechen, männ‐ liche und weibliche Gottesbilder evozieren (cf. EKvW 1994c, 90-95) Gleichbehandlungsrichtlinien 1995 Gesetzestexte, Verordnungen, Formulare (cf. EKvW 1995) „geschlechtsneutrale[…] Umformulierungen, Paarformeln“, ausführliche „praktische Hin‐ weise“ für diverse Anwendungsfälle (EKvW 1995) ELKWUE Für eine Sprache, die Frauen an‐ spricht - Empfehlungen 1996 „bei jeder umfangreichen Än‐ derung von Gesetzes- und Rechtstexten und bei Neuer‐ scheinungen“ (Bartsch 1996, 5) Schrägstriche nur bei Formularen, kein Binnen-I (cf. Bartsch 1996, 6); Strategien Rechtssprache: Paarform, Um‐ formulierungen, geschlechtsübergreifende Formulierungen (cf. Bartsch 1996, 7); Vorschriftensprache: Paarform, Plural‐ form, geschlechtsübergreifende Substantive, Umformulierungen (cf. Bartsch 1996, 8-9); Alltagssprache: zeitgemäße Anredeformen, Paarform, dem Geschlecht entsprechende An‐ sprache, Umformulierung (cf. Bartsch 1996, 10-13) EKD Empfehlungen zur sprachlichen Gleichbehandlung von Frauen und Männern in der Rechts- und Verwaltungssprache der EKD 1991 Amtssprache, normgebundene Verwaltungssprache, Vorschrif‐ tensprache (cf. Häfner 1991, 1) Paarformeln, Schrägstrichlösungen, kein Binnen-I, geschlechtsindifferente Begriffe, Umformulierungen (cf. Häfner 1991, 5) 126 Kristina Bedijs Was? Wann? Geltungsbereich ggf. empfohlene Strategie(n) EKD Ratsbeschluss zu geschlechter‐ gerechter Sprache 1992 „amtliche sowie normgebun‐ dene Sprache (Entwürfe für Gesetze, Verordnungen, Richtli‐ nien und Vorschriften, die im Kirchenamt erarbeitet werden)“ (Kirchenamt der EKD 1992) Verweis auf Häfner 1991 Leitlinien Und schuf sie als Mann und Frau 1996 Verlautbarungen Strikte Zweigeschlechtlichkeit, Geschlechts‐ spezifik statt -neutralität (cf. FSBZ 1996) Synodenbeschluss zur ge‐ schlechtergerechten Gesetzes‐ sprache 1998 Grundordnung, „Kirchengesetze bei deren jeweils nächster No‐ vellierung sowie alle neuen Kir‐ chengesetze“ (EKD 1998, 491) Synodenbeschluss zur ge‐ schlechtergerechten Novellie‐ rung der Grundordnung 2000 Grundordnung (cf. EKD 2000, 458) konkrete zu ändernde Passagen in Paarform (cf. EKD 2000, 458) Sie ist unser bester Mann - Wirk‐ lich? 2020 „in Wort und Schrift“ (EKD/ EWDE 2020, 3 - keine Vor‐ schrift) Partizip, geschlechtsumfassende Begriffe, Umformulierung, neutraler Plural, Gender‐ zeichen, Abwechseln, Paarform (EKD/ EWDE 2020, 4-10) Ratsbeschluss zu geschlechter‐ gerechter Sprache 2020 „schriftliche Kommunikation der EKD“ (EKD 2020a) „geschlechtsneutrale Formen [geschlechts‐ indifferente Formen/ Pluralformen/ Umschrei‐ bungen], Formen, die geschlechtliche Vielfalt sichtbar machen [Asterisk, Paarform]“ (EKD 2020a) Tab. 1: Leitfäden, Beschlüsse und Verordnungen der EKD-Gliedkirchen zu gendersensibler Sprache 127 Gendersensible Sprache im Kirchenkontext Da gendersensible Sprachregelungen oft im Bereich der Gleichstellungsstelle entwickelt werden, lohnt sich auch der Blick in die Gleichberechtigungsgesetze der Gliedkirchen, sofern vorhanden. In einigen ist bereits ein Hinweis zum Umgang mit Sprache zu finden: Ak‐ tuelle Fas‐ sung Bezug zu Sprache? ggf. emp‐ fohlene Strategie(n) Anhalt - EKIBA 2001 nein (cf. EKIBA 2001) ELKB 2002 §5 Stellenausschreibung: „Zu besetzende Stellen sind in der weiblichen und männlichen Sprachform auszuschreiben, es sei denn, dass ein bestimmtes Geschlecht unverzichtbare Voraussetzung für die Tätigkeit ist.“ (ELKB 2002) EKBO 2003 § 3 Sprache: „1 Kirchengesetze und andere Rechts‐ vorschriften sollen sprachlich der Gleichstellung von Frauen und Männern Rechnung tragen. 2 Im Schriftverkehr ist dieser Grundsatz umzusetzen. 3 Es sind entweder geschlechtsneutrale Perso‐ nenbezeichnungen zu verwenden oder die weib‐ liche und die männliche Sprachform aufzuführen.“ (EKBO 2003) Neutrali‐ sierung, Paarform EKBS 1994 „Die Frauenbeauftragte fördert eine Sprache, die Frauen und Männer einbezieht.“ (EKBS 1995; Her‐ vorhebung i. O.) 2004 § 5 Stellenausschreibung: „1. Zu besetzende Stellen sind in der weiblichen und männlichen Sprachform auszuschreiben.“ (EKBS 2004) Paarform BEK 2007 „2. Aufgaben der Frauenbeauftragten, 2.6 - Die Frauenbeauftragte fördert in der Kirche eine Sprache, die Frauen und Männer einbezieht.“ (BEK 2007) Han‐ nover 2012 §11 Stellenausschreibungen: „In der Stellenaus‐ schreibung ist das unterrepräsentierte Geschlecht ausdrücklich anzusprechen.“ (Hannover 2012) situations‐ spezifisch EKHN 2011 nein (cf. EKHN 2011) EKKW - Lippe - 128 Kristina Bedijs EKM 2011 nein (cf. EKM 2011) Nord‐ kirche 2013 § 3 Sprache: „1 Kirchengesetze und andere Rechtsvorschriften sollen sprachlich der Gleichstellung von Frauen und Männern Rechnung tragen. 2 Im Schriftver‐ kehr sowie in Veröffentlichungen ist auf die sprachliche Gleichbehandlung von Frauen und Männern zu achten.“ (Nordkirche 2013) ELKiO 2009 nein (cf. ELKiO 2009b) Pfalz 2005 § 1 Gleichstellungsarbeit: „3. Auf den Gebrauch der geschlechtergerechten Sprache ist zu achten.“ (Pfalz 2005) Refor‐ mierte Kirche - EKiR 2001 § 3 Sprache: „Kirchengesetze und andere Rechtsvorschriften sollen sprachlich der Gleichstellung von Frauen und Männern Rechnung tragen. Im Schriftver‐ kehr ist auf die sprachliche Gleichbehandlung von Frauen und Männern zu achten. Sofern ge‐ schlechtsneutrale Personenbezeichnungen nicht gefunden werden können, sind die weibliche und männliche Sprachform zu verwenden.“ (EKiR 2001) Neutral‐ formen, Paarform EVLKS 2011 §1 Zielsetzung: „(2) In allen Arbeitsbereichen der Landeskirche soll eine Sprache gebraucht werden, die niemanden ausgrenzt. In der Sprache soll die Gemeinschaft von Frauen und Männern ihren angemessenen Ausdruck finden.“ (EVLKS 2011) LKSL - EKvW 1996 nein (cf. EKvW 1996) ELKWUE 2007 § 1 Aufgaben [des oder der Beauftragten für Chan‐ cengleichheit von Frauen und Männern]: „Sie oder er […] tritt für eine Frauen und Männer berücksichtigende Sprache in kirchlichen Veröf‐ fentlichungen und Medien ein.“ (ELKWUE 2007) EKD 2020 nein (cf. EKD 2020c) Tab. 2: Gleichstellungsgesetze der EKD-Gliedkirchen und darin enthaltene Hinweise zur Sprachverwendung 129 Gendersensible Sprache im Kirchenkontext 12 Cf. beispielsweise das Faltblatt Und schuf sie als Mann und Frau (FSBZ 1996): „Es gibt Menschen nur als Männer und Frauen. […] Die neutrale Rede vom ‚Menschen‘ verwischt diese Unterschiede bzw. negiert sie, bevor ihre Möglichkeit überhaupt geprüft wurde.“ Die Vorschriftenlandschaft ist sehr komplex und aufgrund der Wandlungen der Institutionen teilweise schwer überschaubar. So haben sich in den 1990er Jahren beispielsweise die evangelische Kirche der Kirchenprovinz Sachsen und die evangelische Kirche Thüringen (wie die meisten Landeskirchen) jeweils Vorschriften zur sprachlichen Gleichbehandlung von Frauen und Männern gegeben (cf. Schaller/ Boß 2014, 3). Für die aus diesen Kirchen hervorgegangene heutige Evangelische Kirche in Mitteldeutschland sind diese jedoch nicht mehr bindend. Im Zuge des Zusammenschlusses der beiden Kirchen wurde in einem zehn Jahre dauernden Prozess die Möglichkeit eruiert, die Anwendung geschlechtergerechter Sprache in Verfassungstexten zu beschließen, ein Vorschlag zur geschlechtergerechten Formulierung der Kirchenverfassung von der Synode 2018 aber knapp abgelehnt (cf. epd 2018). Andere Verordnungen oder Leitfäden der 1990er Jahre sind nicht mehr allgemein auffindbar, sodass davon ausgegangen werden muss, dass ihre Wirkungskraft eher begrenzt war, es sei denn, es existiert inzwischen eine aktuelle Version. Die vielen empfohlenen Strategien in den Leitfäden zeigen, dass geschlech‐ terbezogene sprachliche Inklusivität sehr unterschiedlich weit ausgelegt wird. Dies hat auch damit zu tun, dass der Diskurs sich seit Jahren immer weiter öffnet: Während anfangs (1990er Jahre) eine sprachliche Sichtbarma‐ chung von Frauen das Ziel war, 12 sind etwa seit 2010 auch Menschen im Blick, die sich weder männlich noch weiblich identifizieren. Noch nicht alle Gliedkirchen haben ihre Verwaltungsvorschriften bereits entsprechend erweitert. Zugleich sind viele Verfügungen bezüglich eindeutiger Sprachre‐ gelungen eher zurückhaltend, so zum Beispiel die Rundverfügung G4/ 1991 der Landeskirche Hannovers: Wir wollen und können keine allgemein gültigen Regeln aufstellen. Auch ist zu beachten, was sich allgemein durchsetzen wird. […] Bei allen Bemühungen um eine Frauen und Männern gleichermaßen gerecht werdende Sprache wird aber immer wichtig bleiben, daß der Text lesbar und möglichst auch sprechbar ist und daß seine Verständlichkeit nicht leidet. (EVLKA 1991) Der wenig autoritäre Duktus dieser Rundverfügung und das Fehlen klarer Vorschriften führte offenbar dazu, dass in den Kirchenverwaltungen zunächst Unklarheit darüber herrschte, ob die Empfehlungen überhaupt bindend seien 130 Kristina Bedijs 13 Cf. auch eine ähnliche Einschätzung der Sachlage in der ELKB aus dem Jahr 1991: „Deutlich wurde sowohl aus der Lektüre des Berichts der interministeriellen Arbeits‐ gruppe wie auch durch die Referate, wie umfangreich kompliziert und vielschichtig die Thematik ist und daß eine abschließende Sofortlösung nicht möglich ist. Viel‐ mehr müssen - wie übrigens auch im staatlichen Bereich - Erfahrungen gesammelt werden und Neuformulierungen schrittweise erfolgen […]“ (Landessynode der ELKB 1991, 81). und wie sie genau umzusetzen wären. Die Rundverfügung K13/ 1995 präzisiert deshalb vier Jahre später: […] in der o. a. Rundverfügung hatten wir die Kirchengemeinden, Kirchenkreise, Sprengel und kirchliche Einrichtungen gebeten, bei Formularen und im Schriftverkehr eine Frauen und Männern gleichermaßen gerecht werdende Sprache zu verwenden. Dieser Bitte wird erfreulicherweise in der Regel entsprochen. […] Damit in der Rechtssprache bei Verwendung von Personenbezeichnung [sic] möglichst einheitlich verfahren wird, haben wir anliegende Verwaltungsvorschriften erlassen, die wir hiermit zur Kenntnis geben. (EVLKA 1995) Besonders bemerkenswert ist, dass bereits in der Rundverfügung von 1991 die Argumente für geschlechtergerechte Sprache den heute dazu vorgetragenen Ar‐ gumenten sehr ähneln - es ändert sich also nichts an der Begründung, sondern lediglich an konkreten Umsetzungen und an der Notwendigkeit, für bestimmte Bereiche Regularien aufzustellen. Auch war schon 1991 den Verantwortlichen bewusst, dass gendersensible Sprache sich nicht herbeiregulieren lässt und der Weg hin zu sprachlicher Gerechtigkeit ein Aushandlungsprozess ist 13 - auch dies ist im Jahr 2021 noch der Fall, wenngleich es laute Stimmen gibt, die entweder den völligen Verzicht aufs ,Gendern‘ fordern oder klare einheitliche Regeln, um die leidige Diskussion zu beenden. Viele Verordnungen und Leitfäden empfehlen bereits sehr früh neutrale Formen oder eine „Sprache […], die niemanden ausgrenzt“ (EVLKS 2011), was durchaus auf eine Akzeptanz geschlechtlicher Vielfalt hindeutet. In der Praxis wird die Paarform jedoch bis heute bevorzugt - konkret ablesbar an den Umsetzungen in den Kirchenverfassungen/ Grundordnungen (Tab. 3) und aktuell erlassenen Kirchengesetzen (Tab. 4): 131 Gendersensible Sprache im Kirchenkontext Aktuelle Fassung Gender‐ sensibel? ggf. eingesetzte Strategie(n) Anhalt 2019 - EKIBA 2020 + Paarform ELKB 2020 + Paarform EKBO 2021 + Paarform EKBS 2021 - BEK 2006 - Han‐ nover 2019 + geschlechtsneutrale Bezeichnungen, Paarform EKHN 2020 + Paarform EKKW 2019 - Lippe 2018 +/ - Paarform (nicht angewendet bei „der Kirchen‐ älteste“) EKM 2018 +/ - Disclaimer („Frauen und Männer“) Nord‐ kirche 2021 + Paarform ELKiO 2018 - Pfalz 2020 + Paarform Refor‐ mierte Kirche 2019 + Paarform EKiR 2021 + geschlechtsneutrale Bezeichnungen, Paarform EVLKS 2019 +/ stellenweise Paarform LKSL 2019 - EKvW 2021 + Paarform ELKWUE 2021 - EKD 2020 + Paarform Tab. 3: Sprachverwendung in den Verfassungen/ Grundordnungen der EKD-Gliedkirchen 132 Kristina Bedijs Gesetz Gender‐ sensibel? ggf. eingesetzte Strategie(n) Anhalt Haushaltsgesetz 2020 - EKIBA Notfallgesetz 2020 +/ - Paarform, Partizip, bei zu‐ sammengesetzten Begriffen Maskulinum („Mitarbeiter‐ vertretung“) ELKB Haushaltsgesetz 2020 - EKBO Haushaltsgesetz 2020/ 2021 + Paarform, Partizip, bei zu‐ sammengesetzten Begriffen Maskulinum („Wirtschafter‐ befugnis“) EKBS Haushaltsgesetz 2020 + Paarform, Partizip BEK Kirchensteuerbeschluss 2020 - Han‐ nover Haushaltsbeschluss 2021/ 2022 + Paarform, Partizip EKHN Kirchengesetz zur Pfarr‐ stellenbemessung 2017 + Paarform EKKW Beschluss zur Dienst‐ zimmerentschädigung 2020 + Paarform Lippe Theologische Prüfungsord‐ nung II 2020 + Paarform EKM Verordnung Pfarrdienst im privatrechtlichen Dienstver‐ hältnis 2019 + Paarform Nord‐ kirche Vereinbarung Koordinierungskommission Schleswig-Holstein 2020 + Paarform ELKiO Landeskirchensteuerbe‐ schluss 2019 und 2020 - Pfalz Beschluss über die Zulas‐ sung zum Patenamt 2020 +/ - Paarform bis auf einzelne Begriffe: „Patenamt“, „der Täufling“, „Konfirmandenarbeit“ Refor‐ mierte Kirche Lektorenordnung 2019 +/ - Paarform, bei zusammen‐ gesetzten Begriffen Masku‐ linum („Lektorendienst“) 133 Gendersensible Sprache im Kirchenkontext Gesetz Gender‐ sensibel? ggf. eingesetzte Strategie(n) EKiR Kirchengesetz über das Gemeinsame Pasto‐ rale Amt 2020 + Paarform, Partizip EVLKS Verordnung zur Neubildung der Kirchenvorstände 2020 - LKSL Geschäftsordnung der Landessynode 2020 - EKvW Förderrichtlinien „Team‐ Geist“ 2020 + Partizip ELKWUE Aufbauausbildungsordnung 2020 + Paarform EKD Richtlinien zur Vergabe von Austauschstipendien der EKD 2020 + Paarform Tab. 4: Sprachverwendung in aktuellen Kirchengesetzen der EKD-Gliedkirchen (2019/ 2020) Als erste Landeskirche hob 2018 die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau in einem Kirchenleitungsbeschluss explizit auf die Akzeptanz einer Geschlechter‐ vielfalt ab und forderte Neutralbezeichnungen oder Sternchenschreibweise ein: Die Kirchenleitung beschließt, dass bei der Erstellung von Dokumenten der Kirchen‐ verwaltung und der Zentren möglichst gendergerechte Sprache durch Benutzung von neutralen Bezeichnungen und Begriffen, Umformulierungen mit Infinitiv oder Passiv, Anwendung von Plural, Verben, Adjektiven oder direkter Anrede zu verwenden ist. Ist eine solche Formulierung nicht möglich, ist es den Mitarbeitenden der Kirchen‐ verwaltung und der Zentren freigestellt, on [sic] sie die Schreibweise in Paarform oder die Sternchenschreibweise verwenden. (EKHN Stabsbereich Chancengleichheit 2018a) Eine Formulierungshilfe aus dem Stabsbereich Chancengleichheit bekräftigt dies, indem anstelle der sonst häufig verwendeten Formel beide Geschlechter hier von „allen Geschlechtern“ die Rede ist: „Geschlechtergerechte Sprache bedeutet, dass alle Geschlechter sichtbar gemacht werden, nicht nur mitgemeint sind“ (EKHN Stabsbereich Chancengleichheit 2018b). Auch die EKD hat die geschlechtliche Vielfalt in ihre Sprachregelungen aufge‐ nommen. Die Ende 2018 in Kraft getretene Neuregelung im Personenstandsgesetz für intergeschlechtliche Menschen (bekannt als ,Dritte Option‘ oder dritter posi‐ tiver Geschlechtseintrag) war 2019 Anlass für die EKD-Synode, den Rat mit der 134 Kristina Bedijs 14 Die aktuelle Auflage des Handbuchs ist von 2008. Seither ist nicht nur der gesellschaft‐ liche Diskurs beim Thema Geschlechtervielfalt vorangeschritten, es hat sich auch, wie bereits angemerkt, die Gesetzgebung geändert. Mindestens auf die Änderung des Personenstandsrechts und die Schaffung des dritten positiven Geschlechtseintrags für intergeschlechtliche Personen dürfte die nächste Auflage eingehen und Vorgaben zur sprachlichen Einbeziehung dieser Menschen machen. Sofern das Handbuch dann auch Genderzeichen als mögliche Option aufführt, würden auch EKD-Normtexte zukünftig mit Asterisk gendern können. Fortschreibung der Sprachregelungen zu beauftragen. Am 19. Juni 2020 beschloss der Rat der EKD die neuen Empfehlungen für eine geschlechtergerechte Sprache in schriftlichen Äußerungen der EKD sowie in Normtexten: „Die schriftliche Kommuni‐ kation der EKD ist geschlechtergerecht zu gestalten“ (Rat der EKD 2020). Die Empfehlungen beziehen sich auf „geschlechtsneutrale Formen“ - dar‐ unter geschlechtsindifferente Personenbezeichnungen, Pluralformen und ver‐ schiedene Umformulierungen - sowie „Formen, die geschlechtliche Vielfalt sichtbar machen“, worunter der Asterisk „als aktuell gebräuchlichste[…] Form, um die Vielfalt der Geschlechter zum Ausdruck zu bringen“, sowie die Paarform, „wenn die Beteiligung von Frauen hervorgehoben werden soll“, fallen (alle Zitate nach: Rat der EKD 2020). Für Normtexte gilt weiterhin das Handbuch der Rechtsförmlichkeit in der jeweils aktuellen Fassung - was bedeutet, dass derzeit keine Schreibung mit Asterisk möglich ist. 14 Zur Umsetzung dieses Ratsbeschlusses wurde zeitgleich vom EKD-Referat Chancengerechtigkeit der Leitfaden Sie ist unser bester Mann (EKD/ EWDE 2020) mit Formulierungs‐ hilfen veröffentlicht. Darin werden die Optionen „Substantivierte Partizipien“, „Geschlechtsumfassende Begriffe“, „Verb oder Adjektiv statt Substantiv“, „Ge‐ schlechtsneutrale Pluralformen“, „Gender-Stern, -Unterstrich, -Doppelpunkt, …“, „Geschlechter abwechseln oder Paarformen verwenden“, „geschlechtsneu‐ trale Formen der persönlichen Ansprache“ und „grammatikalisches Geschlecht von Institutionen beachten“ vorgestellt. Zwar erstreckt sich der Ratsbeschluss lediglich auf schriftliche Kommunikation, jedoch setzt beispielsweise der ehe‐ malige Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm den Genderstern auch münd‐ lich durch den Glottal Stop vor der femininen Wortendung um, wie bei seinem Bericht auf der EKD-Synodentagung 2020 zu hören war (cf. EKD-Synode 2020). 3.2.2 Frankreich Wie oben bereits ausgeführt, forderte die Synode des französischen evangeli‐ schen Kirchenverbands FPF 2019 paritätische Repräsentation, 2020 wurde dieses Ziel in die Statuten aufgenommen. Formulierungen in den jeweiligen Texten wie les deux sexes bzw. les femmes et les hommes machen deutlich, dass die FPF noch ein binäres Geschlechterbild vertritt. 135 Gendersensible Sprache im Kirchenkontext Im Verband UEPAL wurde Ruth Wolff-Bonsirven 2012 zur inspectrice ec‐ clésiastique (etwa vergleichbar mit der deutschen Funktion der Regionalbi‐ schöf*innen) des Kirchenkreises Brumath (Elsass) ernannt. Sie setzt sich seitdem für die Verwendung femininer Funktionsbezeichnungen für Frauen in der UEPAL ein, z. B. inspectrice statt inspecteur, und erreichte 2014, dass der Präsident der UEPAL, Christian Albecker, eine note de service (‘Hausmitteilung’) zu femi‐ ninen Amts- und Funktionsbezeichnungen in der schriftlichen Kommunikation des Verbands aussandte: Chers collègues, Dans le but d’harmoniser les pratiques en matière de féminisation des titres utilisés dans les courriers, je vous demande à partir de la réception de la présente note de bien vouloir utiliser uniquement les titres suivants: • Madame l’Inspectrice ecclésiastique (ou Madame l’Inspectrice) • Madame la Pasteure • Madame la Députée au Consistoire supérieur (ou Madame la Députée) • Madame la Députée laïque • Madame la Déléguée au Synode, (ou Madame la Déléguée) • Madame la Présidente, Madame la vice-présidente • Madame la Secrétaire générale • Madame la Professeure Je vous remercie de me signaler d’éventuels cas ne figurant pas sur cette liste et posant question. (UEPAL 2014) In der Synode des Dachverbands FPF wurde über den Inhalt dieser Hausmit‐ teilung bisher nicht abgestimmt, er soll aber bis zu einer grundsätzlichen Entscheidung immer wieder auf die Tagesordnung genommen werden (Ruth Wolff-Bonsirven im persönlichen Gespräch 2020). Weitere Bemühungen um gendersensible Sprache finden sich bei der EPCAAL, wo der Consistoire supérieur 2018 die Resolution Équilibre et équité femmes/ hommes verabschiedet und dem übergeordneten Verband UEPAL zur weiteren Diskussion empfohlen hat: Le Consistoire supérieur de l’Église protestante de la Confession d’Augsbourg d’Alsace et de Lorraine (EPCAAL) […] recommande que les textes produits par les différentes instances de l’EPCAAL adoptent une formulation inclusive pour soutenir symboliquement l’équité entre les hommes et les femmes […] . Il encourage toutes les instances de l’EPCAAL à s’approcher le plus possible de la règle des quotas de la Fédération luthérienne mondiale (au minimum 40 % d’hommes, 40 % 136 Kristina Bedijs 15 Die folgenden Mitgliedsorganisationen stellen keine Statuten zur Verfügung: Com‐ munauté des Eglises d’expressions africaines Francophone (CEAF), Communion des Eglises de l’espace francophone (CEEF), Eglise de Pentecôte de France (EPF), Eglise Hillsong de Paris, Eglise protestante malgache en France (EPMF), Fédération des Eglises coréennes en France (FECF), Mission évangélique tzigane de France (METF), Union d’Assemblées de Dieu membre de la FPF (ADFP), Union d’assemblées protestantes en mission (UAPM), Union de l’Eglise de Dieu en France (UEDF), Union des Eglises évan‐ géliques arméniennes de France (UEEAF), Union de l’Eglise évangélique méthodiste de France (UEEMF) (nur auf Englisch verfügbar), Union des Eglises évangéliques de Réveil (UEER), Union des Eglises protestantes évangéliques Horizon (UEPEH), Union des Eglises protestantes Foursquare France (UEPFF), Union de l’Eglise protestante du Nazaréen (UEPN). de femmes et 20 % de jeunes de moins de 30 ans) en ce qui concerne la composition des Conseils presbytéraux, consistoriaux ou d’Inspection, du Consistoire supérieur, des délégations ecclésiales dans les organismes nationaux ou internationaux […]. (EPCAAL 2018) Auch hier impliziert die Formulierung „les hommes et les femmes“ noch Zwei‐ geschlechtlichkeit. Hingegen weist „formulation inclusive“ durchaus schon darüber hinaus. Ein Blick in die Statuten (sofern verfügbar) 15 der FPF-Mitglieds‐ organisationen zeigt, dass gendersensible Sprache hier noch keine Rolle spielt (Tab. 5). Die Mission populaire évangélique de France (MPEF) führt in ihren Statuten Gleichstellung von Frauen und Männern als expliziten Vorsatz auf: TITRE I: BUT ET COMPOSITION DE L’ASSOCIATION Article 1 - Objet […] La MPEF accompagne la mise en œuvre des principes de sa Charte au sein des associations locales, notamment: […] en organisant ou en soutenant toute action publique visant à la promotion […] d’égalité entre hommes et femmes […] TITRE II: ADMINISTRATION ET FONCTIONNEMENT Article 4 - Parité Dans toutes ses instances et à tous les niveaux décisionnels la MPEF veille à une juste répartition des responsabilités entre les femmes et les hommes. (MPEF 2018) Die Gleichbehandlungsforderung wird jedoch nicht mit Bezug auf den Sprach‐ gebrauch übersetzt. Die Reihenfolge hommes/ femmes bzw. femmes/ hommes wechselt in den oben zitierten Passagen ohne erkennbare Systematik (insgesamt im Dokument dreimal hommes an erster Stelle, einmal femmes). Im selben Dokument sind alle Funktionsbezeichnungen, die nicht per se genderneutral sind (wie membre), nur in der maskulinen Form aufgeführt (z. B. „le Président“, 137 Gendersensible Sprache im Kirchenkontext „le Secrétaire Général“, „un vice-président“, „un trésorier“, „un mandataire délégué“). Letzte Ände‐ rung gendersen‐ sibel? Fédération Protestante de France (FPF) 2021 - Armée du Salut 2018 - Communauté des Eglises Protestantes Francophones (CEEEFE) 2009 - Communion d’Eglises protestantes évangéliques (CéPéE) → Conseil national des évangéliques de France (CNEF) 2019 - Église protestante unie de France (EPUdF) 2012 - Fédération des Eglises évangéliques baptistes de France (FEEBF) 2009 - Mission populaire évangélique de France (MPEF) 2018 - Union des Eglises évangéliques libres (UEEL) 2019 - Union des Eglises protestantes d’Alsace et de Lorraine (UEPAL) 2017 - Union des Fédérations adventistes de France (UFA) 2008 - Union nationale des Eglises protestantes réformées évan‐ géliques de France (UNEPREF) 2020 - Tab. 5: Sprachverwendung in den Statuten der FPF-Mitgliedsorganisationen 3.2.3 Schweiz Die Frauenkonferenz des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds stand 2016 unter dem Titel Gleichstellung in den reformierten Kirchen: Was ist erreicht - was bleibt zu tun? Die Ankündigung bekundet einen Zwiespalt: Auf den ersten Blick wurde auch hier viel erreicht: Seit gut 50 Jahren stehen den Frauen alle Ämter offen, es gibt gleichen Lohn für gleiche Arbeit, und in vielen kirchlichen Berufen bilden Frauen die Mehrheit. Auf den zweiten Blick gibt es jedoch nach wie vor grosse Unterschiede in der Verteilung von Ämtern und Ressourcen, in der Vertretung von Männern und Frauen auf Podien und in Projektleitungen. […] Die Sensibilität bezüglich geschlechterge‐ rechter Sprache lässt auch in der Kirche nach, und Frauenthemen sind aus vielen kirchlichen Bildungsprogrammen verschwunden. (Frauenkonferenz des SEK 2016) 138 Kristina Bedijs Insbesondere der letzte Satz sticht hier hervor. Trotz dieser negativen Einschät‐ zung des Status Quo unternimmt die schweizerische reformierte Kirche Gleich‐ stellungsbestrebungen und fördert auch sprachliche Gleichstellung. So steht in der Verfassung der EKS seit 2020 (genehmigt von der Abgeordnetenversamm‐ lung des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes am 18. Dezember 2018) in §11 „Gleichstellung“: „Die EKS fördert die Gleichstellung der Geschlechter. Sie fördert eine ausgewogene Vertretung der Geschlechter in ihren Gremien“ (EKS 2020b). Und bereits in der Präambel findet sich ein Hinweis auf gendersensible Sprache: Die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz (EKS) bekennt Gott als den Schöpfer, Jesus Christus als Erlöser und ihr alleiniges Haupt und den Heiligen Geist als Tröster und Beistand. Fußnote: In der deutschen Sprache kann Gott als Schöpfer und Schöpferin, der Heilige Geist als Tröster und Trösterin bezeichnet werden. (EKS 2020b) Amts- und Funktionsbezeichnungen sind in der EKS-Verfassung in Paarform ausgedrückt, „Mitarbeitende“ durch geschlechtsneutrales Partizip. Auch die Kir‐ chenordnungen vieler Mitgliedkirchen sind in gendersensibler Sprache verfasst: Gesetz Letzte Ände‐ rung Gender‐ sensibel? ggf. eingesetzte Strategie(n) Aargau Kirchen‐ ordnung 2010 + Paarform Appen‐ zell Kirchen‐ verfas‐ sung 2000 + neutrale Bezeichnungen Kirchen‐ ordnung 2016 + neutrale Bezeichnungen, Paarform Basel- Land‐ schaft Kirchen‐ verfas‐ sung 2009 +/ - Paarform, allerdings nicht durchgängig Kirchen‐ ordnung 2019 + neutrale Bezeichnungen, Paarform Basel- Stadt Kirchen‐ verfas‐ sung 2010 + Paarform 139 Gendersensible Sprache im Kirchenkontext Gesetz Letzte Ände‐ rung Gender‐ sensibel? ggf. eingesetzte Strategie(n) Bern- Jura-So‐ lothurn Kirchen‐ verfas‐ sung Bern 2003 - Kirchen‐ ordnung Bern-Jura 2020 +/ - Disclaimer Règlement ecclésias‐ tique Berne-Jura +/ - Disclaimer Freiburg/ Fribourg Kirchen‐ verfas‐ sung 2011 + Paarform Constitu‐ tion ecclé‐ siastique + Paarform Kirchen‐ ordnung 2012 + Paarform Règlement ecclésias‐ tique + Paarform Genève Constitu‐ tion 2019 - Règle‐ ments 2019 - Glarus Verfas‐ sung 1991 + Paarform Kirchen‐ ordnung 2020 + neutrale Bezeichnungen („Pfarr‐ person“), Paarform, Spezifizierung („Trägerin des Gottesdienstes ist die Gemeinde“) (ERLK Glarus 2020) Grau‐ bünden/ Gri‐ schun/ Grigioni Kirchen‐ verfas‐ sung 2019 + neutrale Bezeichnungen, Paarform Luzern Kirchen‐ verfas‐ sung 2017 + neutrale Bezeichnungen, Paarform 140 Kristina Bedijs Gesetz Letzte Ände‐ rung Gender‐ sensibel? ggf. eingesetzte Strategie(n) Neu‐ châtel Constitu‐ tion 2014 - Règlement général 2017 - Nid‐ walden Kirchen‐ verfas‐ sung 2002 + neutrale Bezeichnungen, Paarform Kirchen‐ ordnung 2011 +/ - Disclaimer: „In der Kirche sind Frauen und Männer gleichberechtigt. Um die Lesbarkeit zu vereinfachen, verwendet die Kirchen‐ ordnung, wo möglich, die geschlechts‐ neutrale, in den übrigen die männliche Form.“ (ERK Nidwalden 2011, 1) Ob‐ walden Kirchen‐ ordnung 2003 - Schaff‐ hausen Kirchen‐ ordnung 2006 + neutrale Bezeichnungen, Paarform Schwyz Kirchen‐ verfas‐ sung 2012 +/ - Disclaimer: „Sprachliche Gleichbehandlung Nachfolgende Personen- und Funkti‐ onsbezeichnungen beziehen sich glei‐ cherweise auf beide Geschlechter.“ (ERKK Schwyz 2012, 20) Solo‐ thurn Kirchen‐ ordnung 2019 + neutrale Bezeichnungen, Paarform St. Gallen Kirchen‐ ordnung 2017 - Thurgau Kirchen‐ verfas‐ sung 2004 + Paarform Kirchen‐ ordnung 2014 + neutrale Bezeichnungen, Paarform, „Kirchenvorsteherschaftsmitglieder“ (ELK Thurgau 2014) Ticino Statuti 2016 +/ - Disclaimer: „La forma maschile vale per ambo i sessi.“ (CERT 2016, 1) Uri Kirchen‐ ordnung 2007 + Paarform 141 Gendersensible Sprache im Kirchenkontext Gesetz Letzte Ände‐ rung Gender‐ sensibel? ggf. eingesetzte Strategie(n) Uri Organisa‐ tionsstatut 2018 + neutrale Bezeichnungen, Paarform Valais/ Wallis Kirchen‐ verfas‐ sung 2006 +/ - Disclaimer: „Für die in diesem Dokument er‐ wähnten Funktionen wurde die männliche Personalform zwecks Er‐ leichterung des Textes gewählt, selbst‐ verständlich ist die weibliche Form miteinbegriffen.“ (EREV/ ERKW 2006, 3) Constitu‐ tion +/ - Disclaimer: „Pour les fonctions dont il est fait état dans ce document, la forme masculine a été adoptée afin d’alléger le texte. Il va de soi que la forme féminine y est toujours implicitement associée.“ (EREV/ ERKW 2006, 3) Vaud Principes constitu‐ tifs 2007 - Règlement ecclésias‐ tique 2020 - Zug Leitbild 1993 + neutrale Bezeichnungen Gemeinde‐ ordnung 2010 + neutrale Bezeichnungen, Paarform Zürich Kirchen‐ ordnung 2009 + neutrale Bezeichnungen, Paarform Metho‐ distische Kirche Verfas‐ sung 2011 + Paarform mit Schrägstrich EKS Verfas‐ sung 2018 + neutrale Bezeichnungen, Paarform Tab. 6: Sprachverwendung in den Verfassungen/ Grundordnungen der EKS-Mitgliedkir‐ chen Bemerkenswert ist die Formulierung von Art. 12 in der Kirchenverfassung von Bern, der sich auf die Hilfskräfte der Kirchgemeinden bezieht und durch 142 Kristina Bedijs die Genusverwendung sehr deutlich traditionelle Aufgabenverteilungen in den Gemeinden widerspiegelt: Die Anstellung, die Aufgaben und die Pflichten der Organisten, Kantoren, Diakone, Gemeindehelferinnen, Sigristen und anderer Mitarbeiter werden durch besondere Dienstanweisungen der einzelnen Kirchgemeinden geregelt. (ERLK Bern 2003, 9) Auch interessant ist der Unterschied in der deutschen und der französischen Version der Kirchenordnung Bern-Jura. Beide Versionen stellen einen Dis‐ claimer voran, jedoch mit unterschiedlichen sprachlichen Auswirkungen: Diese Kirchenordnung gilt für Frauen und Männer In der Kirche Jesu Christi sind Männer und Frauen in gleicher Weise zur Mitarbeit berufen; sie können in gleicher Weise in alle kirchlichen Organe gewählt und in alle kirchlichen ämter und weiteren Dienste eingesetzt werden. Das soll auch in der Sprache zum Ausdruck kommen, indem diese Kirchenordnung in ihrer deutschspra‐ chigen Fassung dort, wo es sich um Funktionen handelt (zum Beispiel: Pfarrerin, Ka‐ techet), abwechslungsweise die weibliche und die männliche Sprachform verwendet. überall, wo die weibliche Form steht, sind Männer selbstverständlich eingeschlossen; überall, wo die männliche Form steht, sind Frauen selbstverständlich eingeschlossen. Wo Personen ohne bestimmte Funktion genannt sind (zum Beispiel: Teilnehmerinnen und Teilnehmer), kommt dagegen die männlich/ weibliche Doppelnennung zur An‐ wendung. […]. (ERSBJ 2020a, 11) Le Règlement est valable pour hommes et femmes Dans l’Eglise de Jésus-Christ, hommes et femmes sont indistinctement appelés à collaborer; hommes et femmes peuvent à égalité être élus à tous les organes de l’Eglise et engagés à tous les ministères et à tous les autres services. Dans la version française du présent Règlement, les applications et titres au masculin (par exemple: pasteur, président, sacristain) sont aussi valables pour les femmes. (ERSBJ 2020b, 11) In der deutschen Version der Kirchenordnung werden abwechselnd maskuline und feminine Formen gebraucht, in der französischen das generisch intendierte Maskulinum. 2018 erschien der Leitfaden Gleichgestellt in Wort und Bild (SEK 2018), in dessen Grußwort der damalige Ratspräsident des Kirchenbundes, Gottfried Lo‐ cher, erläutert: „Diese Broschüre […] schlägt Formulierungen, Redewendungen und Regeln vor. Ebenso benennt sie Phrasen, welche […] eine angemessene sprachliche Darstellung der Geschlechter erschweren“ (SEK 2018). Die Bro‐ schüre empfiehlt, „[…] die Flexibilität der Sprache auszuschöpfen“: „Eine Rede oder eine Predigt muss klingen, die Botschaft hörbar sein. Statuten oder 143 Gendersensible Sprache im Kirchenkontext Gesetzestexte müssen präzise formuliert sein, aber nicht zwingend literarischen [sic] Qualitäten aufweisen“ (SEK 2018). Mehrere Optionen „sind grundsätzlich nicht mehr zu verwenden“: generi‐ sches Maskulinum oder Femininum, Gender-Disclaimer und Binnen-I. Die Bro‐ schüre stellt stattdessen folgende Strategien als empfehlenswert vor: „Männer und Frauen ausdrücklich erwähnen“, „Plural verwenden“, „Substantivierte Par‐ tizipien und Adjektive anwenden“, „Die Endung ‚-ung‘ verwenden“, „Substan‐ tive mit ‚-kraft‘ und ‚-person‘ benutzen“, „Institutions-, Amts- und Kollektiv‐ bezeichnungen anwenden“, „Umschreiben mit ‚wer‘“, „Die Sprache der Zeit anpassen“, „Geschlechtsspezifische Pronomen vermeiden“, „Mit der Sprache spielen“, „Unterzeichnungen“. Zudem gibt es die Empfehlung „Weitere Schreib‐ weisen berücksichtigen“: „Neue Schreibweisen wie Student_in oder Student*in weisen darauf hin, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt. Sie sind je nach Zielpublikum zu benutzen“ (SEK 2018). Zuvor gab es bereits seit 2007 einen ähnlichen Leitfaden in der Reformierten Kirche Bern-Jura-Solothurn: Sichtbar und hörbar gleichgestellt - Leitfaden für die Anwendung der geschlechtergerechten Sprache in den gesamtkirchlichen Diensten. Dessen Geltungsbereich war folgendermaßen definiert: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der gesamtkirchlichen Dienste sind verpflichtet, die geschlechtergerechte Sprache anzuwenden. In den Kirchgemeinden im Synodalver‐ band Bern-Jura-Solothurn wird die korrekte Anwendung ebenfalls angestrebt. (SBJS 2007, 2) Auch dieser Leitfaden stellte bereits die verschiedenen Optionen gendersen‐ sibler Sprache (bezogen auf Frauen und Männer) vor und legte fest: „Die Handhabung darf variieren. Die so genannte Legaldefinition ist nicht mehr zulässig: ‚Weibliche Personen sind bei männlichen Bezeichnungen mitgemeint‘ oder umgekehrt“ (SBJS 2007, 3). Die SEK-Broschüre von 2018 wurde auf der Grundlage des Leitfadens von 2007 weiterentwickelt. Interessant ist, dass es sich darin nun lediglich um Vor‐ schläge und Empfehlungen handelt, aber anders als die Version von 2007 keine Verpflichtung und kein institutioneller oder textsortenbezogener Geltungsbe‐ reich für gendersensible Sprache ausgedrückt werden. Auch bemerkenswert ist, dass der Kirchenbund diese Broschüre nur in deutscher Sprache herausgibt: Den Leitfaden gibt es […] nur auf Deutsch. Als dieser erstellt wurde, haben die französischsprachigen Mitgliedkirchen der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz gemeint, sie bräuchten keinen Leitfaden für gendergerechte Sprache. Es ist grundsätzlich so, dass Französischsprachige weniger sensibilisiert auf gender‐ gerechte Sprache sind. […] Das betrifft auch den kirchlichen und liturgischen Sprach‐ 144 Kristina Bedijs gebrauch. Meines Wissens gibt es in den französischsprachigen Kirchen der Schweiz keinen Sprachleitfaden. Es wird auch kein Leitfaden einer anderen Institution benutzt. (Bettina Beer-Aebi, EKS-Beauftragte für Kirchen, persönliche E-Mail 2020) Es wird in den nächsten Jahren interessant sein zu beobachten, inwieweit sprachinklusive Entwicklungen aus Deutschland und Frankreich in Schweizer Kirchen übernommen werden bzw. ob auch von Schweizer Kirchen Impulse an die Kirchen der Nachbarländer ausgehen können, da durch die Mehrspra‐ chigkeit ein erhöhter Druck besteht, einheitliche oder zumindest vergleichbare Strategien gendersensibler Sprache zu etablieren. 4 Ausblick In Deutschland ist das Thema Gender in verschiedenen Facetten in der evan‐ gelischen Kirche ,angekommen‘. Gleichstellung ist in fast allen Landeskirchen und der EKD institutionalisiert, die Neufassung der Ordnung des EKD-Referats Chancengerechtigkeit von 2020 schreibt die Gleichstellungsaufgaben des Refe‐ rats „im Lichte aktueller Erkenntnisse über Geschlechtlichkeit“ (EKD 2020c, Präambel) ausdrücklich im Hinblick auf geschlechtliche Vielfalt fort. Sowohl im spirituellen als auch im institutionellen Bereich der evangelischen Kirchen in Deutschland finden sich Experimente, Vorgaben und Empfehlungen zur gendersensiblen Sprache. Die Bibel in gerechter Sprache nimmt ihren Anspruch, die androzentrische Sprache der traditionellen Übersetzungen aufzubrechen, sehr ernst und wird daher teilweise sehr kritisch bewertet, aber durchaus in verschiedenen Kontexten wertgeschätzt und eingesetzt. Erste Anregungen zur gerechten Sprache im Gottesdienst finden sich in der Evangelischen Kirche von Westfalen bereits 1994, in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schle‐ sische Oberlausitz läuft seit 2020 das Projekt Gottesdienst geschlechter*gerecht feiern. In der Verwaltung der meisten EKD-Gliedkirchen wird gendersensible Sprache thematisiert, teils durch eher vage Formulierungen in Gleichstellungs‐ gesetzen, teils durch Verwaltungsvorgaben, Kirchengesetze oder Leitfäden. Geltungsbereich und Verbindlichkeit variieren jeweils deutlich. Die evangelischen Kirchenverbände in Frankreich haben bisher keine insti‐ tutionalisierte Gleichstellung etabliert. Für Probleme in diesem Bereich finden sich Lösungen insbesondere dann, wenn entsprechend engagierte Frauen eine Leitungsposition übernehmen. Die Entscheidung der FPF, das Paritätsziel in die Statuten aufzunehmen, war 2020 entsprechend ein wichtiger Meilenstein. Zum Thema Geschlechtervielfalt gibt es in den französischen evangelischen Kirchen noch keine einheitliche oder offizielle Position, Gleichstellung bezieht sich derzeit auf Frauen und Männer. Die neueste Bibelübersetzung der Alliance 145 Gendersensible Sprache im Kirchenkontext Biblique Française, die NFC, beansprucht zwar, auf gerechte Sprache Wert zu legen und maskuline Formulierungen zu ändern, wo die Ausgangstexte keine rein männliche Interpretation nahelegen, geht hierin jedoch längst nicht so weit wie die deutsche Bibel in gerechter Sprache. Das Erscheinen der NFC wurde von positiven Reaktionen begleitet, sie wird umfassend eingesetzt. In der Kirchenverwaltung ist gendersensible Sprache nur vereinzelt Thema und auch hier vor allem auf das Engagement von Einzelnen betrieben. In der reformierten Kirche der Schweiz wiederum ist Gleichstellung auf Kantonalebene und auf Verbandsebene institutionalisiert. Über die Verbreitung der verschiedenen Bibelübersetzungen in deutscher und französischer Sprache sind kaum Informationen verfügbar, sodass auch nicht bekannt ist, inwieweit die Bibel in gerechter Sprache und die NFC zum Einsatz kommen. Gendersen‐ sible Sprache ist ganz allgemein im deutschsprachigen Teil der Schweiz ein größeres Thema als im französischsprachigen: Kirchliche Sprachleitfäden sind nur auf Deutsch verfügbar, das Glossar Ehe für alle (2021) ist das erste zwei‐ sprachige Projekt, das mit inklusiver Sprache arbeitet. Die SEK-Broschüre zur geschlechtergerechten Sprache von 2018 weist darauf hin, „dass es mehr als zwei Geschlechter gibt“, und empfiehlt dafür Schreibweisen mit Gender-Gap oder Genderstern. Einzelne deutschsprachige Landeskirchen bieten Beratung zu gendersensibler Sprache an. Insgesamt nimmt die Schweizer Kirche eine Zwischenstellung zwischen Deutschland und Frankreich ein, je nach Sprachge‐ biet sind die Engagements zu Gleichstellung und sprachlicher Gerechtigkeit vergleichbar mit den Kirchen im Nachbarland. In allen drei Ländern ist die Thematik gendersensibler Sprache in den evange‐ lischen Kirchen grundsätzlich eng gekoppelt an allgemeines Gleichstellungsen‐ gagement, entsprechende kirchengesetzliche Vorschriften sowie übergeordnete Positionen der Gendertheologie, aber auch an den außerkirchlichen Diskurs in der Gesellschaft und die Entwicklung des außerkirchlichen Gesetzesrahmens (beispielsweise Ehe für alle und Personenstandsrecht). In allen drei Ländern hat die Diskussion sowohl gesamtgesellschaftlich als auch innerkirchlich an Fahrt aufgenommen, sodass insbesondere in Frankreich und der französisch‐ sprachigen Schweiz in naher Zukunft neue Entwicklungen, Gleichstellungs‐ gesetze, Sprachregelungen usw. wahrscheinlich sind. Die Kirchen als große gesellschaftliche Akteurinnen könnten im weiteren Diskursverlauf durchaus eine impulsgebende Rolle spielen, und die mehrsprachige Situation der Schweiz könnte sprachübergreifende Überlegungen zu gendersensibler Sprache in Zu‐ kunft als wichtigen Aspekt in die Debatte einbringen. 146 Kristina Bedijs Bibliographie 1 Fachliteratur ABF (2019) = Alliance Biblique Française (2019): Communiqué de presse: Lancement de la Bible Nouvelle Français courant le 20 septembre 2019, https: / / nfc.bible/ wp-content/ up loads/ 2019/ 09/ CP_La-Bible-nouvelle-franc%CC%A7ais-courant-fait-peau-neuve-.pdf (18.05.2021). 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Leitfaden für die Anwendung der ge‐ schlechtergerechten Sprache in den gesamtkirchlichen Diensten, https: / / www.refbej uso.ch/ fileadmin/ user_upload/ Downloads/ KES_KIS/ KIS/ II-J-c-6_Sprachleitfaden.pdf (18.05.2021). 6 Abkürzungsverzeichnis AfZ Biel Arbeitskreis für Zeitfragen der reformierten Kirchgemeinde Biel Anhalt Evangelische Landeskirche Anhalts BEK Bremische Evangelische Kirche CERT Chiesa evangelica riformata nel Ticino EKBO Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz EKBS Evangelisch-lutherische Landeskirche in Braunschweig EKD Evangelische Kirche in Deutschland EKHN Evangelische Kirche in Hessen und Nassau EKIBA Evangelische Landeskirche in Baden EKiR Evangelische Kirche im Rheinland EKKW Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck EKM Evangelische Kirche in Mitteldeutschland EKS Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz EKvW Evangelische Kirche von Westfalen ELK Thurgau Evangelische Landeskirche des Kantons Thurgau ELKB Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern ELKiO Evangelisch-Lutherische Kirche in Oldenburg ELKWUE Evangelische Landeskirche in Württemberg 158 Kristina Bedijs EPCAAL Église Protestante de la Confession d’Augsbourg EREV/ ERKW Eglise Réformée évangélique du Valais/ Evangelisch-Reformierte Kirche des Wallis ERK Nidwalden Evangelisch-reformierte Kirche Nidwalden ERKBL Evangelisch-reformierte Kirche Basel-Landschaft ERKK Schwyz Evangelisch-reformierte Kantonalkirche Schwyz ERLK Bern Evangelisch-reformierte Landeskirche des Kantons Bern ERLK Glarus Evangelisch-reformierte Landeskirche des Kantons Glarus ERSBJ Evangelisch-reformierter Synodalverband Bern-Jura EVLKA Landeskirchenamt der Ev.-Luth. Landeskirche Hannovers EVLKS Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens FPF Fédération Protestante de France FSBZ Frauenstudien- und -bildungszentrum der EKD Hannover Evangelisch-Lutherische Landeskirche Hannovers Lippe Lippische Landeskirche LKSL Evangelisch-Lutherische Landeskirche Schaumburg-Lippe MPEF Mission populaire évangélique de France NFC Nouvelle Français Courant Nordkirche Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland Pfalz Evangelische Kirche der Pfalz SBJS Synodalverband Bern-Jura-Soloturn SEK Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund UEPAL Union des Églises protestantes d’Alsace et de Lorraine 159 Gendersensible Sprache im Kirchenkontext Sprachliche Gleichbehandlung in einer Minderheitensprache Die Bildung und der Gebrauch von Berufsbezeichnungen im Dolomitenladinischen aus einer sprachvergleichenden Perspektive Ruth Videsott Riassunto La discussione scientifica sul linguaggio di genere nel ladino dolomitico è relativamente recente. Come lingua a stretto contatto con l’italiano e il te‐ desco, il ladino sembra essere tendenzialmente più innovativo, soprattutto rispetto alla lingua italiana, in merito all’uso di strategie linguistiche che incentivano la parità di genere. In particolare nella denominazione di cariche dell’ambito politico, ammi‐ nistrativo e giuridico l’introduzione del ladino come lingua dell’ammini‐ strazione nel 1989 ha infatti stimolato uno sviluppo produttivo anche nella creazione di termini che identificano titoli professionali alquanto ,nuovi‘ per il ladino. Nel presente contributo si intende illustrare da un lato la realizzazione morfologica del genere nei nomi animati che denominano le professioni. Dall’altro lato, muovendo da un corpus di articoli giornalistici del settima‐ nale ladino La Usc di Ladins e dal Corpus general dl ladin (CGL), si analizza l’uso e l’accettabilità di tre termini scelti da ambiti professionali diversi (politica, ambito giuridico, artigianato) nella stampa ladina. Abstract The scientific discussion concerning gender linguistics in Dolomitic Ladin is relatively new. Despite being close to Italian and German, Ladin tends to be more innovative than Italian in terms of gender equality in its language representation. Especially concerning positions in the political, administrative and legal sector, the introduction of Ladin as an adminis‐ 1 Born, Joachim (1997): Geschlechtsspezifische Attitüden von Minderheitensprachen am Beispiel des Dolomitenladinischen. 2 Im Jahr 2021 war das Thema in der Südtiroler Politik immer noch umstritten. Die oppositionelle Partei Die Freiheitlichen, mit einer Frau als Initiatorin (Ulrike Mair), hat einen Beschlussantrag eingebracht (Nr. 457/ 21-XVI; cf. Südtiroler Landtag 2021), der im Landtag behandelt werden sollte und das Ziel verfolgte, das generische Maskulinum wieder als „Richtschnur in Bildung und Verwaltung“ einzuführen, nachdem der Südti‐ roler Landtag bereits im Jahr 2016 einen Leitfaden für eine geschlechtergerechte Sprache genehmigt hatte (dieser Beschluss von 2016 steht online nicht mehr zur Verfügung) und 2012 Richtlinien für eine geschlechtergerechte Sprache in der Südtiroler Landesverwaltung publiziert worden waren (Autonome Provinz Bozen 2012b). Ein solcher Beschluss würde in erster Linie den Gebrauch des Deutschen betreffen, könnte aber womöglich auch einen Einfluss auf das Ladinische haben. Die Auffassung der Genusdarstellung in der Verwaltungssprache, wie sie im genannten Beschlussantrag formuliert wird, spiegelt in der Tat die Grundgedanken wider, die in Italien in den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts gerade im institutionellen Bereich üblich waren, und zwar, dass der Gebrauch des generischen Maskulinums die einzige sprachlich korrekte Repräsentation sei (Robustelli 2012, 5). Auch in dem vom Europäischen Par‐ lament verfassten Dokument La neutralità di genere nel linguaggio usato al Parlamento europeo (2008) wird für das Italienische zum Teil diese Linie weitergezogen, indem das generische Maskulinum in bestimmten Kontexten sogar empfohlen wird (Pescia 2011, 39-40). Der Beschlussantrag wurde vom Landtag abgelehnt. Im Dezember 2021 ist von der Autonomen Provinz Bozen daraufhin eine Neuauflage der Richtlinien publiziert worden (Autonome Provinz Bozen 2021b). trative language in 1989 has led to innovative creation of terms that denote rather ,new‘ professional positions for Ladin. In this paper we intend to analyze on the one hand the morphological marking of gender in the animate nouns that refer to professions. On the other hand, based on a corpus of journalistic articles from the Ladin weekly newspaper La Usc di Ladins and from the Corpus general dl ladin (CGL), the use and acceptability of three selected terms as they are employed in the professional fields of politics, law and handicraft are analyzed. Keywords: feminine Berufsbezeichnungen, Genusmarkierung, Femininbil‐ dung, Pressetexte, Dolomitenladinisch 1 Einführung Joachim Born verfasste im Jahre 1997 einen Beitrag zu geschlechtsspezifischen Aspekten des Dolomitenladinischen im Rahmen des X. Romanistischen Kollo‐ quiums. 1 Bis heute handelt es sich um die erste und einzige wissenschaftliche Abhandlung dazu mit Bezug auf diese romanische Kleinsprache. Wenn auch die wissenschaftliche Diskussion rund um dieses heikle Thema 2 das Ladinische 162 Ruth Videsott 3 Übersetzung: Richtlinien für einen nichtdiskriminierenden Sprachgebrauch in den Ver‐ waltungstexten der Provinz. Mit „Provinz“ ist hier die Provinz Bozen gemeint, die seit 1989 öffentliche Texte z. T. dreisprachig (Deutsch, Italienisch, Ladinisch) publiziert. 4 Cf. dazu Marcato/ Thüne (2002, 193-194). Diese Art von Komposita findet im Italieni‐ schen neben der traditionellen morphologischen Derivation regelmäßig Verwendung. Daraus entwickelten sich Formen wie la donna medico ‘die Frau Arzt’ oder il giudice donna ‘der Richter Frau’. bisher nur gestreift hat, so gilt das nicht für die tatsächliche Anwendung einer gendergerechten Sprache - zumindest in bestimmten Bereichen. Konkrete Richtlinien für einen nichtdiskriminierenden Gebrauch der Sprache gibt es jedoch ausschließlich im Verwaltungsbereich. Im Jahre 2012 gibt das Amt für Sprachangelegenheiten der Provinz Bozen die Diretives per n’adurvanza nia descriminënta dla rujeneda ti tesć dl’Aministrazion provinziela  3 (Autonome Pro‐ vinz Bozen 2012a) heraus, die im Dezember 2021 aktualisiert werden (Autonome Provinz Bozen 2021a). In der Präambel der ersten Auflage ist zu lesen: Alincontra de coche la ie te cër paejes sciche per ejëmpl chëi de rujeneda scandinava, ngleja o tudëscia, che à na tradizion relativamënter longia de crissa de mesuns per n’adurvanza nia descriminënta dla rujeneda, ie la ulentà de traté a na maniera linguisticamënter valiva ëiles y ëi da nëus mo plutosc tl scumenciamënt. [‘Im Gegensatz zu anderen Ländern, wie zum Beispiel in denjenigen, wo eine skandi‐ navische Sprache, Englisch oder Deutsch gesprochen wird, welche eine relativ lange Tradition bei der Suche nach Lösungen für einen nichtdiskriminierenden Gebrauch der Sprache haben, steht das Streben nach sprachlicher Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern bei uns noch eher am Anfang.’]. (Autonome Provinz Bozen 2012a, 2) Die Auseinandersetzung mit geschlechtsspezifischen Aspekten im Ladinischen ist rezent, spiegelt sich jedoch teilweise in den letzterschienenen normativen Werken des Gadertalischen und Grödnerischen wider. So lesen wir in der aktuellen Grammatik des Grödnerischen (Forni 2019) einen expliziten Hin‐ weis darauf, dass Bezeichnungen wie grd. ambolt ‘Bürgermeister’ oder grd. aucat ‘Anwalt’ feminine Formen besitzen (grd. ambolta ‘Bürgermeisterin’, grd. aucata ‘Anwältin’), die nach Forni (2019, 166) in den Sprachusus des Ladinischen durchaus aufgenommen werden sollten, um Formen nach italienischem Beispiel wie aucat ëila ‘avvocato donna’ 4 zu vermeiden. Feminine Berufsbezeichnungen dieser Art, so der Autor, seien stark an den zunehmenden Anteil von Frauen in diesen Berufen gebunden, nach dem Motto nomina sunt consequentia rerum (cf. auch Gheno 2019, 54). Dieser Gedanke ist sicherlich nicht neu, entfaltet er sich doch gleich zu Beginn der Debatten zu diesen Themen, die in der ersten 163 Sprachliche Gleichbehandlung in einer Minderheitensprache 5 Sabatini bezieht sich dabei auf die Sapir-Whorf-Hypothese, der zufolge die Sprache durch ihre semantische Struktur die Denkweise der Sprachgemeinschaft bestimmt. Hälfte des 20. Jahrhunderts ihren Anfang in der angloamerikanischen Kultur genommen haben (Sabatini 2 1993, 8-9). 5 Durch die Tatsache, dass Sprache und Gesellschaft sich gegenseitig beeinflussen und dabei eine bestimmte Sicht der Dinge bewirken können, sollte die Sprache auch die soziokulturellen Aspekte der Sprachgemeinschaft widerspiegeln (Olita 2006, 144-145). Wie Olita (2006, 145) selbst feststellt, hat jedoch das Italienische nur wenige ‚Neuerungen‘ hinsichtlich einer Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern in der sprachlichen Darstellung vollzogen, trotz der Bemühungen von Sabatini mit ihren bekannten Raccomandazioni per un uso non sessista della lingua italiana (Sabatini 2 1993). Im Vergleich zum Italienischen scheint das Ladinische diese ‚Neuerungen‘ zumindest im lexikographischen Bereich auf konkretere und innovativere Weise umgesetzt zu haben. Nicht umsonst schreibt Della Valle in der Einführung zum aktuellen italienisch-gadertalischen Wörterbuch (Moling et al. 2016): Altro settore nel quale è possibile verificare la modernità e l’aggiornamento del lessico ladino in base ai mutamenti della società è quello che riguarda i femminili dei nomi professionali: se nella lingua e nella lessicografia italiana questo processo di adeguamento ai tempi è stato lungo e faticoso (e in qualche caso trova ancora oggi resistenze ideologiche e difficoltà nell’imporsi), nel ladino (sia gardenese sia badiotto) non sembrano esserci ostacoli basati su pregiudizi. (Della Valle 2016, 7) Eine gleichberechtigte sprachliche Darstellung zwischen Mann und Frau im Italienischen ist somit nach Della Valle an ideologischen und auf Vorurteilen beruhenden Hindernissen gescheitert. Dass die grundsätzliche Entscheidung für den Gebrauch einer femininen oder maskulinen Form mit Bezug auf eine Frau nicht an rein linguistische, sprich grammatikalische, sondern vielmehr an soziokulturelle Faktoren gebunden ist, ist nach Auffassung der Autorin offen‐ sichtlich. Sprache hat jedoch eine relevante symbolische Kraft, gerade wenn es um belebte Referenten geht, die bezeichnet werden sollen. Marcato/ Thüne (2002, 189) stellen diesbezüglich fest: „Language is therefore not neutral, because it influences the symbolic systems of speakers. And it is precisely grammatical gender which is the principal category through which the difference between female and male may be represented symbolically.“ Gheno (2019) zeigt in ihrem Buch Femminili singolari. Il femminismo è nelle parole, wie die italienische Sprachgemeinschaft auf Vorschläge femininer Berufsbezeichnungen in den sozialen Netzwerken reagiert. Grundsätzlich ist 164 Ruth Videsott 6 ‚Persönlich‘ meint hier die eigenen Präferenzen und Geschmacksempfindungen gegen‐ über bestimmten femininen Formen. So schreibt beispielsweise eine Sprecherin auf der Plattform Facebook: „Io sono architetto e mi vengono i brividi ogni volta che mi danno dell’architetta cui peraltro, a mali estremi, preferisco il pessimo signora“ (Gheno 2019, 105). zu beobachten, dass es primär soziokulturelle, politische und nicht selten auch persönliche Gründe 6 sind, aufgrund derer man sich gegen geschlechtergerechte Sprache in bestimmten Bereichen entscheidet (Gheno 2019, 65). Genus transportiert neben grammatikalischen auch semantisch-konzeptuelle Informationen (Padovani/ Cacciari 2003, 749). Das grammatikalische Genus ist weit mehr als eine pure morphologische Realisierung von Suffixen, es beeinflusst auch die Wahrnehmung der sprachlichen Gemeinschaft und ihre Welterfahrung (Marcato/ Thüne 2002, 189). Der folgende Beitrag beruht darauf aufbauend auf zwei Aspekten der sprachlichen Genusdarstellung im Ladinischen: auf der internen und externen Sprachebene. Mit ‚intern‘ sind die strukturellen und morphologischen Eigen‐ schaften des Genus - insbesondere in Bezug auf Berufsbezeichnungen - gemeint (cf. Kap. 2), unter ‚extern‘ ist die Verwendung dieser Bezeichnungen in der Sprachgemeinschaft sowie die Haltung der Sprecherinnen und Sprecher gegenüber diesen Bezeichnungen zu verstehen (cf. Kap. 3 sowie Olita 2006, 145). Um einen möglichst ausführlichen Überblick zum Ladinischen zu prä‐ sentieren, liegt der Fokus auf zwei ladinischen Varietäten: Gadertalisch (lvb.) und Grödnerisch (grd.). Das Fassanische (fas.) ergänzt vor allem in Kapitel 3 die Untersuchung. 2 Genusmarkierung bei Nomina mit Bezug auf belebte Referenten aus morphologischer Sicht Wie bei vielen anderen Sprachen, die zwei Genera besitzen, kann auch im Ladinischen das Maskulinum geschlechtsspezifisch und generisch gebraucht werden, während das Femininum fast ausschließlich geschlechtsspezifisch verwendet wird. Nomina weisen im Ladinischen entweder ein feminines oder maskulines Genus auf und unterscheiden sich somit vom Deutschen, das über drei Genera verfügt. Darüber hinaus sind Nomina im Ladinischen nicht kasusmarkiert, sondern lassen sich lediglich in Genus und Numerus deklinieren. Es ergeben sich daher typische Flexionsendungen, die das Genus grammatikalisch markieren, wie bei lvb. le presidënt, la presidënta ‘der Präsident, die Präsidentin’. Auf der grammatisch-syntaktischen Ebene treten analog zum Italienischen Kongruenz‐ 165 Sprachliche Gleichbehandlung in einer Minderheitensprache 7 Hervorhebungen in den ladinischen Zitaten durch die Verfasserin. 8 Das Italienische kennt zusätzlich eine dritte Kategorie, die zahlreiche ambigene Formen enthält (sostantivi di genere comune), wobei lediglich ein Determinant vor dem Nomen das Genus angeben kann, wie beispielsweise il/ la giornalista, la/ lo psichiatra (cf. dazu auch Maracto/ Thüne 2002, 192-193). 9 Auch sostantivi di genere fisso genannt (Gheno 2019, 53). phänomene ausgehend von der femininen Form auf (1), wobei die restlichen von ihr abhängigen Satzglieder - die Passivform fas. stata litèda ‘wurde gewählt’, das Adjektiv fas. neva ‘neue’, das Subjektklitikum fas. la ‘sie’ - mit dem Substantiv fas. presidenta ‘Präsidentin’ kongruieren. (1) fas. Mara Cincelli che é stata litèda coscita neva presidenta del Zircol de la Jent de età de Poza e la se cruziarà ence de la cassa. (UdL, 24.01.2020, 14) [‘M.C., die als neue Präsidentin des Zircolo gewählt wurde und sie wird sich auch um die Rechnungen kümmern.’] 7 Auf der Grundlage der Klassifizierung nach Marcato/ Thüne (2002, 190-194) von italienischen Nomina, die sich auf belebte Referenten beziehen, können wir für ladinische Personenbezeichnungen folgende Genusklassifizierung vornehmen: 8 • Nomina mit ,lexikalischem Genus‘, d. h. bei der Aufteilung zwischen mas‐ kulin und feminin sind die jeweiligen Formen verschiedenen lexikalischen Stämmen zugeordnet; 9 • Nomina mit ,mobilem Genus‘ (sostantivi di genere mobile). In der ersten Klasse finden wir solche Nomina, bei denen das referentielle Genus durch unterschiedliche lexikalische Stämme realisiert wird und dem grammatikalischen Genus entspricht. Dabei können auch genusmarkierende Endungen vorkommen, wie -a für das Femininum (lvb. uma, grd. oma; cf. auch ita. sorella) oder -e für das Maskulinum (lvb., grd. nëine; lvb., grd. pere; cf. Marcato/ Thüne 2002, 190). Grundsätzlich zählen hierzu Bezeichnungen für Familienmitglieder. lvb. grd. ita. Feminine Form Sg./ Pl. uma/ umes oma/ omans madre/ madri Maskuline Form Sg./ Pl. pere/ peri pere/ peresc padre/ padri 166 Ruth Videsott 10 Schafroth (2004, 345) stellt mit Bezug auf das Italienische fest: „Selbst die pure phonologische Gestalt einer nominalen ,Endung‘ kann in bestimmten Fällen Auf‐ schluss geben - oder zumindest mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Rückschlüsse zulassen - über das Genus dieses Nomens, ohne dass es sich um echte Morpheme handelt wie bei it. -o und -a.“ 11 Einige wenige Nomina mit femininem Genus, die sich auf menschliche Referenten be‐ ziehen, enden mit einem Konsonanten, so z. B. lvb. efon ‘Hebamme’, eine Entlehnung aus dem Tirolerischen heifam („Wegen des -o ist das Wort nicht schon in mittelhoch‐ deutscher Zeit ins Ladinische übernommen worden, sondern eine Entlehnung aus dem modernen Tirolerischen“; EWD 3, 163); lvb. mognan ‘Klosterfrau’, das nur im Ennebergischen existiert und „ein Rest der alten Zweikasusflexion, Rektus: móña, Obliquua: monáŋ“ ist (EWD 4, 443; cf. auch Kuen 1981, 60); oder Lehnwörter, wie lvb. grd. ita. Feminine Form Sg./ Pl. so/ sorus sor/ sorans sorella/ sorelle Maskuline Form Sg./ Pl. fre/ fredesc fra/ fredesc fratello/ fratelli Feminine Form Sg./ Pl. fomena/ fomenes fëna/ fenans moglie/ mogli Maskuline Form Sg./ Pl. om/ omi uem/ uemes marito/ mariti Feminine Form Sg./ Pl. lâ/ lâs ava/ aves nonna/ nonne Maskuline Form Sg./ Pl. nene/ neni nëine/ nëinesc nonno/ nonni Tab. 1: Nomina mit ,lexikalischem Genus‘ für Personenbezeichnungen Neben den bereits angesprochenen typischen Endungen -a und -e existieren für das Ladinische Paradigmen der Femininbildungen ausgehend von Resten der Zweikasusflexion im Altladinischen, wie bei lvb. sorus, grd. sorans oder grd. omans, grd. fenans (cf. dazu u. a. Cadorini 2020, 130-131). Die zweite und größte Klasse beinhaltet Nomina, die sich nicht im lexika‐ lischen Stamm unterscheiden, sondern durch genusspezifische Endungen das Genus morphologisch realisieren. 10 Analog zum Italienischen wird dabei das Femininum mit Bezug auf menschliche Referenten meistens durch unbetontes -a realisiert, 11 wie bei lvb. jormana und grd. jurmana ‘Cousine’, lvb. avocata 167 Sprachliche Gleichbehandlung in einer Minderheitensprache hostess und lvb. scefin, letzteres als angepasste Form an das ladinische phonologische System in Anlehnung an das deutsche Chefin. Schließlich haben auch Komposita bei Berufsbezeichnungen nicht die typischen markierten Flexionsendungen, weil meistens das dazugehörige Nomen nicht auf die Kategorie der Belebtheit hinweist und somit keine genusspezifischen Endungen hat, wie bei lvb. le/ la stödafüch, grd. l/ la destudafuech ‘der Feuerwehrmann, die Feuerwehrfrau’ oder lvb. le/ la mënacrëp, grd. l/ la mëinacrëp ‘der Bergführer, die Bergführerin’. Der bestimmte Artikel übernimmt dabei die genusmarkierende Rolle. 12 Die Bezeichnung tata für ‘Papa’ ist nur im zentralen Gadertal sowie im Ennebergi‐ schen zu hören als eine Entlehnung aus dem Tirolerischen tattε (cf. EWD 2, 46). 13 Cf. Marcato/ Thüne (2002, 191). Im Italienischen ist das Endungs-e im Vergleich zu -o bei Nomina mit ,mobilem Genus‘ weniger häufig. und grd. aucata ‘Anwältin’. Bereits Kramer (1978, 19) erwähnt, dass in wenigen Fällen -a auch bei „maskulinen Lehnwörter[n] aus dem Italienischen (besonders häufig auf -íšta)“ erscheint. Das Suffix -ista ist im Ladinischen, genauso wie im Italienischen, ein typisches Derivationssuffix für agentive Nomina (cf. unten Bsp. 4b). Wenige andere maskuline Nomina mit -a, die sich auf belebte Referenten beziehen, sind beispielsweise lvb., grd. berba ‘Onkel’, lvb., grd. papa ‘Papst’ oder auch lvb. tata  12 ‘Papa’. Im Italienischen hingegen sind maskuline Nomina mit -a deutlich häufiger, insbesondere im Bereich der Berufsbezeichnungen: ita. astronauta, ita. guardia, ita. pediatra, ita. pilota, um nur einige zu nennen. Vom Italienischen unterscheidet sich das Ladinische bei maskulinen En‐ dungen. Neben den Endungen -o/ -e  13 (Tab. 2) besitzt es insbesondere bei Berufsbezeichnungen Konsonantenendungen (Tab. 3 und Tab. 3a). Das Endungs-o/ -e ist in der Tat eher limitiert. Der innerladinische Sprach‐ vergleich zeigt zudem, dass im Grödnerischen die Endungen -o/ -e nochmals seltener sind. lvb. grd. ita. Feminine Form Sg./ Pl. cöga/ cöghes cuega/ cueghes cuoca/ cuoche Maskuline Form Sg./ Pl. cogo/ coghi cuech/ cueghes cuoco/ cuochi Feminine Form Sg./ Pl. popa/ popes popa/ popes bebé, bimba/ bimbe Maskuline Form Sg./ Pl. pope/ popi pop/ pops bebé, bimbo/ bimbi 168 Ruth Videsott lvb. grd. ita. Feminine Form Sg./ Pl. vëdua/ vëdues vëidua/ vëidues vedova/ vedove Maskuline Form Sg./ Pl. vëduo/ vëdui vëidun/ vëiduns vedovo/ vedovi Tab. 2: Nomina mit ,mobilem Genus‘: Endungen -o/ -e lvb. grd. ita. Feminine Form Sg./ Pl. jormana/ jormanes jurmana/ jurmanes cugina/ cugine Maskuline Form Sg./ Pl. jorman/ jormans jurman/ jurmans cugino/ cugini Feminine Form Sg./ Pl. vijina/ vijines ujina/ ujines vicina/ vicine Maskuline Form Sg./ Pl. vijin/ vijins ujin/ ujins vicino/ vicini Feminine Form Sg./ Pl. möta/ mitans muta/ mutans bambina/ bambine Maskuline Form Sg./ Pl. möt/ mituns mut/ mutons bambino/ bambini Tab. 3: Nomina mit ,mobilem Genus‘: Konsonantenendungen Ausgehend von den unterschiedlichen Endungen in der maskulinen Form kommt es auch zu unterschiedlichen Prozessen der Femininbildung im Ladini‐ schen. Nur hinzugefügt wird hingegen -a bei den in Tabelle 3 angeführten Nomina. Dazu gehören auch viele Nomina für Berufsbezeichnungen (cf. Tab. 3a): 169 Sprachliche Gleichbehandlung in einer Minderheitensprache lvb. grd. ita. Feminine Form Sg./ Pl. avocata/ avocates aucata/ aucates avvocata/ avvocate, auch: avvocatessa/ avvocatesse Maskuline Form Sg./ Pl. avocat/ avocac aucat/ aucac avvocato/ avvocati Feminine Form Sg./ Pl. architëta/ architëtes architëta/ architëtes architetta/ architette Maskuline Form Sg./ Pl. architët/ architëc architët/ architëc architetto/ architetti Feminine Form Sg./ Pl. psicologa/ psico‐ loghes psicologa/ psico‐ loghes psicologa/ psicologhe Maskuline Form Sg./ Pl. psicologh/ psicologs psicologh/ psicologs psicologo/ psicologi Feminine Form Sg./ Pl. chirurga/ chirurghes chirurga/ chirurghes chirurga/ chirurghe Maskuline Form Sg./ Pl. chirurgh/ chirurg chirurgh/ chirurg chirurgo/ chirurghi Feminine Form Sg./ Pl. fotografa/ fotografes fotografa/ fotografes fotografa/ fotografe Maskuline Form Sg./ Pl. fotograf/ fotografs fotograf/ fotografs fotografo/ fotografi Feminine Form Sg./ Pl. idraulica/ idrauli‐ ches idraulica/ idrauli‐ ches idraulica/ idrauliche Maskuline Form Sg./ Pl. idraulich/ idraulics idraulich/ idraulics idraulico/ idraulici Tab. 3a: Nomina mit ,mobilem Genus‘: Konsonantenendungen bei Berufsbezeichnungen Wie oben erwähnt (cf. Anmerkung 8), existiert für das Italienische eine dritte Kategorie, sostantivi di genere comune. Die maskuline und feminine Form un‐ 170 Ruth Videsott 14 Eine Ausnahme bilden somit Komposita wie lvb. caporedatur, grd. caporedadëur ‘Chef‐ redakteur’, lvb. vizediretur, grd. vizediretëur ‘stellvertretender Direktor’, bei denen das zweite Substantiv belebt ist und daher durch ein Suffix im Femininum markiert wird: lvb. caporedaturia, grd. caporedadëura ‘Chefredakteurin’, lvb. vizedireturia, grd. vizediretëura ‘stellvertretende Direktorin’. 15 Ein detaillierter und viel ausführlicherer Überblick über die Derivationssuffixe bei Nomina findet sich bei Siller-Runggaldier (1989, 53-112). terscheiden sich nicht durch Flexionsendungen, sondern lediglich durch einen Determinanten vor dem Nomen (Marcato/ Thüne 2002, 191). Solche Nomina gibt es im Ladinischen kaum. Dies hat damit zu tun, dass im Ladinischen grundsätz‐ lich die unbetonten Vokale in der Endsilbe schwinden, mit Ausnahme von -a. Man vergleiche folgende ambigene italienische Formen mit dem Ladinischen: ita. lvb., grd. il/ la collega colegh/ colega il/ la giornalista jornalist/ jornalista, jurnalist/ jurnalista il/ la pediatra pediater/ pediatra il/ la pilota pilot/ pilota Berufsbezeichnungen ohne genusmarkierende Endungen für das Femininum beschränken sich im Ladinischen ausschließlich auf Fremdwörter (2), die dem ladinischen phonologisch-morphologischen System nicht angepasst wurden, sowie auf Komposita (3), deren Nominalkonstituente sich nicht auf belebte Referenten bezieht: 14 (2) lvb., grd. ita. le/ la, l/ la manager il/ la manager le/ la, l/ la reporter il/ la reporter (3) lvb., grd. ita. le/ la mënacrëp, l/ la mëinacrëp il/ la guida alpina l’/ la afitaciamenes, l/ la fitazimres l’affittacamere Neben den bisher besprochenen Möglichkeiten der Genusmarkierung im Ladinischen gibt es bei Berufsbezeichnungen viele Derivationssuffixe, 15 die ausgehend von typischen italienischen Suffixen verschiedene Agensnomina entwickelt haben. Eine Unterkategorie dieser agentiven Bezeichnungen sind 171 Sprachliche Gleichbehandlung in einer Minderheitensprache 16 Cf. auch Grossmann/ Rainer (2004, 191). 17 Denominazioni agentive classificanti bei Grossmann/ Rainer (2004, 191). 18 Wie Grossmann/ Rainer (2004, 213) aufzeigen, ist im Italienischen bei diesen Nomina oft auch eine nominale Basis anzunehmen, so z. B. bei ita. cantante, das sowohl vom Verb ita. cantare, als auch vom Nomen ita. canto, abgeleitet werden kann. Im Ladinischen hingegen ist -in (ausgehend von - Ī N U S ) als denominale Ableitung nur bei Sachbzw. Werkzeugbezeichnungen zu finden, die eine Diminutivmodifikation aufweisen (Siller- Runggaldier 1989, 93). nach Laca (1986) und Grossmann (1998) 16 u. a. Berufsbezeichnungen (cf. Gross‐ mann/ Rainer 2004, 192). 17 Im Folgenden werden die Suffixe ausgehend von femininen Endungen kate‐ gorisiert, weil sich dieser Beitrag bei der Darstellung der Suffigierung auf das Thema der Feminisierung beschränkt. Dabei entstehen folgende Kategorien: Nomina mit Hinzufügung von -a (4); Realisierung des Femininums durch -ia (5); Bildung mit -adëssa (6); Bildung ausgehend vom Suffix -er (7). Alle Beispiele werden mit den entsprechenden italienischen Formen ergänzt. Die Belege in (4) werden in Unterkategorien unterteilt, weil es sich bei den Suffixen -ant > -anta und -ënt > -ënta um eine deverbale Derivation handelt, 18 genauso wie bei den angeführten Nomina in (6), während bei (5) und (7) eine nominale Derivation zu erkennen ist. Die Endung -adëssa in (6) ist ausschließlich für das Gadertalische produktiv. (4a) lad. -ant > -anta; -ënt > -ënta; -in > -ina ita. -ante; -ente; -ino > -ina lvb. comandant > comandanta comandante grd. cumandant > cumandanta lvb. insegnant > insegnanta insegnante grd. nseniant > nsenianta lvb., grd. consulënt > consulënta consulente lvb. dozënt > dozënta docente grd. duzënt > duzënta lvb., grd. balarin > balarina ballerino > ballerina lvb., grd. ciantarin > ciantarina cantante 172 Ruth Videsott 19 Zu dieser Kategorie der Suffixe gehört auch -an > -ana. Dieses Suffix ist jedoch bei der Klassifizierung der Berufsbezeichnungen im Ladinischen wenig produktiv und hat eher die Funktion, auf die geographische Zugehörigkeit einer Person zu verweisen, so z. B. lvb., grd. american > americana ‘Amerikaner, Amerikanerin’; lvb., grd. ira‐ nian > iraniana ‘Iraner, Iranerin’. Für Berufsbezeichnungen beschränkt sich dieses Suffix auf wenige Lexeme, wie beispielsweise lvb., grd. scrivan > scrivana ‘Schreiber/ Sekretär, Schreiberin/ Sekretärin’ (wie im Italienischen scrivano > scrivana, cf. dazu Grossmann/ Rainer 2004, 215) oder auf das aus dem Italienischen entlehnte lvb. ortolan > ortolana ‘Gärtner/ Gärtnerin’. 20 Das Grödnerische kennt dabei die Endung -ia nicht. 21 Das Suffix -dëur, -dëura ist im Grödnerischen überaus produktiv (cf. dazu Siller- Runggaldier 1989, 59-61). 22 Aber auch duturëssa. (4b) 19 lad. -ar > -ara/ -er > -era; -ier > -iera; -ist > -ista ita. -ario > -ario; -iere > -iera; -ista lvb. bibliotecar > bibliotecara bibliotecario > bibliotecaria grd. bibliotecher > bibliotechera lvb. impresar > impresara impresario > impresaria lvb. mpreser > mpresera lvb., grd. gondolier > gondoliera gondoliere > gondoliera lvb., grd. ciavalier > ciavaliera cavaliere > cavaliera lvb., grd. ambientalist > ambientalista ambientalista lvb., grd. fisioterapist > fisioterapista fisioterapista (5) 20 lad. -ur > uria/ -or > ora; -ëur > -ëura; ita. -tore > -tora/ -trice; -dëur  21 > -dëura; -sur > -suria/ -sëur > -sëura -sore > -sora/ -itrice lvb. dotur > doturia dottore > dottoressa grd. dutor > dutora  22 lvb. scritur > scrituria scrittore > scrittrice grd. scritëur > scritëura grd. muradëur > muradëura muratore > muratrice grd. depenjadëur > depenjadëura pittore > pittrice lvb. assessur > assessuria assessore > assessora grd. assessëur > assessëura lvb. defensur > defensuria difensore > difensora/ difenditrice grd. defensëur > defensëura Durchaus schwierig zu beurteilen ist im Italienischen das Suffix -sore, insbesondere bei bestimmten phonologischen Kontexten. Das Femininum 173 Sprachliche Gleichbehandlung in einer Minderheitensprache 23 Die entsprechenden grödnerischen Formen der gadertalischen Nomina in (6) bilden keine Ergänzung mit -adëssa, da sie vom Suffix -dëur abgeleitet werden: -dëura für Nomina abgeleitet von Verben der ersten Konjugationsklasse (-é: muderé ‘moderie‐ ren’, eduché ‘erziehen’), wie bei grd. muderadëur > muderadëura, grd. educadëur > educadëura; -idëssa bei Nomina abgeleitet von Verben der vierten Konjugation (-ì: nrescì ‘forschen, erforschen’, scuvrì ‘entdecken’), wie bei grd. nrescidëur > nrescidëssa und scuvridëur > scuvridëssa. 24 Das Suffix -idú ist nicht sehr produktiv, weil die Verben mit Endungs-í, von denen diese Nomina abgeleitet werden, zur vierten Konjugationsklasse der Verben im Ladinischen gehören, die im Gegensatz zur ersten eine relativ beschränkte Anzahl an Verben enthält. Ausgehend von den offiziellen ladinisch-italienischen/ italienisch-ladinischen Wörterbüchern des Gadertalischen und Grödnerischen machen die Verben der ersten Konjugationsklasse 85,5 % für das Gadertalische und 86,5 % für das Grödnerische aus (cf. Videsott 2020, 100). Daher ist auch das Suffix -adú, das von Verben der ersten Konjugationsklasse abgeleitet ist, viel produktiver. 25 Zum Italienischen cf. dazu u. a. Gheno (2019, 62-63). 26 Zu diesen Suffixen im Grödnerischen cf. auch Siller-Runggaldier (1989, 59-60). schwankt dabei zwischen -itrice, -sora und findet sogar als ambigene Form Verwendung (cf. dazu Thornton 2012). Schwankungen in der Bildung von fe‐ mininen Suffixen kommen im Ladinischen kaum vor, abgesehen von einzelnen Fällen in (6a) und beim Suffix -idëur im Grödnerischen, das im Gadertalischen der Kategorie (6) zuzuordnen ist, bei der die feminine Realisierung -adëssa, -idëssa vorliegt. 23 (6) lvb. -adú > adëssa, -idú  24 > idëssa ita. -tore > trice moderadú > moderadëssa moderatore > moderatrice educadú > educadëssa educatore > educatrice inrescidú > inrescidëssa ricercatore > ricercatrice descoridú > descoridëssa scopritore > scopritrice Anders als beim zum Teil abwertenden italienischen Suffix -essa  25 wird das ladinische Suffix -ëssa (auch -adëssa, -drëssa) 26 nicht mit ironischen oder abwer‐ tenden Konnotationen assoziiert. Neben den Bezeichnungen u. a. für die adelige Herkunft wie im Italienischen (lvb., grd. baronëssa, ita. baronessa; lvb., grd. prinzëssa, ita. principessa) oder bei lvb., grd. poetëssa, ita. poetessa und lvb., grd. papëssa, ita. papessa, ist -ëssa auch Teil der üblichen Suffixe -adëssa und -idëssa (6), die im Italienischen den Suffixen -trice entsprechen. Andere feminine Formen, die im Italienischen auf -essa enden, haben aber im Ladinischen keine analogen Formen: 174 Ruth Videsott 27 Cf. Fußnote 22. 28 Aber im Grödnerischen auch: prufessurëssa (cf. Forni 2013). 29 Aber im Grödnerischen auch: presidentëssa (cf. Forni 2013). 30 Cf. auch Siller-Runggaldier (1989, 64-65). (6a) lvb., grd. ita. studënta sudentessa doturia, dutora  27 dottoressa professuria, prufessëura  28 professoressa presidënta  29 presidentessa (presidenta) avocata, aucata avvocatessa (avvocata) Eine zusätzliche produktive Suffixderivation ist mit der Bildung von Nomina auf -er in relativ moderner Epoche durch den starken Kontakt zum Tirolerischen in das Ladinische eingedrungen. 30 Es handelt sich dabei meistens um Handwerks‐ berufe. Die Feminisierung erfolgt durch Hinzufügung von -a oder Ersatz des maskulinen Suffixes durch -ra. Bei anderen Entlehnungen aus dem Deutschen, die nicht auf die tirolerische Endung -er zurückzuführen sind, ist -èbetont und dementsprechend lautet das feminine Suffix im Gadertalischen -ia. (7) lad. -er lvb., grd. tistler > tistlera ‘Tischler, Tischlerin’ lvb., grd. slosser > slossera ‘Schlosser, Schlosserin’ lvb., grd. tlomper > tlompra ‘Klempner, Klempnerin’ lvb., grd. iagher > iagra ‘Jäger, Jägerin’ lvb. ciafer > ciaferia ‘Chauffeur, Chauffeurin’ grd. sciafer > sciafera ‘Chauffeur, Chauffeurin’ lvb. friser > friseria ‘Friseur, Friseurin’ grd. friser > frisera ‘Friseur, Friseurin’ Schließlich kennt das Gadertalische eine letzte Kategorie mit einer eher geringen Anzahl an Berufsbezeichnungen, die im Femininum auf lvb. -ada, -ara, -ira enden, ausgehend von maskulinen Nomina mit betontem Endvokal: lvb. carigá > carigara ‘Schuster, Schusterin’; lvb. scienzié > scienziada ‘Wissenschaftler, Wissenschaftlerin’; lvb. ostí > ostira ‘Wirt, Wirtin’. Somit kann man grundsätzlich sagen, dass das Ladinische mehr genusmar‐ kierte Formen als das Italienische hat. Die vielen ambigenen Formen des 175 Sprachliche Gleichbehandlung in einer Minderheitensprache 31 Forni (2013); Moling et al. (2016); Mischí (2021). Italienischen sind im Ladinischen morphologisch markiert und dies wirkt sich beispielsweise generell auf eine systematische Genusmarkierung bei Neolo‐ gismen aus. So führen die drei aktuellen ladinischen bilingualen Wörterbücher 31 immer die feminine Form bei Berufsbezeichnungen als einzelnes und separates Lexem an und nicht als Teil des maskulinen Lexems. 3 Der Gebrauch von femininen Berufsbezeichnungen im Ladinischen Wenn eine Sprache aus morphologischer Sicht feminine Formen realisieren kann, diese jedoch nicht verwendet, dann ist dies in erster Linie kein gramma‐ tikalisches Phänomen, wie bereits in der Einführung formuliert und auch von Ercolini sehr explizit aufgegriffen wurde: La grammatica dice chiaramente come formare il femminile: Se certi femminili gram‐ maticalmente corretti […] „suonano male“ o sono avvertiti come meno „prestigiosi“ dei corrispondenti maschili, il problema non è nella grammatica, bensì nel pensiero (sessista) di cui il linguaggio è veicolo. (Ercolini 2010, 140) Es ist keine neue Erkenntnis, dass ‚Geschlecht‘ nicht nur eine grammatikalische Kategorie ist, die als Genus bezeichnet wird, sondern vor allem auch eine iden‐ titätsstiftende und soziokulturelle Rolle in der Sprachgemeinschaft übernimmt, wobei zwischen Gender und Sexus natürlich unterschieden werden muss (cf. Luraghi/ Olita 2006, 27-29). Die Übereinstimmung zwischen Gender und Sexus ist nicht immer gegeben, denn Gender nimmt Bezug auf die kulturellen und sozialen Normen, die eine Sprachgemeinschaft entwickelt hat, um bestimmte Sozialisierungsprozesse zwischen Männern und Frauen zu reglementieren, während Sexus als biologische Kategorie lediglich angibt, welche Geschlechts‐ organe ein Mensch hat (cf. Luraghi/ Olita 2006, 28). Ausgehend vom bisher Gesagten und von der Tatsache, dass im Ladinischen aus morphologischer Sicht feminine Formen der Berufsbezeichnungen fast immer durch genusmarkierte Endungen und Suffixe realisiert werden können, soll die konkrete Verwendung solcher Formen im Sprachusus verifiziert werden. Als Orientierung dienen dabei folgende Fragestellungen zur externen Sprachebene: i) Werden Berufsbezeichnungen geschlechtsspezifisch gebraucht? ii) Gibt es Unterschiede im Gebrauch femininer Berufsbezeichnungen je nach Berufsfeld? iii) Gibt es diesbezüglich Unterschiede zum Italienischen? 176 Ruth Videsott Dafür wurde eigens für diese Studie ein Korpus zusammengestellt, das aus den gesamten Zeitungsartikeln der ladinischen Wochenzeitung La Usc di Ladins (UdL) der Jahre 2019 und 2020 in den Varietäten Gadertalisch, Grödnerisch und Fassanisch besteht. Zusätzlich dazu wurde das Corpus general dl ladin (CGL) konsultiert, welches aktuell 22.529 schriftliche Texte in allen ladinischen Varietäten sowie im Standardladinischen umfasst (cf. Goebl/ Videsott 2020, 551-553). Dabei wurden ausschließlich journalistische Textsorten für die Analyse herangezogen. Neben dem Gadertalischen und dem Grödnerischen ergänzt das Fassanische (fas.) die Studie, um den innerladinischen Vergleich zu vertiefen. Darüber hinaus hat das Fassanische wenig bis kaum direkten Kontakt zum Deutschen, sodass die größere Nähe zum Italienischen Einfluss auf den Gebrauch femininer oder maskuliner Berufsbezeichnungen haben könnte. Für die Analyse wurden drei Berufsfelder auf der Grundlage einzelner Lexeme geprüft: • Politik: lvb., fas. ombolta, grd. ambolta ‘Bürgermeisterin’ • Juristischer Bereich: lvb., fas. avocata, grd. aucata ‘Anwältin’ • Handwerk: lvb., grd. tistlera, fas. tislera ‘Schreinerin, Tischlerin’ 3.1 Zur femininen Bezeichnung lvb./ fas. ombolta, grd. ambolta Der generische Gebrauch der maskulinen Form lvb./ fas. ombolt, grd. ambolt ist grundsätzlich in allen drei untersuchten Varietäten vorhanden, insbesondere, wenn die Berufsbezeichnung nicht explizit auf eine Frau Bezug nimmt, sondern personenübergreifend über Bürgermeister und Bürgermeisterinnen berichtet wird, wie Beispiel (8) zeigt. Daneben gibt es auch Fälle, in denen beide Formen genannt werden (9 und 10). Eine einheitliche Lösung zur sprachlich gleichbe‐ rechtigten Darstellung der femininen und maskulinen Form ist dabei nicht zu erkennen. Einmal wird die feminine Form ganz ausgeschrieben (10), einmal werden nur die genusmarkierenden femininen Endungen angeführt (9). (8) fas. Vejin a l’inom de ogne candidat ombolt l’é i simboi de la lista o de la listes che lo sostegn. (UdL, 18.09.2020, 4) [‘Neben dem Namen von jedem Bürgermeisterkandidaten sind die Symbole der Liste(n) angeführt, die ihn unterstützen.’] (9) lvb. Ti comuns ladins de Südtirol é la lita dl/ a ombolt/ a destacada da chëra dl consëi de comun. (UdL, 18.09.2020, 1) [‘In den ladinischen Gemeinden in Südtirol ist die Wahl des/ der Bürgermeisters/ in getrennt von der Gemeinderatswahl.’] (10) lvb. Tan de omboltes, tan de ombolc? (UdL, 25.09.2020, 26) [‘Wie viele Bürgermeisterinnen, wie viele Bürgermeister? ’] 177 Sprachliche Gleichbehandlung in einer Minderheitensprache Bei der direkten Bezugnahme auf eine Frau im Text überwiegt der geschlechts‐ spezifische Gebrauch. Das Lexem kann dabei in folgenden syntaktischen Kon‐ texten auftreten: i) als Subjekt, oft in Zusammenhang mit dem vorausgehenden (11) oder nachstehenden (12) Eigennamen; ii) als Objekt (13); iii) als Prädika‐ tivum (14). (11) fas. Nicoletta Dallago, ombolta de Mazin, l’à metù al luster la situazion de sia aministrazion. (UdL, 19.04.2019, 16) [‘N.D., Bürgermeisterin von Mazin, hat die Situation ihrer Verwaltung erklärt.’] (12) grd. Do à ence tëut la parola la vizeambolta Lara Moroder. (UdL, 10.01.2020, 15) [‘Dann hat auch die stellvertretende Bürgermeisterin L.M. das Wort ergriffen.’] (13) lvb. Sce i esses da stradavagné les lites, chël ó dí che i ciafëis os l’ombolta: cal sará pa osc pröm intervënt o laur? (UdL, 21.02.2020, 11) [‘Sollten Sie bei den Wahlen siegen, d. h. Sie stellen die Bürgermeis‐ terin: Was wird Ihr erster Beitrag oder Ihre erste Arbeit sein? ’] (14) lvb. Inće te Südtirol él canchessia n’ëra deventada ombolta. (CGL) [‘Auch in Südtirol ist irgendwann eine Frau Bürgermeisterin ge‐ worden.’] Ein unregelmäßiger Gebrauch der geschlechtsspezifischen femininen Form kann insbesondere beim Syntagma ‘Kandidatin zur Bürgermeisterin’ (15 und 16) beobachtet werden: ombolta/ ambolta wird entweder geschlechtsspezifisch gebraucht (15) oder durch die generische maskuline Form ombolt/ ambolt ersetzt (16). Es fällt zudem auf, dass das Substantiv grd./ fas. candidata ‘Kandidatin’ in diesen Konstruktionen immer geschlechtsspezifisch gebraucht wird, als würde gerade diese Bezeichnung die Rolle der Genusmarkierung übernehmen und so dem darauffolgenden ombolt/ ambolt die freie Wahl lassen, ob es geschlechts‐ spezifisch oder als generische Form gebraucht wird. (15) fas. Program lista „Lum per Ciampedel“ con la candidata ombolta Sere‐ nella Manfroi (UdL, 18.09.2020, 27) [‘Programm der Liste „Lum per Ciampedel“ mit der Kandidatin zur Bürgermeisterin S.M.’] (16) grd. Birgit Klammer, candidata ambolt dla Lista Zivica (UdL, 25.09.2020, 9) [‘B.K., Kandidatin zum Bürgermeister der Volksliste’] 178 Ruth Videsott 3.2 Zur femininen Bezeichnung lvb./ fas. avocata, grd. aucata Analog zum vorherigen Lexem überwiegt auch bei dieser Bezeichnung das generische Maskulinum in generellen Kontexten, in denen es nicht spezifisch um Frauen geht (17). Ausnahmen sind Stellenanzeigen, in denen grundsätzlich beide Formen gebraucht werden (18). (17) lvb. Al é le colmo che n proprietar - por defëne val’ che é so - mëss fá val’ (ince damané n avocat y le paié por avëi aiüt.) (UdL, 24.05.2019, 2) [‘Es ist unverschämt, dass ein Besitzer - um etwas zu schützen, das ihm gehört - etwas dafür tun muss (sogar, einen Anwalt um Hilfe bitten und ihn bezahlen)’.] (18) grd. La Provinzia Autonoma de Bulsan à scrit ora n cuncors per la stiëra de 1 Aucat/ Aucata. (CGL) [‘Die Autonome Provinz Bozen hat ein Auswahlverfahren für eine Stelle zum Anwalt/ zur Anwältin ausgeschrieben’] Im Gegensatz zu ombolta/ ambolta ist der geschlechtsspezifische Gebrauch von avocata/ aucata nicht derart systematisch, wenn im Text ein Bezug zu einem weiblichen Referenten vorhanden ist. Die Berufsbezeichnung kann unmittelbar vor oder nach dem Eigennamen auftreten (19, 20) oder auf ein vorausgehendes (22) oder nachstehendes (21) Nomen/ Lexem bezogen sein. In (21) ist der Bezug zu einer Frau durch den Eigennamen Mara Uggé gegeben, der im darauffolgenden Satz angeführt wird. Die Bezeichnung avocat ist im Syntagma studio da avocat ‘Anwaltsstudio’ enthalten und wird daher generisch verwendet. Beleg (22) hingegen zeigt eine Asymmetrie in der Angabe des Genus im gleichen nominalen Syntagma: Während die erste Bezeichnung la presidënta ‘die Präsidentin’ in der femininen Form realisiert wird, erscheint die Berufsangabe ‘Anwältin’ in der maskulinen Form. Dies könnte womöglich damit zu tun haben, dass aucat im Gegensatz zu presidënta in das Gefüge aucat de profescion ‘Anwalt von Beruf ’ integriert ist und somit ‚generischer‘ erscheint. Im Korpus konnten jedoch auch feminine Formen in analogen Konstruktionen belegt werden (23). (19) fas. Congratulazions al nef avocat Luciana Rasom de Onz. (CGL) [‘Gratulation an den neuen Awalt L.R. aus Onz.’] (20) fas. Con l’aiut de pare Frumenzio Ghetta de Martin, de l’avocat Rosa Rizzi de Poldin, de Carleto Weiss e del fì de l’ultim president de la Comunità de Fascia. (CGL) [‘Mit der Unterstützung von Pater F.G.M., von dem Anwalt R.R. aus Podin, von C.W. und von dem Sohn des letzten Präsidenten der Comunità de Fascia.’] 179 Sprachliche Gleichbehandlung in einer Minderheitensprache 32 Die Verwendung geschlechtsspezifischer oder nicht geschlechtsspezifischer Berufsbe‐ zeichnungen ist unsystematisch und kann daher nicht quantifiziert werden. (21) grd. L vën cris n local a Urtijëi (nce n culaburazion cun autri) per la giaurida de n studio da avocat. Cuntaté av. Mara Uggé. (CGL) [‘Es wird ein Lokal in St. Ulrich gesucht (auch in Zusammenarbeit mit anderen) für die Eröffnung einer Anwaltskanzlei. Anw. Mara Uggé kontaktieren.’] (22) grd. Scialdi cuntëntes foveles a la fin dla sëira, dantaldut de la spiegazions scëmples, ma tleres che la presidënta y aucat de prufescion, à dat. (CGL) [‘Sehr glücklich waren sie am Ende des Abends, vor allem aufgrund der einfachen aber klaren Erklärungen, die die Präsidentin und Anwalt von Beruf gegeben hat.’] (23) fas. É 39 egn, son cresciuda a Muncion e ades stae a Poza. De profescion avocata. (UdL, 18.09.2020, 24) [‘Ich bin 39 Jahre alt, in Muncion aufgewachsen und jetzt lebe ich in Poza. Anwältin von Beruf.’] Beispiele mit geschlechtsspezifischem Gebrauch sind im Gegensatz zu lvb./ fas. ombolta, grd. ambolta leicht in der Minderheit. Es gibt jedoch keine relevanten Unterschiede zwischen den drei untersuchten Varietäten, wenn auch im Fassa‐ nischen die nicht geschlechtsspezifischen Fälle moderat überwiegen. 32 (24) lvb. Na intervista a la avocata Manuela Obojes. (UdL, 15.05.2019, 31) [‘Ein Interview mit der Anwältin M.O.’] (25) fas. L’é Lara Battisti, avocata de 38 egn da Pera e Conseiera de Procura del Comun General, la neva presidenta de l’Istitut Cultural Ladin. (UdL, 10.5.2019, 1) [‘Es ist L.B., 38-jährige Anwältin aus Pera und Rätin der Staatsan‐ waltschaft des Comun General, die neue Präsidentin des ladinischen Kulturinstituts.’] 3.3 Zur Bezeichnung lvb./ grd. tistlera, fas. tislera Im gesamten Korpus konnten nur zwei Beispiele von tistlera/ tislera gefunden werden. Zudem treten diese ausschließlich bei Stellenanzeigen auf, wie bei‐ spielsweise (26) zeigt. Der generische Gebrauch von tistler/ tisler überwiegt daher eindeutig in allen untersuchten Varietäten, auch im Rahmen von Stellen‐ anzeigen (27). 180 Ruth Videsott (26) lvb. Por renforzé nosc grup de laur chiriunse da atira n/ na tistler/ a. (UdL, 06.03.2020, 32) [‘Zur Verstärkung unseres Teams suchen wir ab jetzt einen/ eine Tischler/ Tischlerin.’] (27) lvb. La tistlaria Complojer a La Val chir da atira por döt l’ann lauranc por renforzé so team de laur: 1 tistler cualifiché. (UdL, 08.02.2019, 32) [‘Die Tischlerei Complojer in Wengen sucht ab jetzt und ganzjährig Mitarbeiter zur Verstärkung des Teams: 1 qualifizierter Tischler.’] Gerade bei Berufen, die im untersuchten Gebiet als ,typisch‘ bezeichnet werden, so beispielsweise die Handwerks- und Gastronomieberufe, erkennt man eine tendenzielle Anpassung der Sprachgemeinschaft an Geschlechtsste‐ reotypisierungen, wobei bestimmte Berufe entweder als typisch männlich oder typisch weiblich generalisiert werden und in der sprachlichen Darstel‐ lung dementsprechend Ausdruck finden. Folgender Ausschnitt aus einem Artikel der Usc di Ladins spiegelt deutlich diese Tendenz wider. So wird beispielsweise auf den handwerklichen Beruf im Maskulinum (le tistler) referiert, während die feminine Form tendenzmäßig Berufe im Gastgewerbe kennzeichnet (la chelnera). (28) lvb. La economia adorunse düc por vire. Forsc nen vára ma de co che an la fej, porvan da odëi ite che l’economia dess ester al sorvisc dla jënt y nia atramënter; che lauré é important, mo ne pó nia jí söles sciables de raporc, mituns o families intieres; odëi che le tistler, le cogo, la chelnera, la ciamenëssa, o l’impiegat é imprömadedöt porsones. (UdL, 13.1.2020, 1) [‘Wir brauchen die Wirtschaft zum Leben. Es geht aber nur darum, wie wir sie gestalten, indem wir versuchen zu erkennen, dass die Wirtschaft als Dienst für die Menschen und nicht umgekehrt gelebt werden sollte; dass Arbeiten wichtig ist, aber es sollte nicht zur Last für Beziehungen, Kinder oder Familien werden; zu erkennen, dass der Tischler, der Koch, die Kellnerin, das Zimmermädchen oder der Angestellte zuallererst Menschen sind.’] Genauso kurios ist diesbezüglich ein für Schülerinnen und Schüler konzipiertes ‚Berufsalphabet‘ aus dem Jahre 1999, L’alfabet di mistíers. Jedem Buchstaben wird ein Beruf in der maskulinen Form zugeordnet, meistens ein für die Sprachgemeinschaft typischer Beruf. Nur bei ostí, ostira ‘Wirt, Wirtin’ findet sich zusätzlich die feminine Form. 181 Sprachliche Gleichbehandlung in einer Minderheitensprache 33 Ein gutes Bespiel ist einem Zeitungsartikel aus der Usc di Ladins (06.11.2020, 21) zu entnehmen. Es wird über ein junges Mädchen berichtet, das sich für den Beruf der Mechanikerin entschieden hat. Dieser Einzelfall ist somit zu einer Story gemacht worden. (29) lvb. A architët Architekt B bocá, boteghíer Metzger, Verkäufer C cargá, cramer, cöch Schuster, Krämer, Koch D dotur, depenjadú Arzt, Maler E eletricher Elektriker F fomere Seiler G galber Gerber H hotelíer Hotelier I idraulicher, injiníer Hydrauliker J joblere Spieler (Schauspieler) L laurant Arbeiter M moradú, morná, maéster Maurer, Müller, Lehrer N nodadú Schwimmer O ostí, ostira Wirt, Wirtin P pilot, pech, portalëtres Pilot, Bäcker, Briefträger R roder Radmacher S sartú, secretêr Näher, Sekretär T tiscere, tlomper, tistler Weber, Klempner, Tischler V verda, verdabosch Wächter, Förster Z zumpradú, zipladú Zimmermann, Schnitzer (Istitut Pedagogich Ladin, 1999, 16) Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass Berufe, die an das Territorium gebunden sind, meistens von den typischen soziokulturellen Gegebenheiten der Gesell‐ schaft abhängen. Dies bedeutet, dass die Zuordnung von Mann und Frau zu bestimmten typischen Berufen einen direkten Einfluss auf deren sprachliche Wiedergabe hat. Einerseits ist dies der einzige Kontext, in dem feminine Bezeichnungen auch generisch gebraucht werden (cf. la chelnera in Bsp. 28); andererseits zeugt dies von einer immer noch sehr konservativen Einstellung gegenüber solchen traditionellen Berufen, sei es auf der sprachlichen wie auch auf der soziokulturellen Ebene. 33 Zu einer analogen Auffassung kommt bereits Born (1997): Unterschiedlich stellt sich die Lage im Handwerks- und sonstigen Dienstleistungs‐ sektor dar. Dort scheint die alte Geschlechterordung „intakt“ zu sein: Schreib- (secreteria) und Putzdienste (ëila che jissa a rumé) sind Frauenarbeit, Tätigkeiten 182 Ruth Videsott 34 Zu einer generellen Übersicht über das Ladinische als Amtssprache cf. Mischì (2004). 35 Die Untersuchung befasst sich mit journalistischen Artikeln der italienischen Schweiz. im holzverarbeitenden (tistler) oder produzierenden Gewerbe bleiben Männern vor‐ behalten. (Born 1997, 110) Die für das Territorium als ,moderner‘ oder ,neuer‘ eingestuften Berufe sind im Gegensatz dazu auch in ihrer sprachlichen Darstellung innovativer als tra‐ ditionelle Berufsbilder, wie die Ergebnisse unseres Korpus gezeigt haben, wozu sicherlich auch die Wortschatzentwicklung des Ladinischen in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts beigetragen hat. Als das Ladinische 1989 in Südtirol als Amtssprache eingeführt wurde, 34 hat es neben einer generellen Wortschatz‐ erweiterung in bestimmten Berufsfeldern (z. B. Verwaltung, Politik, Wirtschaft, Rechtswissenschaft) in diesen Bereichen auch einen deutlichen Aufschwung an terminologischen Neubildungen gegeben. Unter anderem wurden viele neue Berufsbezeichnungen aufgenommen, wobei auf der Basis der typischen Flexionsendungen und Derivationssuffixe (cf. Kap. 2) die femininen Formen von den maskulinen abgeleitet wurden. 4 Zusammenfassende Bemerkungen Anders als im Deutschen halten viele romanische Sprachen, so das Französische und im größeren Ausmaß das Italienische, immer noch an der Priorität und Autorität des generischen Maskulinums fest. Gerade bei administrativen, juristi‐ schen und politischen Berufen werden Berufsbezeichnungen nicht systematisch feminisiert. So zeigt beispielsweise Schafroth (2004, 350; Hervorheb. i. O. fett), dass in der deutschen Presse Formulierungen wie „Petra Roth, Amtierende Präsi‐ dentin des Deutschen Städtetages […]“ sicherlich die Norm repräsentieren. Ganz anders verhalten sich analoge Kontexte im Italienischen: „Petra Roth, Sindaco di Francoforte, ha assicurato che […]“ (Schafroth 2004, 350; Hervorheb. i. O. fett), wo mit Bezug auf das gleiche Amt überwiegend die maskuline Form verwendet wird. Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kommt auch Pescia (2011, 51) bei ihrer Studie über die Feminisierung von Amts- und Berufsbezeichnungen in italienischen journalistischen Texten. 35 Die Autorin sieht die Sprache als divergent zu den soziokulturellen Entwicklungen, da sie nur teilweise das widerspiegelt, was sich rund um die Rolle der Frau in den letzten Jahrzehnten getan hat. Grundsätzlich fällt in den analysierten Zeitungsartikeln unseres Korpus auf, dass der Gebrauch femininer Formen von individuellen Entscheidungen der Journalistin/ des Journalisten abhängt. Im Gegensatz zum Italienischen scheint 183 Sprachliche Gleichbehandlung in einer Minderheitensprache 36 Gheno (2019) zeigt beispielsweise, wie arbiträr die Meinungen dazu im Italienischen sind. jedoch das Ladinische im Gebrauch von geschlechtsspezifischen Bezeichnungen für die thematisierten Berufe innovativer zu sein, auch wenn unsere Daten keinen systematischen geschlechtsspezifischen Gebrauch gezeigt haben. Ten‐ denzmäßig orientiert man sich mit Bezug auf moderne Berufe überwiegend an einer gendergerechten Wiedergabe, was bei den traditionellen Berufen jedoch nicht der Fall ist. Ein nicht irrelevanter Aspekt ist dabei auch die stärkere Nähe zur deutschen Sprache hinsichtlich geschlechtsspezifischer Themen. Dies ist zumindest für diejenigen Varietäten von Bedeutung, die einen direkten Kontakt zum Deutschen haben (Gadertalisch und Grödnerisch). So sind Fragen wie „si può dire ministra? È opportuno firmarsi la dirigente? “ (Robustelli 2012, 3; Hervorheb. i. O.) in der ladinischen Presse aktuell kaum präsent. Für das Fassanische spielt jedoch der Kontakt zum Deutschen keine fundamentale Rolle für die Feminisierung von Berufsbezeichnungen. Neben dem eigentlichen Gebrauch von solchen Termini in einem bestimmten Medium würde eine Untersuchung zur Akzeptanz der Sprachgemeinschaft diesbezüglich das Forschungsfeld im Ladinischen sicherlich ergänzen. 36 Bibliographie Autonome Provinz Bozen (2021a): Diretives per n’adurvanza nia descriminënta dla rujeneda/ Diretives por n’adoranza nia descriminënta dl lingaz, https: / / www.provincia.bz.it/ politica-dert-relaziuns-ester/ dert/ chestiuns-linguistiche s/ diretives-adurvanza-descriminenta-rujeneda.asp (21.05.2022). 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L’uso di una lingua non sessista nel territorio italofono ha ricevuto importanti stimoli attraverso il volume di Sabatini Il sessismo nella lingua italiana ( 2 1993 [1987]). Le linee guida per una lingua non sessista si riferiscono tuttavia in gran parte al linguaggio dell’amministrazione. Nel 2014 è stato pubblicato - sotto la direzione di Robustelli - il libro Donne, grammatica e media, il quale si rivolge in particolar modo alle giornaliste e ai giornalisti. In questo contesto vengono delineati, nel presente contributo, da una parte gli sviluppi verificatisi negli ultimi 25 anni in Italia in merito alla lingua di genere; dall’altra vengono presentati i risultati di uno studio di caso sulla rappresentazione di Ursula von der Leyen nella stampa quotidiana italiana (La Repubblica e Corriere della Sera; 2.7.2019-1.12.2019) e, sulla base di un esempio concreto, viene illustrato lo stato attuale dell’uso della lingua di genere. Al centro dell’analisi sta una selezione di lessemi (ministra/ o, presidente, signora) e il riferimento a Ursula von der Leyen mediante nome proprio. Inoltre vengono considerati riferimenti a caratteristiche personali (aspetti fisici, situazione familiare etc.) che contrassegnano in particolar modo il discorso sulla donna. Abstract In the Italian feminist movement, the linguistic component has taken a long time to emerge. Sabatini’s work, Il sessismo nella lingua italiana, has provided significant motivation for gender-equitable language use in the Italophone area (1987; 2 1993). However, relevant guidelines for gender-equitable language are frequently connected to administrative language. The manual Donne, Grammatica e Media, directed by Robustelli, was released in 2014, with a focus on journalists. In this context, this article examines, on the one hand, the advances in Italy regarding gender-equitable language during the last 25 years; on the other hand, it shows the case study results on Ursula von der Leyen’s depiction in the Italian daily press (La Repubblica and Corriere Della Sera; 2.7.2019-1.12.2019). This aims at demonstrating the current status of gender-equitable language use through a specific example. The study focuses on specific lexemes (ministra/ o, presidente and signora) and the use of proper names to refer to Ursula von der Leyen. Selected person-related factors will also be investigated. Keywords: Amtsbezeichnungen, Feminisierung, geschlechtergerechte Sprache, Italophonie, Pressesprache 1 Einleitung Für die Genderforschung bietet die Tagespresse ein großes Spektrum an Themen. Diese reichen von der Repräsentation von Politiker/ innen, Sportler/ innen, Künstler/ innen usw. bis hin zu themenspezifischen Debatten (Kotthoff/ Nübling 2018, 308). Nach Burr (1997, 137) wird den Printmedien im Allgemeinen und den Tageszeitungen im Besonderen im Zusammenhang mit sprachbezo‐ genen Fragestellungen große Bedeutung beigemessen, insofern als sie „als Do‐ kument des jeweiligen Sprachzustandes sowie der in der Norm […] ablaufenden Veränderungen“ zu betrachten sind. Bereits bei Sabatini ( 2 1993), die mit ihrem Werk Il sessismo nella lingua italiana der geschlechtergerechten Sprache in Italien wesentliche Impulse gab, spielte die Pressesprache eine herausgehobene Rolle. Sabatini lieferte hierfür die folgende Begründung: Il linguaggio dei giornali e delle riviste è stato prescelto come terreno d’indagine, in quanto è la forma scritta della lingua più accessibile e più vicina alla lingua quotidiana che fornisce, per la sua ampia diffusione e autorevolezza, uno dei modelli principali di comportamento linguistico alla società contemporanea. (Sabatini 2 1993, 20) In diesem Beitrag sollen zum einen die Entwicklungen in Bezug auf geschlech‐ tergerechte Sprache nachgezeichnet werden, wie sie sich in Italien in den letzten ca. 25 Jahren vollzogen haben. Zum anderen soll, im Sinne einer Anknüpfung an die Studie von Burr (1997) zur Referenz auf Frauen und Männer in der italienischen Tagespresse, der aktuelle Stand geschlechtergerechter Sprachver‐ wendung anhand eines konkreten Fallbeispiels illustriert werden. Im Fokus 192 Antje Lobin 1 Vorläufer von Sabatini waren nach Villani (2012, 321-322) Alfonso Leone (1966) und Luciano Satta (1968). So hatte bereits Satta (1968, 148-149) die Empfehlung gegeben, das Suffix -essa nur im Falle femininer Formen zu verwenden, die seit Langem belegt sind, z. B. professoressa und dottoressa. Eine synthetische Zusammenschau der Leitfäden im italophonen Sprachraum findet sich bei Elmiger/ Tunger (2014, 54-57) und Lobin (2015, 138-143). steht hierbei die Repräsentation von Ursula von der Leyen in den beiden Tages‐ zeitungen La Repubblica und Corriere della Sera. Hiermit soll auch ein Beitrag geleistet werden zu der nach Koch (2007, 164) immer noch sehr lückenhaften Forschung über Politikerinnen in den Medien. In Kapitel 2 werden zunächst die Maßnahmen zur Etablierung geschlechter‐ gerechter Sprache im historischen Verlauf sowie deren Umsetzung in den Blick genommen. Dem folgt in Kapitel 3 die Darstellung der Empfehlungen zur Feminisierung für ausgewählte italienische Lexeme. Die zentralen Ergebnisse der Studie von Burr (1997) werden in Kapitel 4 in synthetischer Form wieder‐ gegeben, woran sich die Präsentation der Ergebnisse der Fallstudie zu Ursula von der Leyen anschließt. 2 Die Etablierung geschlechtergerechter Sprache in Italien 2.1 Empfehlungen und Leitfäden In der feministischen Bewegung Italiens hat es lange gedauert, bis die sprach‐ liche Komponente dieser Debatte ins Blickfeld gerückt ist. So schreibt Burr (1995, 141): […] stupisce il fatto che […] la questione del sessismo nell’uso della lingua o nelle opere di consultazione non abbia destato grande attenzione nella linguistica italiana in Italia e all’estero e che la relazione fra il genere e i sessi non sia mai stata veramente analizzata. Die geschlechtergerechte Sprachverwendung im italophonen Raum ist wesent‐ lich durch das Werk Il sessismo nella lingua italiana von Sabatini ( 2 1993 [1987]) initiiert worden. 1 Die Autorin stellte hierin einen Katalog sog. Raccomandazioni auf, deren Zweck sie wie folgt beschreibt: „Lo scopo di queste raccomandazioni è di suggerire alternative compatibili con il sistema della lingua per evitare alcune forme sessiste della lingua italiana […]“ (Sabatini 2 1993, 97). Als Auftragsarbeit handelte es sich bei diesem Leitfaden um eine der seltenen Maßnahmen des italienischen Staates, die die Sprachverwendung beeinflussen und regulieren sollten. Anders als es von Sabatini vorgesehen worden war, wurden diese Empfehlungen vielfach als richtiggehende sprachliche Normen dargestellt (Ro‐ 193 Geschlechtergerechtigkeit in der italienischen Tagespresse 2 In diesem Kontext sei auch verwiesen auf das Netzwerk Rei (Rete per l’Eccellenza dell’Italiano istituzionale), das 2003 in Brüssel gegründet wurde. 3 Nur am Rande sei in diesem Zusammenhang auch das Global Media Monitoring Project (GMMP) erwähnt, die größte internationale Medienbeobachtung zur Repräsentanz von Frauen in den Medien. bustelli 2016, 47). Im Wesentlichen waren diese Raccomandazioni auf folgende drei Zielsetzungen gerichtet: 1. die Vermeidung des sog. generischen Maskulinums; 2. die Vermeidung des asymmetrischen Gebrauchs im Bereich der Namens‐ gebung und der Adjektive; 3. die Vermeidung des maskulinen Genus bei Amts- und Berufsbezeich‐ nungen, die sich auf Frauen beziehen (Robustelli 2016, 30). In den folgenden Jahren wurde die geschlechtergerechte Sprache schwerpunkt‐ mäßig aus der Perspektive der Verwaltung betrachtet. So wurde im Jahr 2009 von Fioritto das Manuale di stile dei documenti amministrativi veröffentlicht, das ein Referenzwerk im Bereich der Vereinfachung der Verwaltungssprache darstellt und hierbei auch zur Feminisierung Position bezieht. Eine Handrei‐ chung aktuelleren Datums bilden die Linee guida per l’uso del genere nel linguaggio amministrativo, die von Robustelli in Zusammenarbeit mit der Accademia della Crusca im Jahr 2012 veröffentlicht wurden und sich im Dienste der Sensibilisierung für einen geschlechtergerechten Sprachgebrauch ebenfalls auf die Verwaltungssprache beziehen. Auch auf europäischer Ebene sind Maß‐ nahmen für einen geschlechtergerechten Sprachgebrauch unter Einbeziehung des Italienischen ergriffen worden. So ist 2008 der Leitfaden La neutralità di genere nel linguaggio usato al Parlamento europeo erschienen. Insbesondere im europäischen Kontext ist, auch im Zusammenhang mit der Mehrsprachigkeit, ein abgestimmter Sprachgebrauch von besonderer Relevanz (Robustelli 2016, 118). 2 Im journalistischen Bereich wurde in Italien im Jahr 1998 im Zusammenhang mit der grundsätzlichen Unterrepräsentanz von Frauen in der Medienbericht‐ erstattung die Commissione Pari Opportunità della Federazione nazionale stampa italiana (Cpo-Fnsi) gegründet, deren Ziele im Einklang stehen mit denjenigen, die 1995 anlässlich der UN-Weltfrauenkonferenz in Peking formuliert worden waren (empowerment, mainstreaming). Zwar wurde die Aufmerksamkeit ge‐ genüber der medialen Repräsentation von Frauen und gegenüber einer nicht‐ diskriminierenden Sprache dadurch erhöht, wesentliche Neuerungen konnten zur Jahrtausendwende jedoch noch nicht verzeichnet werden (Robustelli 2016, 55-57). 3 Im September des Jahres 2011 wurde das Journalistinnen-Netzwerk 194 Antje Lobin 4 An dieser Stelle sei auf die Akzeptabilitätsstudie von Castenetto (2020, 104) hinge‐ wiesen, wonach auf der Grundlage von ca. 200 Teilnehmenden 5 von 6 befragten Italophonen ministra akzeptieren. G I UL I A (giornaliste unite libere autonome) gegründet. Unter der Leitung von Robustelli wurde von diesem Netzwerk 2014 der Leitfaden Donne, grammatica e media herausgebracht, der sich in besonderer Weise an Journalistinnen und Journalisten richtet. 2.2 Beobachtungen zur Umsetzung der Maßnahmen Die Umsetzung der Empfehlungen von Sabatini hat sich nur langsam vollzogen. So stellte Robustelli (2000, 51; Hervorheb. i. O.) in Bezug auf die Feminisierung in der Presse fest: „Da uno spoglio dei quotidiani più diffusi emerge che le Racco‐ mandazioni sono state scarsissimamente accettate.“ Auch anderthalb Jahrzehnte später bestätigt sie diese Beobachtung und bekundet: „[…] l’uso concreto del linguaggio nei media non presenta cambiamenti sostanziali: dal 1987, anno della pubblicazione delle Raccomandazioni, al 2012 […] la situazione è praticamente immutata […]“ (Robustelli 2016, 63; Hervorheb. i. O.). Noch plakativer formuliert es die Vorsitzende des Netzwerkes G I UL I A Alessandra Mancuso im Vorwort des Leitfadens Donne, grammatica e media: „Sono passati quasi trent’anni dalle Raccomandazioni per un uso non sessista della lingua italiana di Alma Sabatini e il giornalismo, con poche eccezioni, continua a definirle al maschile: può essere incinta, ma resta ministro“ (Robustelli 2014, 11; Hervorheb. i. O.). Für diese zögerliche Entwicklung werden verschiedene Gründe ins Feld geführt. Laut Marcato/ Thüne (2002, 210) ermöglicht die morphologische Struktur des Italienischen zwar den systematischen Ausdruck des weiblichen Geschlechts, allerdings scheinen etablierte und verfestigte Gebrauchsnormen dies mitunter zu verhindern. Auch ästhetische Bedenken werden immer wieder laut. Beispiels‐ weise bekundete die Politikerin Stefania Prestigiacomo, der von 2007-2011 das Ministerium für Umwelt, Landschafts- und Meeresschutz unterstand, in einem Interview gegenüber Massimo Arcangeli, sie bevorzuge die Bezeichnung ministro, da: „[…] ritengo che il titolo riguardi il ruolo e non la sua connotazione sessuale. Penso che possano esserci signori Ministro e signore Ministro. E poi Ministra, diciamocelo francamente, suona molto male“ (Arcangeli 2007, 21-22; Hervorheb. i. O.). 4 Auch Serianni (2006, 132) ist der Frage nachgegangen, wie es um die Um‐ setzung der Raccomandazioni dreißig Jahre nach deren Erscheinen bestellt ist. Wesentlich ist hiernach zunächst die Überwindung des asymmetrischen Namengebrauchs bei Frauen und Männern im Bereich der Politik. Serianni beobachtet eine Entwicklung hin zu einem einheitlichen Gebrauch, bei dem 195 Geschlechtergerechtigkeit in der italienischen Tagespresse nicht mehr mittels Nachname auf den Mann und mittels Artikel + Nachname auf die Frau oder mittels Nachname auf den Mann und mittels Vorname auf die Frau referiert wird. Für den pressesprachlichen Bereich stellt er fest: „Oggi, nell’uso giornalistico, il vezzo di adoperare il primo nome per i personaggi di rilievo pubblico sembra equamente diffuso per i due sessi […]“ (Serianni 2006, 133). Darüber hinaus bemerkt er bezüglich der Feminisierung von Berufs‐ bezeichnungen allerdings: „Molto più incerta si presenta la situazione per i titoli e i nomi professionali in genere“ (Serianni 2006, 133). In ihrer Untersuchung zur Feminisierung in der Presse, wie sie sich sowohl in Italien als auch in der italienischsprachigen Schweiz gestaltet, beobachtet Pescia (2010, 67) ihrerseits folgende Tendenz: Osservando più da vicino le ricorrenze degli agentivi del corpus dell’italiano d’Italia si nota inoltre che l’oscillazione tra maschile e femminile avviene spesso all’interno dello stesso articolo, senza che tuttavia ci siano evidenti motivi stilistici, all’infuori della variatio, che la motivino. (Hervorheb. i. O.) Diese Beobachtung wird von Villani (2012, 325) für die Protokolle von Parla‐ mentssitzungen bestätigt. Hier stellt sich m. E. jedoch die Frage, ob tatsächlich stilistische Bemühungen der variatio angenommen werden dürfen, oder ob es sich nicht eher um Schwankungen im Sinne eines uneinheitlichen Gebrauchs handelt. 3 Ausgewählte Empfehlungen im Fokus Im Hinblick auf die nachfolgende Fallstudie zur pressesprachlichen Repräsen‐ tation von Ursula von der Leyen (cf. Kap. 4.2) wird aus dem umfassenderen Gebiet geschlechtergerechter Sprachempfehlungen im Folgenden der Blick auf ausgewählte Lexeme (ministra/ o, presidente, signora), auf die Referenz mittels Eigenname und auf semantische Asymmetrien gerichtet. Die Bezeichnung ministra, die für Amtsinhaberinnen von Robustelli (2014, 76) empfohlen wird, existierte für eine hohe Würdenträgerin zwar bereits seit dem 14. Jh., allerdings nicht in der Bedeutung eines Regierungsmitglieds (Robustelli 2016, 97). Die erste Frau, der in einer italienischen Regierung ein Ministeramt übertragen wurde, war Tina Anselmi, die 1976 unter der Regierung von Giulio Andreotti das Ministerium für Arbeit und Sozialversicherung übernahm. Die feminine Form des Substantivs hatte sich zu dieser Zeit jedoch noch nicht etabliert. In seltenen Fällen wurde im vergangenen Jahrhundert ministressa zur scherzhaften Bezeichnung der Ehefrau eines Ministers verwendet (Robus‐ telli 2016, 97). Für ministro/ ministra hatte Sabatini ( 2 1993, 114) damals die 196 Antje Lobin 5 Das Suffix -essa diente lange Zeit der Bezeichnung der Ehefrau dessen, der ein bestimmtes Amt ausübt. Heute taucht das genannte Suffix in Adelstiteln auf, die über die männliche Linie vererbt werden, z. B. principessa, contessa (Robustelli 2016, 93). Empfehlung gegeben, il ministro Maria Rossi, il ministro donna sowie la donna ministro zu vermeiden und stattdessen la ministra Maria Rossi zu verwenden. Über das Femininum von ministro ist in der Folge - mit unterschiedlicher Sachlichkeit - viel diskutiert worden. So schrieb etwa der Journalist Riccardo Chiaberge im März 2007 im Sole 24 Ore, die Form ministra habe eine „vaga assonanza con ‚minestra‘“ (Robustelli 2016, 78). Die Komposita aus donna + Berufsbezeichnung, wie sie anhand von ministro deutlich werden, wurden von Sabatini ( 2 1993, 116) grundsätzlich abgelehnt. Nach Marcato/ Thüne (2010, 194) liegt die Betonung bei der Determinationsreihenfolge la donna x auf der Komponente ‘Frauʼ, während in il x donna die berufsbezogene Komponente in den Fokus rückt. Dies wird von Sabatini ( 2 1993, 26) wie folgt erläutert: „‚La donna sindaco‘ deriva infatti dal sintagma ‚la donna che ha la funzione di sindaco‘, così come il ‚sindaco donna‘ deriva dal sintagma ‚il sindaco che (però) è donna‘.“ Aus heutiger Sicht werden die Bildungen mittels des Modifikators donna einer Zeit zugeordnet, in der die morphologischen Äquivalente der maskulinen Formen noch nicht sehr verbreitet waren. Es sind gewissermaßen frühe und überholte Realisierungen der geschlechtergerechten Formulierung, die vermieden werden sollten - es sei denn, dass tatsächlich die Einzigartigkeit der Besetzung einer Position, die traditionellerweise von einem Mann bekleidet wird, durch eine Frau unterstrichen werden soll (Robustelli 2014, 51). In gleicher Weise als veraltet gilt auch das Syntagma la ministro, das darüber hinaus Ausdruck von lexikalischer Unsicherheit ist (Robustelli 2014, 52; 2016, 102). Das ambigene, aus einem lateinischen Partizip Präsens hervorgegangene Substantiv presidente hat zum einen bezüglich des mit ihm verbundenen Arti‐ kelgebrauchs, zum anderen wegen der möglichen Femininbildung auf -essa zu regen Debatten geführt (z. B. Cortelazzo 1995; Lepschy/ Lepschy/ Sanson 2002). Die Bildungen mittels des Suffixes -essa waren von Sabatini ( 2 1993, 26) aufgrund der abwertenden und ins Lächerliche ziehenden Konnotationen verurteilt worden. Möglicherweise ist diese Einschätzung seitens Sabatini auch begünstigt worden durch die ironische Verwendungsweise von Formen wie z. B. deputatesse oder ministresse bei einigen Autoren der zweiten Hälfte des 19. Jh. (Benucci 2012, 60, zitiert nach Robustelli 2014, 49). 5 Heute werden Bildungen auf -essa nicht mehr mit der gleichen Vehemenz verurteilt wie zu Zeiten Sabatinis. Robustelli (2014, 49-50) schreibt diesbezüglich: 197 Geschlechtergerechtigkeit in der italienischen Tagespresse 6 Für eine detaillierte Darstellung der Wortgeschichte sei verwiesen auf Prifti/ Schwei‐ ckard (1979-). Ma oggi il suffisso -essa non sembra avere la connotazione tanto negativa che le aveva attribuito Sabatini. Casomai rende le forme femminili foneticamente ‚pesanti‘ e per questo, ma solo per questo, si possono preferire, quando disponibili, altre forme. […] Non c’è quindi ragione di cancellare le forme in -essa che risultano bene attestate nell’uso e che possono essere usate tranquillamente. Über die von Sabatini seinerzeit empfohlenen Formen schreibt Robustelli (2016, 94) gar: Oggi […] si vede che le forme in -essa, ormai ben radicate […], rimangono e conti‐ nuano a essere tranquillamente usate. Fanno capolino, ogni tanto, dottora, professora, studente, che riflettono il veto di Alma Sabatini, ma non sono veramente mai entrate nell’uso. Anzi, è proprio dottora ad avere una connotazione negativa. (Hervorheb. i. O.) Hinsichtlich des Lexems presidente hatte Sabatini ( 2 1993, 112) seinerzeit emp‐ fohlen, il presidente Rossi zugunsten von la presidente Rossi zu vermeiden. Die Form la presidente ist seit Langem belegt und lässt sich bis ins 17. Jh. zurückverfolgen. Sie diente damals jedoch nicht zur Benennung der Inhaberin eines politischen Amtes, sondern zur Bezeichnung der Oberin eines Klosters. Erwartungsgemäß lautet auch heute die Empfehlung, la presidente vor la presidentessa und v. a. vor il presidente zu verwenden (Robustelli 2014, 50). Ebenfalls zu vermeiden ist laut Robustelli die Form la presidenta (Robustelli 2016, 101), die bei Sabatini ( 2 1993) so nicht aufgeführt wurde. Mit der Geschichte und Vorkommensentwicklung der Lexeme presidente und presidentessa beschäftigt sich auf der Grundlage stenografierter Protokolle der Sitzungen von Abgeordnetenkammer und Senat sowie auf Basis der elek‐ tronischen Archive dreier Tageszeitungen (Corriere della Sera, La Stampa, La Repubblica) auch Villani (2012). 6 In den ausgewerteten stenografierten Proto‐ kollen der Senatssitzungen ist die Form presidentessa zwischen 1996 und 2012 lediglich zweimal belegt. Eine Stichwortsuche in der elektronischen Tagespresse ergibt von 1994 ( Jahr, in dem Irene Pivetti zur Präsidentin der italienischen Abgeordnetenkammer gewählt wurde) bis 2012 1.908 Treffer für La Stampa, 608 für den Corriere della Sera und 127 für die Repubblica (Villani 2012, 330). Insgesamt lässt sich folgende Tendenz einer Distribution zwischen den Formen la presidente und la presidentessa beobachten: Nel designare donne che siano alla guida di accademie, di istituzioni, di un partito, di organismi parlamentari o internazionali è usato, nella grande maggioranza dei 198 Antje Lobin casi, il termine presidente: la marcatura di genere è affidata all’articolo e l’oscillazione tra maschile e femminile è abbastanza forte. […] Anche se non si può parlare di una specializzazione dei due termini, vi è tuttavia una distinzione di registro fra (la) presidente, di tono più elevato, e presidentessa, che designa in genere incarichi di minor prestigio. (Villani 2012, 330-331; Hervorheb. i. O.) Villani (2012, 330) stellt zudem fest, dass der Begriff presidentessa in der Presse‐ sprache zuweilen eine ironische oder abwertende Konnotation hat und dass er zur Bezeichnung der Ehefrau eines Präsidenten nur noch selten, und wenn, dann in scherzhafter Absicht verwendet wird. Eine weitere sehr interessante Beobachtung, die eine vertiefte Analyse verdient, ist, dass die beiden Bildungen auf -essa deputatessa und presidentessa tendenziell dann auftreten, wenn es um nicht italienische Amtsinhaberinnen geht - ohne jede ironische Konnotation (Villani 2012, 333). Bereits Sabatini ( 2 1993, 53) hatte festgestellt, dass die Sprache, mittels derer auf Frauen referiert wird, von einer mitunter unangemessenen Vertraulichkeit zeugt. Ein Indikator dieser Vertraulichkeit ist etwa die Referenz mittels des Substantivs signora anstelle der Amtsbezeichnung (Robustelli 2016, 35). Sabatini ( 2 1993, 107) hatte diese Praxis verurteilt: „Evitare il titolo di ‚signora‘ quando può essere sostituito dal titolo professionale (soprattutto quando i nomi maschili copresenti sono accompagnati dal titolo).“ Neben den Empfehlungen, die zu unterschiedlichen Zeiten zu ausgewählten Lexemen gegeben werden, verdient der Gebrauch des Eigennamens nähere Be‐ trachtung. Werden Eigennamen zur Referenz auf Personen verwendet, bestehen verschiedene Realisierungsmöglichkeiten. Die Referenz kann entweder durch Gebrauch des Vornamens, durch Gebrauch des Nachnamens oder aber durch eine Kombination von beiden erfolgen. In Bezug auf die Referenz auf Männer und Frauen war es Sabatini ( 2 1993, 106) damals v. a. um eine symmetrische Handhabung gegangen: „Evitare la segnalazione dissimmetrica di donne e uomini nel campo politico, sociale e culturale facendo in modo che la segnala‐ zione sia parallela.“ Den alleinigen Gebrauch des Vornamens bei der Referenz auf Frauen beklagt Robustelli (2016, 22, 28) allerdings auch noch im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends. Eng verbunden mit der Diskussion um die Namenswahl ist diejenige um den Gebrauch des bestimmten Artikels im Zu‐ sammenhang mit Nachnamen, wenn sie auf Frauen referieren. Robustelli (2014, 53) verweist darauf, dass die Grammatik die Setzung des bestimmten Artikels bei der Referenz auf Frauen traditionell vorsah, erkennt jedoch bezüglich dessen Verwendung Anzeichen einer Übergangsphase. Auch unter Berücksichtigung der gestalterischen Spezifika im pressesprachlichen Bereich gibt Robustelli (2014, 52) bezüglich des Artikelgebrauchs folgende Empfehlung: „[…] usiamo 199 Geschlechtergerechtigkeit in der italienischen Tagespresse pure tranquillamente il cognome delle donne senza l’articolo, così come avviene per quello degli uomini, a tutto vantaggio del numero di caratteri talvolta davvero esiguo di cui si può disporre.“ Darüber hinaus plädiert sie dafür, bei entsprechendem Vorkommen in der Presse Nachsicht walten zu lassen: „Ma ricordiamo che la tradizione grammaticale in questi casi prescriveva l’uso dell’articolo. Pertanto non scandalizziamoci troppo se ‚scappa‘ un la davanti a un cognome femminile…“ (Robustelli 2014, 53; Hervorheb. i. O.). Im Kontext der geschlechtergerechten Sprache sind neben den grammati‐ kalischen auch sog. semantische Asymmetrien zu vermeiden. Hierzu zählen weitere Spezifizierungen der Referentinnen oder Referenten sowie diesen zu‐ geordnete Bilder. Wenn Letztere auch nicht zur traditionellen Sprachnorm gehören, können sie dennoch eine diskursive bzw. semantische Norm der Sprachverwendung darstellen, zumal dann, wenn sie auf Stereotypen und Vorurteilen gegründete Regelmäßigkeiten aufweisen (Burr 1997, 140). Über das Zusammenwirken dieser beiden Kategorien von Asymmetrien schreibt Sabatini ( 2 1993, 21): „[…] nella realtà della lingua i due tipi di dissimmetrie si intrecciano e si saldano, cumulando e rinforzando il loro effetto.“ Über die geschlechterbezogenen Zuschreibungen, wie sie sich bis heute darstellen, schreibt Robustelli (2016, 74): „[…] far riferimento all’età e all’aspetto fisico, se possibile con qualche sottinteso malizioso, è un atteggiamento ancora frequente. […] E del resto è innegabile che più una donna è ‚potente‘, più la si pizzica su questi aspetti.“ 4 Pressesprachliche Studien 4.1 Zur Referenz auf Frauen und Männer in der italienischen Presse (Burr 1997) Im Folgenden werden zunächst einige der zentralen Ergebnisse der Studie von Burr zur Referenz auf Frauen und Männer in der italienischen Tagespresse (1997) synthetisch präsentiert. Basis der Untersuchung war ein umfangreiches elektronisches Korpus, das aus 9 Ausgaben italienischer Tageszeitungen aus dem Jahr 1989 bestand (Corriere della Sera; Il Mattino; La Repubblica; La Stampa). Der Umfang des Korpus belief sich auf 724.505 Wortformen, die Anzahl der untersuchten Eigennamen umfasste 13.612 Belege (Burr 1997, 141). Im Jahr 1997 schrieb Burr (1997, 133), dass bislang „systematische Untersuchungen und empirische Daten dazu, wie die Referenz auf die beiden Geschlechter im aktu‐ ellen Sprachgebrauch tatsächlich gehandhabt wird, [fehlen].“ Als Gründe hierfür nannte sie u. a., dass sich das empirische Interesse v. a. auf geschlechtsbedingte Unterschiede im Sprachgebrauch, im Kommunikationsverhalten und bei den 200 Antje Lobin Gesprächsstrategien konzentriere (Burr 1997, 133; cf. hierzu auch Fresu 2008). Die zum damaligen Zeitpunkt wenigen empirisch angelegten Untersuchungen zu den Berufsbezeichnungen wiederum beschäftigten sich i. d. R. nicht mit dem tatsächlichen Gebrauch dieser Formen. Im Fokus stehen vielmehr die psychologische Realität des generischen Maskulinums sowie die Frage nach der Akzeptanz femininer Berufsbezeichnungen (Burr 1997, 133-134). Von den 13.612 personenbezogenen Eigennamen aus dem Datenmaterial von Burr (1997) referieren 90,97 % (= 12.383) auf Männer, gegenüber 9,03 % (= 1.229), die auf Frauen Bezug nehmen. Von den 15.385 ermittelten Berufsbezeichnungen referieren lediglich 5,02 % (= 773) explizit auf Frauen und gerade einmal 0,73 % (= 112) auf ausdrücklich gemischtgeschlechtliche Kleingruppen (Burr 1997, 142). In Bezug auf die Namenswahl hat Burr ermittelt, dass im Falle der Referenz auf Frauen mit 85,11 % die Formen ‚Vorname‘ oder ‚Vor- und Nachname‘ überwiegen. Demgegenüber wird bei der Referenz auf Männer mit 55,76 % der autonome Gebrauch des Familiennamens bevorzugt (Burr 1997, 142). Zudem konnte Burr in einer statistischen Untersuchung feststellen, dass die verschie‐ denen Realisierungen der Referenz auf Frauen viel stärker von der Norm abwichen, als dies bei der Referenz auf Männer der Fall war (Burr 1997, 146). Sie liefert hierfür folgende Interpretation: Damit reflektiert sich das Außergewöhnliche der Präsenz von Frauen in der Welt der italienischen Tageszeitungen unseres Korpus auch im Sprachgebrauch. Der Mann ist in dieser Welt die Norm. Es versteht sich deshalb von selbst, dass Familiennamen als solche immer auf Männer referieren. Sind ausnahmsweise Frauen gemeint, so muss darauf mit Hilfe des Vornamens ausdrücklich hingewiesen werden. (Burr 1997, 146) Burr hat sich auch mit dem Gebrauch des bestimmten Artikels im Zusam‐ menhang mit Eigennamen beschäftigt. Dieser unterliegt im Italienischen unter‐ schiedlichen Gebrauchsbedingungen, je nachdem, ob auf eine männliche oder weibliche Person referiert wird. Burr zufolge zeigt sich die Ungleichbehand‐ lung der beiden Geschlechter dort, wo ausschließlich der Familienname zur Individualisierung von Personen eingesetzt wird. Während der geschlechtsindi‐ zierende bestimmte Artikel bei einem Drittel (33,88 %) der Referenzen auf Frauen vorkommt, erscheint er bei der Referenz auf Männer nur in 0,74 % der Fälle (Burr 1997, 149). Wenn der bestimmte Artikel bei der Referenz auf Männer verwendet wird, dann geschieht dies im Datenmaterial von Burr bei drei Kategorien von Referenten: erstens bei historischen Persönlichkeiten, zweitens bei in Verbre‐ chen verwickelten Männern und drittens im Falle des Fußballtrainers Giovanni Trapattoni, wenn dessen Familienname abgekürzt wird (Burr 1997, 155). Dies bestätigt, dass im Italienischen bei der Referenz auf Männer der Familienname 201 Geschlechtergerechtigkeit in der italienischen Tagespresse 7 Ein Zusammenhang zwischen der Wahl der Namenverwendungsform und dem Ge‐ schlecht bei der Bezeichnung von Politikern und Politikerinnen in der Tagespresse wird für das Deutsche auch von Rollnik (2014, 339) nachgewiesen. Allerdings findet im Zeitraum zwischen 1996 und 2010 eine zunehmende Angleichung statt. 8 Diese Ergebnisse werden auch durch lexikographische Studien gestützt. Ferrucci (2012) hat im Grande dizionario italiano dell’uso (GRADIT) auf der Grundlage semantischer Relationen diejenigen Lexeme untersucht, die mit dem Lemma donna in Beziehung stehen. Die Gesamtheit umfasst 1.808 Lemmata, die in 10 Makrokategorien eingeordnet wurden (z. B. zwischenmenschliche Beziehungen und Familie; äußere Erscheinung; Gesellschaft, Kultur und Politik). Insgesamt stellt sie für den auf die Frau bezogenen Wortschatzbereich „un’egemonia del parametro dell’esteriorità“ (Ferrucci 2012, 132) fest. prinzipiell ohne Artikel gebraucht wird und dass der Familienname als solcher bereits anzeigt, dass der Referent ein Mann ist. Nach Burr (1997, 156) wird durch diese Maskulinisierung des Familiennamens der Artikel von der Aufgabe entbunden, eines der beiden in Opposition stehenden Geschlechter anzuzeigen. Vielmehr ergibt sich mit Bezug auf Männer die Möglichkeit einer sekundären Markierung, die der Bedeutung ‘berühmt/ berüchtigtʼ entspricht (Burr 1997, 156). 7 Burr (1997, 159) ist auch der Frage der semantischen Asymmetrien und etwaiger Zuschreibungen nachgegangen. Zu diesem Zweck wurden folgende 8 Kategorien etabliert: 1. Angaben zur Funktion (Hinweise auf den Beruf, die Position, die Parteizu‐ gehörigkeit oder die ausgeübte Aktivität); 2. Angaben zum Alter; 3. Angaben zur Nationalität; 4. Angaben zur engeren zwischenmenschlichen Beziehung (Verwandtschaft, Lebensgemeinschaft, Ehe); 5. Charakterisierungen (zugeordnete Bilder, Wertungen usw.); 6. Nennungen von Titeln; 7. Gebrauch von Signora/ Signore zusammen mit dem Eigennamen; 8. Hinweise auf ‚körperliche Eigenschaften‘ (Statur, Kleidung usw.). Hierbei hat sich herausgestellt, dass bei Frauen signifikant häufiger Angaben zu Verwandtschaft, Lebensgemeinschaft, Ehe und zu ihrer Erscheinung gemacht werden als bei Männern. 8 Sie werden zudem öfter durch Wertungen und über ihr Alter weiterbestimmt. Männliche Referenten werden dagegen eher von Hinweisen auf Beruf, Position, Parteizugehörigkeit oder eine ausgeübte Akti‐ vität begleitet (Burr 1997, 161). Eine unterschiedliche Handhabung ergibt sich auch im Zusammenhang mit dem Zusatz Signore/ Signora. Abgesehen davon, 202 Antje Lobin dass Signore sehr selten verwendet wird, zeigt sich auch folgender funktionaler Unterschied. Während der Zusatz Signora darauf hinweist, dass es sich bei den mit Eigennamen bezeichneten Referenten um eine Frau handelt, wird Signore fast ausschließlich als höfliche Anredeform, z. B. in Interviews, verwendet (Burr 1997, 161, 176). In der Folge schwächt sich die semantische Bedeutung von Signora ab, das, ebenso wie der bestimmte Artikel, eine grammatische Funktion übernimmt und v. a. zur Geschlechtsspezifizierung im Sinne der Feminisierung des maskulinen Familiennamens verwendet wird (Burr 1997, 176). Diese spezifische Verwendungsweise von Signora dient nicht zuletzt der Hervorhebung der außergewöhnlichen Präsenz von Frauen (Burr 1997, 162). Was die körperlichen Eigenschaften betrifft, so wird bei Frauen das Erschei‐ nungsbild (inklusive Kleidung und Schmuck) nach subjektiven und stereotypen Kriterien wie Schönheit oder Anmut bewertet. Demgegenüber werden bei der Bewertung von Männern objektive Kriterien wie der messbare Körperbau ange‐ setzt (Burr 1997, 166). Insgesamt wird in den Medien ein äußerst asymmetrisches Bild der Geschlechter entworfen, bei dem Männer auf das gesellschaftliche Leben gerichtet und Frauen dem Privaten verpflichtet sind (Burr 1997, 163). 4.2 Fallstudie: Zur Repräsentation von Ursula von der Leyen in der italienischen Presse Im Zentrum der folgenden Ausführungen steht die Repräsentation von Ursula von der Leyen in der italienischen Tagespresse. Ursula von der Leyen wurde am 2. Juli 2019 durch den Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs einstimmig als Kommissionspräsidentin nominiert. Nur die deutsche Bundes‐ kanzlerin Angela Merkel enthielt sich bei dieser Wahl. Am 16. Juli 2019 wurde Ursula von der Leyen vom Europäischen Parlament als erste Frau zur desi‐ gnierten Kommissionspräsidentin gewählt. Sie erhielt eine absolute Mehrheit von 383 Stimmen (9 Stimmen mehr als die erforderliche Mehrheit von 374 der 747 Europa-Abgeordneten). Auf heftige Kritik von mehreren Seiten stieß insbesondere die Tatsache, dass Ursula von der Leyen bei der Europawahl 2019 keine Spitzenkandidatin gewesen war. Der offizielle Amtsantritt erfolgte am 1. Dezember 2019. Das Material für die vorliegende Untersuchung ist durch eine Stichwortsuche in den beiden auflagenstärksten Tageszeitungen Italiens (La Repubblica und Corriere della Sera) ermittelt worden. Die Stichworte lauteten: ursula von der leyen, presidente, commissione europea. Der Untersuchungszeitraum deckt die Zeit von der Nominierung Ursula von der Leyens als Kommissionspräsidentin am 2. Juli 2019 bis zum Amtsantritt am 1. Dezember 2019 ab. Die Recherche auf 203 Geschlechtergerechtigkeit in der italienischen Tagespresse 9 Eine Distribution, wonach bei der konkreten Referenz auf eine weibliche Person durch Nennung des Namens die feminine Form erscheint und im Fall der ‚generischen‘ Nennung des Amtes ohne Namensnennung die maskuline Form bevorzugt wird, kann nicht beobachtet werden. Daher wird keine weitere Unterscheidung danach getroffen, ob in einem Beispiel das betreffende Lexem unmittelbar durch den Eigennamen begleitet wird. den Seiten von La Repubblica hat 144 Treffer erbracht, die Recherche auf den Seiten des Corriere della Sera 94. Ein Ergebnis der Untersuchung sei an dieser Stelle bereits vorwegge‐ nommen, und es bestätigt, was die Ehrenvorsitzende der Accademia della Crusca Nicoletta Maraschio in der Prefazione des Leitfadens Donne, gramma‐ tica e media (Robustelli 2014, 14) schreibt: „Quello che colpisce in modo particolare dai molti esempi riportati è la grande oscillazione di forme maschili e femminili che ricorrono persino a distanza ravvicinata […], un’oscillazione certamente sintomatica di una grande, persistente, incertezza.“ Im Folgenden werden die Ergebnisse der Auswertung im Einzelnen präsentiert, anhand von Beispielen illustriert und kommentiert. Zugleich sollen sie dort, wo es möglich ist, in Beziehung zu älteren Ergebnissen gesetzt werden, so z. B. zur vorgestellten Studie von Burr (1997). 4.2.1 Ausgewählte Lexeme Die quantitative Auswertung der Lexeme ministra/ o und presidente zeigt, dass für beide im Kontext der Referenz auf Ursula von der Leyen in der italienischen Tagespresse die femininen Formen deutlich überwiegen. 9 La Repubblica Corriere della Sera ministra 17 19 ministro 9 6 donna ministro 1 / Tab. 1: Quantitatives Vorkommen der Lexeme ministra/ ministro Robustelli (2016, 82) hatte mit einer einfachen Stichwortsuche in Google nachge‐ wiesen, dass ministra ein deutlich geringeres Vorkommen aufweist als ministro. Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends ergab diese Suche 1.400.000 Treffer für ministro und lediglich 14.300 für ministra. Dies ist in jedem Fall auch mit der geringeren Anzahl an Ministerinnen zu erklären. Der konkrete Einzelfall scheint sich, wie hier deutlich wird, positiver darzustellen. Für die bereits bei Sabatini 204 Antje Lobin 10 Die Graphie entspricht jeweils dem Original, die Anführungszeichen wurden an die redaktionellen Richtlinien für diesen Beitrag angepasst. In den Belegen werden die relevanten Ausdrücke und Formulierungen kursiviert. In der Notation steht R für La Repubblica, C für Corriere della Sera. Die Belege in den Teilkorpora wurden jeweils fortlaufend nummeriert und mit Datum versehen. ( 2 1993, 116) kritisierte Form donna ministro mit Betonung auf dem Geschlecht gibt es insgesamt nur einen Beleg. Einschränkend ist hier anzumerken, dass in diesem Fall durch das Adjektiv prima explizit hervorgehoben wird, dass es sich um die erste Frau in der genannten Position handelt. Zur Illustration werden hier und im Folgenden (wenn vorhanden) je zwei Beispiele aus den beiden Teilkorpora gegeben. 10 ministra (1) Martedì l’attuale ministra della Difesa tedesca presenterà il suo programma all’Europarlamento per sottoporsi al voto di fiducia il giorno stesso o l’indo‐ mani. (R9, 10.07.2019) (2) Ma la situazione per la ministra della Difesa tedesca resta complicatissima. (R18, 14.07.2019) (3) È l’unica ministra di Angela Merkel ad aver fatto ininterrottamente parte dei suoi governi sin dal 2005. (C1, 02.07.2019) (4) Da ministra del Lavoro ha sostenuto la deflazione dei salari. (C3, 02.07.2019) ministro (5) Nella Cdu dal 1990, è scelta da Merkel che la vuole ministro per la Famiglia dal 2005 al 2009 […]. (R22, 16.07.2019) (6) E si sa cosa pensa di Putin Angela Merkel, del cui gabinetto Von der Leyen era ministro. (R47, 23.07.2019) (7) Il premier Giuseppe Conte […] avrebbe considerato positivamente le aperture sociali di von der Leyen quando era stata ministro della Famiglia e poi del Lavoro. (C4, 02.07.2019) (8) L’esponente tedesca del ppe (e attuale ministro della difesa nel governo di Angela Merkel) ha parlato al termine della riunione con i presidenti dei gruppi politici del parlamento Europeo. (C13, 10.07.2019) 205 Geschlechtergerechtigkeit in der italienischen Tagespresse donna + ministro (9) Sessanta anni, sette figli, von der Leyen è stata la prima donna ministro della Difesa in Germania, dal 2013, e prima di allora, dal 2009, ministro del Lavoro e della Famiglia. (R1, 02.07.2019) Keine Belege im Corriere della Sera Ein deutlich stärkeres Vorkommen der femininen Formen zeigt sich auch im Falle von presidente, wie aus Tabelle 2 hervorgeht. Das viel diskutierte presiden‐ tessa ist sogar nur ein einziges Mal belegt. Für die acht Verbindungen aus donna + presidente, die allesamt aus der Repubblica stammen, sind die unterschiedlichen Varianten auffällig. Die Kombination mit nachgestelltem donna, bei der die berufsbezogene Komponente in den Fokus rückt, taucht sowohl mit maskulinem als auch mit femininem Artikel auf. Alternativ zu donna presidente wird auch si‐ gnora presidente verwendet, allerdings mit distanzierenden Anführungszeichen. Im Falle des ambigenen Substantivs presidente wird schließlich vielfach eine Formulierung gewählt, die keine geschlechterbezogene Festlegung offenbart, z. B. eine appositive Struktur. La Repubblica Corriere della Sera la presidente 131 92 il presidente 11 5 la presidentessa 1 / presidente + donna 5 / donna + presidente 3 / signora presidente / 1 presidente (inv.) 20 22 Tab. 2: Quantitatives Vorkommen des Lexems presidente im Femininum und Maskulinum 206 Antje Lobin 11 Wenn es auch nicht Gegenstand der Untersuchung ist, sei doch darauf hingewiesen, dass difensore streng genommen mit der femininen Länderbezeichnung Italia kongru‐ ieren müsste. Mit den, v. a. in lautlicher Perspektive, nicht immer unproblematischen femininen Entsprechungen zu den Bildungen auf -sore beschäftigt sich Thornton (2012). Sie überprüft für 34 im GRADIT erfasste Nomen, die auf -sore ausgehen, im Corpus di Repubblica (1985-2000) das Vorkommen der unterschiedlichen femininen Formen und kommt zu folgendem Schluss: „Chi cerchi un modello cui riferirsi, nell’uso giornalistico non lo trova“ (Thornton 2012, 308). la presidente (10) Non è un caso se la presidente designata ha criticato l’Italia per il suo debito eccessivo, ricordando a tutti il proprio passato di difensore 11 dell’austerità. (R20, 15.07.2019) (11) Poco prima che la futura presidente della Commissione europea Ursula von der Leyen varchi il portone di Palazzo Chigi. (R56, 03.08.2019) (12) Com’è andato l’incontro con la presidente designata alla Commissione Ursula von der Leyen? (C8, 03.07.2019) (13) L’apertura europea voluta dalla nuova presidente von der Leyen favorisce una svolta in Italia. (C48, 02.09.2019) il presidente (14) Tradendo il voto degli Italiani che volevano il cambiamento, i grillini hanno votato il presidente della nuova Commissione Europea, proposto da Merkel e Macron, insieme a Renzi e Berlusconi. (R36, 18.07.2019) (15) Benvenuti nel Paese che ha mandato a Bruxelles un presidente della Com‐ missione europea, Ursula von der Leyen, che da conservatrice ha votato serenamente la legge per i matrimoni gay, come quasi tutto il Parlamento. (R48, 27.07.2019) (16) Il leader di Forza Italia ha parlato a margine dell’elezione del presidente della Commissione europea Ursula von der Leyen. (C18, 16.07.2019) (17) E, fortunatamente, la risposta da parte del presidente della Commissione, Ursula von der Leyen, è stata sì. (C92, 28.11.2019) 207 Geschlechtergerechtigkeit in der italienischen Tagespresse la presidentessa (18) Dov’è la scienza nella nuova Commissione Europea? Se lo chiedono 9 Premi Nobel […] e tremila scienziati del continente, che da due giorni aggiungono firme a una petizione rivolta alla presidentessa Ursula von der Leyen. (R107, 20.09.2019) Keine Belege im Corriere della Sera il presidente + donna (19) Ursula von der Leyen sarà il primo presidente donna della Commissione, ma anche il primo non ex premier dai tempi di Santer, ovvero da metà degli anni Novanta. (R4, 03.07.2019) (20) Von der Leyen non solo è il primo presidente donna della storia, ma anche quello eletto con uno scarto minore e privo di una maggioranza tutta europeista […]. (R28, 17.07.2019) Keine Belege im Corriere della Sera la presidente + donna (21) Lei sarà la prima presidente donna a guidare la Commissione europea. (R37, 18.07.2019) (22) La prima presidente donna della Commissione Ue e la prima tedesca da mezzo secolo affronta in un lungo colloquio le tematiche più urgenti del presente […]. (R38, 18.07.2019) Keine Belege im Corriere della Sera la donna + presidente (23) In aula esordisce ricordando Simone Veil, citazione quanto mai appropriata per la prima donna presidente della Commissione europea. (R29, 17.07.2019) (24) Eletta il 2 luglio, […], Ursula Von der Leyen, dal primo novembre sarà la prima donna presidente della Commissione europea. (R102, 16.09.2019) Keine Belege im Corriere della Sera 208 Antje Lobin la signora presidente (25) Una donna potrebbe diventare per la prima volta la „signora Presidente“ della Commissione europea. […] (C5, 02.07.2019) Keine Belege in La Repubblica Keine erkennbare Festlegung des Genus (26) Il voto a favore di Ursula von der Leyen come presidente della Commissione. (R15, 12.07.2019) (27) Così Matteo Salvini commenta l’elezione di Ursula Von der Leyen a presidente della Commissione Ue. (R31, 17.07.2019) (28) Presto per dire che tipo di presidente della Commissione sarà. (C1, 02.07.2019) (29) Ursula von der Leyen, presidente entrante della Commissione, ha subito intra‐ visto un rischio nella richiesta italiana […]. (C59, 10.09.2019) Auffällig in Beleg (25) sind die Anführungszeichen. In dem Leitfaden Donne, grammatica e media stellte Robustelli fest, dass in der Tagespresse prominent platzierte feminine Formen für ein herausgehobenes Amt oftmals durch Setzung von Anführungszeichen ironisiert werden (Robustelli 2014, 32). Insgesamt ist der Gebrauch von Anführungszeichen nicht immer schlüssig oder funktional, wie folgender Auszug aus der Repubblica veranschaulicht: „La giornata si apre proprio con le parole di Conte, favorevole a sostenere ‚una donna‘ alla guida della Commissione europea“ (R4, 03.07.2019). Dass die Feminisierung sich nicht in der Auswahl einzelner Lexeme erschöpft, sondern weit darüber hinausgeht, zeigt sich besonders deutlich im Fall von Inkongruenzen. Robustelli (2014, 34) spricht in diesem Zusammenhang von einem „terremoto morfosintattico“. (30) […]: l’ex ministro tedesco sarebbe pronta a derogare alla richiesta di mandare a Bruxelles una donna […]. (R68, 27.08.2019) (31) La popolare tedesca Ursula von der Leyen, già ministro della Difesa, 60 anni, è la nuova presidente della Commissione europea, la prima donna alla guida dell’esecutivo Ue. (C17, 16.07.2019) 209 Geschlechtergerechtigkeit in der italienischen Tagespresse 12 Im Bereich der Nennung des alleinigen Nachnamens müssen Komposita wie commis‐ sione von der Leyen oder caso von der Leyen hier ausgeklammert werden, da nur indirekt eine Referenz erfolgt. 4.2.2 Referenz mittels Eigenname Nach Gyger (1995, 520) ist der Gebrauch von Eigennamen in Printmedien an eine Vielzahl von Faktoren gebunden, so an nationale Gepflogenheiten, historische Bedingungen, an den öffentlichen Bekanntheitsgrad von Referent oder Referentin, an die Kompetenz des Zielpublikums und die Aktualität und Brisanz der Thematik, an den Medientyp, die Rubrik und schließlich an die Textsorte. Auch wenn strenggenommen zwischen der Erstnennung des Namens und textuellen Wiederaufnahmen unterschieden werden müsste, zeigt Tabelle 3 doch, dass der vollständige Name bestehend aus Vor- und Nachname in der italienischen Tagespresse überwiegt. Auch der Anteil des bloßen Nachnamens ist sehr hoch. Auffällig gegenüber der Studie von Burr (1997, 142), wonach 85,11 % der Referenzen auf Frauen aus ‚Vorname‘ oder ‚Vorname + Nachname‘ bestanden, ist vor allem der geringe Gebrauch des alleinigen Vornamens. La Repubblica Corriere della Sera Ursula von der Leyen 173 127 von der Leyen  12 158 (Komposita 8) 88 (Komposita 2) la von der Leyen 14 2 Ursula 7 5 Vdl 16 / UvdL 2 1 Tab. 3: Namensvarianten Ursula von der Leyen (32) Regna l’incertezza intorno alla nomina di Ursula von der Leyen. (R9, 10.07.2019) (33) Ursula von der Leyen ha disegnato ieri una Ue che si tinge di verde. (R138, 28.11.2019) (34) Ora Ursula von der Leyen avrà la ribalta di Bruxelles. (C1, 02.07.2019) 210 Antje Lobin (35) Ursula von der Leyen, futura presidente della Commissione, ha già fatto capire però qual è la via maestra. (C49, 02.09.2019) von der Leyen (36) Il clima è pesantissimo, von der Leyen potrebbe davvero essere bocciata. (R14, 12.07.2019) (37) Se tale è il risultato dell’ambiguità di von der Leyen, è di certo benvenuto. (R105, 17.09.2019) (38) Il Movimento non digerisce né Lagarde né von der Leyen. (C2, 02.07.2019) (39) Von der Leyen ha accompagnato Gentiloni in una sorta di visita. (C54, 06.09.2019) Bemerkenswert ist das relativ geringe Vorkommen des bestimmten Artikels in Kombination mit dem weiblichen Nachnamen. Hier bestätigt sich die bereits von Serianni (2006, 132) und Robustelli (2014, 53) festgestellte Übergangsphase. Gegenüber dem, was Burr (1997, 158-159) noch in den 90er Jahren des 20. Jh. bekundet hatte, dass nämlich im uso giornalistico keine Tendenz bestehe, den bestimmten Artikel bei auf Frauen referierenden Familiennamen wegzulassen und dass dieser asymmetrische Gebrauch des bestimmten Artikels bei Familien‐ namen in den Zeitungen als Indiz für eine androzentrische Weltsicht zu gelten habe, hat allmählich eine Wende stattgefunden. la von der Leyen (40) La lista sarà svelata domani dalla von der Leyen. (R89, 09.09.2019) (41) Proprio per queste competenze, la von der Leyen ha assegnato l’unità a Dombrovskis. (R110, 23.09.2019) (42) È sempre più in salita e insieme confusa la scelta di un candidato italiano per la nuova Commissione europea, dopo la scelta della Lega di piazzarsi all’opposizione e di non sostenere la von der Leyen. (C21, 17.07.2019). (43) […] perché la von der Leyen ha dichiarato di volere una Commissione con una perfetta parità di genere. (C21, 17.07.2019) In den 80er Jahren des 20. Jh. wie auch heute noch wird die Empfehlung gegeben, auf den bloßen Gebrauch des Vornamens zu verzichten. In beiden italienischen Tageszeitungen finden sich jedoch - insbesondere in den Überschriften - für 211 Geschlechtergerechtigkeit in der italienischen Tagespresse 13 Nicht Gegenstand der Untersuchung, aber dennoch auffallend ist auch die bloße Nennung des Vornamens der Bundeskanzlerin Angela Merkel in folgendem Beleg: „La ministra della Difesa tedesca è da 14 anni al fianco di Angela […]“ (C1, 02.07.2019). diese Benennungsvariante Belege. Im Folgenden werden alle Belege präsentiert, die in Überschriften aufgedeckt wurden: (44) I negoziati - Dall’accordo al voto la sfida di Ursula. (R16, 14.07.2019) (45) Il doppio forno di Ursula. (R17, 14.07.2019) (46) L’Europa di Ursula. (R29, 17.07.2019) (47) Ursula d’Europa regina per un soffio. (R30, 17.07.2019) (48) E Ursula corregge la prima gaffe. (R99, 12.09.2019) (49) Ursula-Dombrovskis l’asse di ferro dimezza i poteri di Borrell. (R110, 23.09.2019) (50) „Schema Ursula“ per i migranti. (C48, 02.09.2019) Aufschlussreich sind darüber hinaus die folgenden beiden Belege des bloßen Vornamengebrauchs. In (51) unterstützt die Semantik des begleitenden Adjek‐ tivs (giovane) die Verwendung des Vornamens. In (52) ist durch das dargestellte Vertrauensverhältnis der Vornamengebrauch allenfalls aus Sicht von Angela Merkel gerechtfertigt. In beiden Fällen scheint der pressesprachliche Gebrauch jedoch keineswegs angemessen zu sein. 13 (51) Finiti gli studi di economia, infatti, la giovane Ursula si era laureata in Medicina, specializzandosi e lavorando da ginecologa. (C1, 02.07.2019) (52) Nei giorni scorsi Macron ha incontrato due volte la cancelliera tedesca Angela Merkel e la sua fidata Ursula, che chiedevano di accelerare. (C80, 16.10.2019) In Imitation der Benennung DSK für den ehemaligen sozialistischen französi‐ schen Wirtschafts- und Finanzminister und ehemaligen geschäftsführenden Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF) Dominique Strauß-Kahn wird Ursula von der Leyen auch vielfach mittels ihrer Initialen benannt. Neben Vdl (mit oder ohne Anführungszeichen) wird auch seltener UvdL verwendet. 212 Antje Lobin (53) Ma l’appuntamento di metà mese per „Vdl“ si annuncia insidioso. (R8, 04.07.2019) (54) Eppure la nomina di Vdl è quanto mai frutto di un’intesa franco-tedesca […]. (R19, 14.07.2019) (55) […] la stessa UvdL ha fatto del suo meglio per accrescere sospetti e timori sulle sue reali intenzioni. (R50, 30.07.2019) (56) […] per essere eletta UVDL […] ha bisogno di 374 preferenze su 747 eurodepu‐ tati. (C19, 16.07.2019) Das Lexem signora, das nach Burr (1997, 162) noch der Hervorhebung der außergewöhnlichen Präsenz von Frauen diente und das mit Referenz auf Ursula von der Leyen im Untersuchungszeitraum in La Repubblica und im Corriere je einmal belegt ist, scheint weitestgehend außer Gebrauch gekommen zu sein. (57) „[…]“, affermava la signora cresciuta alla Scuola europea di Uccle […]. (R29, 17.07.2019) (58) La signora von der Leyen è la decana dei ministri della Merkel, praticamente un suo clone, e sarà certo meno autonoma di Juncker nei confronti di Berlino. (C5, 02.07.2019) Im Zusammenhang mit Beleg (58) sei auf folgende Beobachtung von Sabatini ( 2 1993, 27) hingewiesen: Davanti al nome di personalità politiche femminili, soprattutto straniere, si trova spesso l’appellativo signora: la Signora Gandhi, la Signora Thatcher. La spiegazione che ciò sia dovuto semplicemente all’uso inglese di Mr. Mrs. + cognome non è accettabile, perché noi non diciamo mai, ad esempio, ‚Il Signor Scargili‘. Die Empfehlung, die Sabatini ( 2 1993, 106) ursprünglich für den Eigennamenge‐ brauch zur Referenz auf Frauen und Männer gegeben hatte, zielte v. a. auf Symmetrie. Im Untersuchungsmaterial zeigt sich jedoch ein sehr vielfältiger Umgang mit den Namen von Personen unterschiedlichen Geschlechts, auch in Kombination mit Amtsbezeichnungen (z. B. la presidente Ursula von der Leyen und il premier Conte (C67, 15.09.2019); il premier Giuseppe Conte und von der Leyen (C4, 02.07.2019); Angela Merkel und von der Leyen (R13, 11.07.2019)). Hier wäre eine vertiefte Untersuchung vonnöten, die auch die Wiederaufnah‐ mestruktur des Textes berücksichtigt. Im Falle der bereits angesprochenen, von Serianni (2006) beobachteten Tendenz der Überwindung des asymmetrischen Namengebrauchs handelt es sich, wie das Korpus offenbart, in der Tat nur um eine Tendenz. In (59), (60) und (61) werden die neue Kommissionspräsidentin 213 Geschlechtergerechtigkeit in der italienischen Tagespresse und der dritte geschäftsführende Vizepräsident in onomastischer Hinsicht asymmetrisch dargestellt. Besonders eklatant ist Beleg (61), in dem nur mittels Vorname auf die Kommissionspräsidentin referiert wird. In Beleg (62) wiederum kann man sich des Eindrucks einer hierarchischen Abstufung kaum erwehren. (59) Ma alla domanda se Dombrovskis avrà l’ultima parola, Ursula von der Leyen ha risposto chiaramente che […]. (C57, 10.09.2019) (60) Resta da capire se anche la cristiano-democratica tedesca che gli succede, Ursula von der Leyen, preferirà lasciare Dombrovskis in minoranza. (C65, 12.09.2019) (61) Ursula-Dombrovskis l’asse di ferro dimezza i poteri di Borrell. (R110, 23.09.2019) (62) Nei giorni scorsi Macron ha incontrato due volte la cancelliera tedesca Angela Merkel e la sua fidata Ursula, che chiedevano di accelerare. (C80, 16.10.2019) Exkurs Eine eigenständige Entwicklung hat der Vorname Ursula in einem italienspe‐ zifischen Kontext genommen. Als im Zusammenhang mit der Regierungs‐ krise im Sommer 2019 die Koalition aus den populistischen Parteien Lega und Fünf-Sterne-Bewegung zerbrochen war und eine neue Regierung gebildet werden musste, brachte der frühere Regierungschef und ehemalige EU- Kommissionspräsident Romano Prodi den Vorschlag eines proeuropäischen Bündnisses aus denjenigen Parteien ein, die die Wahl von Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin unterstützt hatten, namentlich die Fünf- Sterne-Bewegung, der Partito Democratico und die Mitte-Rechts-Partei Forza Italia. Neben das ursprüngliche Lexem maggioranza sind coalizione, coali‐ zione di governo und alleanza getreten. Der determinierende Vorname Ursula wird vielfach zu Orsola italianisiert, was auch metasprachlich angezeigt wird. Der Gebrauch der Anführungszeichen ist wiederum instabil und erstreckt sich sowohl auf das Kompositum als auch auf den bloßen Vornamen. Es hat nicht lange gedauert, bis der Spott sich über diese Bezeichnung im Netz verbreitet hat. Als es Anfang des Jahres 2021 erneut zu einer Regierungs‐ krise kam, erschien auch das mittels Ursula gebildete Kompositum wieder vermehrt in der Presse. 214 Antje Lobin Crisi: Prodi propone un governo con „maggioranza Ursula“. R60, 18.08.2019 Una coalizione di governo „Ursula“, italianizzata „Orsola“, […]: a proporla è Romano Prodi, in un fondo scritto per il Messaggero. R60, 18.08.2019 Infatti l’ex premier del centrosinistra immagina una coalizione „Ursula“. O meglio Orsola per italianizzarla. R61, 19.08.2019 Deve trattarsi nelle intenzioni di un accordo „dettagliatissimo“ al termine del quale si troverà una „maggioranza Ursula“. R62, 19.08.2019 Prodi e altri parlano di „maggioranza Ursula“. R62, 19.08.2019 Romano Prodi accetta per la prima volta di parlare della politica italiana, dopo l’apertura a un governo in sintonia con l’Europa che aveva battezzato „Orsola“ […]. R106, 19.09.2019 […] ora la partita sarà tutta politica all’interno della „maggioranza Ursula“, ovvero tra i tre grandi gruppi che a Strasburgo sostengono […] von der Leyen […]. R127, 25.10.2019 Eppure la frastagliata „maggioranza Ursula“ nasconde fragilità […]. R137, 28.11.2019 Al primo giorno la „maggioranza Ursula“ si spacca. R140, 29.11.2019 Tab. 4: Die maggioranza Ursula in La Repubblica […] sarebbero i prodromi di quella „maggioranza Ursula“ - dal nome della neo eletta presidente della Commissione europea von der Leyen […]. C36, 10.08.2019 Il Partito democratico tentato dall’invito di Romano Prodi per una „maggioranza Ursula“. C38, 19.08.2019 Sembra proprio l’identikit del nuovo governo gradito a Romano Prodi, che per la „larga base parlamentare“ invocata da Zingaretti ha già trovato un nome: „Coalizione Orsola“, dal nome italianizzato della nuova presidente della Commissione europea, Ursula von der Leyen, sostenuta in Italia da Pd, M5S e perfino Forza Italia. C38, 19.08.2019 Crisi di governo, l’ipotesi „maggioranza Ursula“ scatena le ironie in Rete. C39, 19.08.2019 […] Romano Prodi, che ha lanciato la cosiddetta coalizione „Orsola“ (la versione italiana di Ursula Von der Leyen, presidente della Commissione europea) […]. C41, 20.08.2019 […] un invito […] che cade nei giorni clou per la formazione di un esecutivo che lui stesso [Prodi] aveva benedetto invocando l’alleanza „Orsola“, composta dai partiti italiani […] che hanno votato la nuova presidente della Commissione europea Ursula von der Leyen. C47, 30.08.2019 Tab. 5: Die maggioranza Ursula im Corriere della Sera 215 Geschlechtergerechtigkeit in der italienischen Tagespresse 4.2.3 Verortung im politischen Gefüge Aus dem Datenmaterial geht hervor, dass Ursula von der Leyen insbesondere in Bezug auf zwei Personen im politischen Gefüge verortet wird: zum einen in Bezug auf Jean-Claude Juncker, ihren Vorgänger im Amt, der vom 1. November 2014 bis zum 30. November 2019 Präsident der Europäischen Kommission war, und zum anderen in Bezug auf die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Im Zusammenhang mit Jean-Claude Juncker wird (nur in La Repubblica) je zweimal mittels des ambigenen Substantivs erede sowie mittels des maskulinen Substantivs successore auf Ursula von der Leyen referiert. Beide tragen die Bedeutung ‘Erbe, Erbinʼ. (63) l’erede di Juncker (R1, 02.07.2019) (64) il successore di Juncker (R20, 15.07.2019) In Bezug auf Angela Merkel, die vom 22. November 2005 bis zum 8. Dezember 2021 das Amt der deutschen Bundeskanzlerin innehatte, wird v. a. mittels der Substantive delfina (Zingarelli online, s. v. delfino, a: „chi è considerato il probabile successore di un personaggio di rilievo, spec. politico“), pupilla (Zingarelli online, s. v. pupilla: „(fig.) la pupilla dei propri occhi, chi (o ciò che) uno ha di particolarmente caro e prezioso“) und mittels der substantivierten Superlativform fedelissima referiert. Die unverbrüchliche Treue kann auch durch ein Präpositionalsyntagma (di provata fede) ausgedrückt werden. Anzahl Lexeme Belege 9 delfina, ex delfina, delfina storica R3, 03.07.2019; R13, 11.07.2019; R21, 15.07.2019; R8, 04.07.2019; R137, 28.11.2019; R27, 17.07.2019; R4, 03.07.2019; C3, 02.07.2019; C12, 08.07.2019 4 pupilla R2, 03.07.2019; R17, 14.07.2019; R26, 17.07.2019; R105, 17.09.2019 5 una fedelissima della cancel‐ liera / di Angela Merkel; di provata fede R1, 02.07.2019; R3, 03.07.2019; C4, 02.07.2019; C4, 02.07.2019; C6, 03.07.2019 Tab. 6: Die Verortung im politischen Gefüge in Bezug auf Angela Merkel Eine weitere Kategorie stellen Lexeme dar, mittels derer die Aspekte von Gefolgschaft und Mentorschaft zum Ausdruck gebracht werden, so discepola 216 Antje Lobin (Zingarelli online, s. v. discepolo: „1. Chi studia sotto la guida e alla scuola di un maestro SIN. allievo, alunno, scolaro; 3 (est.) chi segue l’insegnamento di un maestro famoso, anche in tempi posteriori: i moderni discepoli di Kant | seguace: un discepolo di Aristotele“) (R105, 17.09.2019), protetta (R2, 03.07.2019) oder das aus umgekehrter Perspektive ausgedrückte mentore (C1, 02.07.2019). Eine sehr weitreichende Interpretation ist die Bezeichnung von Ursula von der Leyen als Klon von Angela Merkel: „praticamente un suo clone“ (C5, 02.07.2019). An dieser Stelle sei ergänzend auch auf die wiederholte familiäre Veranke‐ rung in Bezug auf den Vater von Ursula von der Leyen, den langjährigen niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht, hingewiesen. (65) Politicamente, von der Leyen è figlia d’arte: il padre, Ernst, è stato a lungo presidente del Land della Bassa Sassonia. (R22, 16.07.2019) (66) Nella capitale belga ci è nata 61 anni fa, quando il padre Ernst Albrecht scalava le gerarchie della Commissione per poi diventare presidente della Bassa Sassonia per la Cdu. (R29, 17.07.2019) (67) La ministra della Difesa tedesca è da 14 anni al fianco di Angela, ora torna a Bruxelles dove è nata e dove suo padre fu uno dei giovani pionieri della Comunità europea del carbone e dell’acciaio. (C1, 02.07.2019) (68) […] se il Parlamento europeo confermerà la sua nomina a presidente della Commissione, von der Leyen segue un destino di famiglia: […]. (C1, 02.07.2019) 4.2.4 Das äußere Erscheinungsbild - Be- und Zuschreibungen Da es sich bei der vorliegenden Untersuchung nicht um eine kontrastive Un‐ tersuchung in Bezug auf die Geschlechter handelt, können semantische Asym‐ metrien schwerlich ermittelt werden. Gleichwohl kann beobachtet werden, in welchem Maße durch persönliche Informationen die zwischenmenschliche Distanz abgebaut werden soll. Und dies obwohl nach Gyger (1995, 521) „perso‐ nalisierte Berichterstattung […] mit einem gesellschaftlichen Auftrag, der - wie im Fall der Tageszeitung - umfassende, angemessene und objektive Information als Grundlage öffentlicher Meinungsbildung beinhaltet, nur schlecht vereinbar [ist].“ Eine geschlechterspezifische Darstellung, die bei Frauen in höherem Maße als bei Männern private Aspekte und persönliche Merkmale einbezieht, wurde bereits von Sabatini ( 2 1993, 21) thematisiert und wird auch von Robustelli (2016, 74) bestätigt. Burr (1997, 140) spricht in diesem Zusammenhang von einer „diskursive[n] bzw. semantische[n] Norm der Sprachverwendung“, in 217 Geschlechtergerechtigkeit in der italienischen Tagespresse 14 Julia Kuhn verdanke ich den wertvollen Hinweis, dass eine vergleichbare Herausstel‐ lung der Mutterschaft in der Presse auch im Fall der sozialistischen Präsidentschafts‐ kandidatin Ségolène Royal im Jahr 2007 in Frankreich beobachtet werden konnte (Kuhn 2008). der mitunter Regelmäßigkeiten zutage treten, die auf Stereotypen gründen (cf. Kap. 3). Auch wenn eine vertiefte Untersuchung hier vonnöten wäre, hat die Auswertung des Datenmaterials doch ergeben, dass mehrfache Mutterschaft, Alter, Frisur, Kleidungsstil und Verhalten Bestandteil der Berichterstattung über Ursula von der Leyen sind. Die mehrfache Mutterschaft und das Alter von Ursula von der Leyen stechen in diesem Zusammenhang in besonderer Weise hervor. Die personenbezogene Information (madre di) sette figli ist insgesamt sieben Mal belegt. 14 (69) Sessanta anni, sette figli, von der Leyen è stata la prima donna ministro della Difesa in Germania, dal 2013, e prima di allora, dal 2009, ministro del Lavoro e della Famiglia. (R1, 02.07.2019) (70) La presidente, che ha 60 anni e sette figli, manterrà la sua residenza principale a Hannover. (C76, 03.10.2019) (71) Medico, di sangue blu […] e madre di sette figli nati in dodici anni dal matrimonio con un altro medico divenuto poi imprenditore. (R22, 16.07.2019) (72) Con l’indicazione di Ursula von der Leyen, madre di sette figli, la politica al femminile fa un balzo in avanti […]. (C5, 02.07.2019) Für die Altersangabe finden sich zehn Belege, wobei neben Appositionen und relativischen Einbettungen auch Nominalisierungen vorkommen. (73) Ursula von der Leyen, 60 anni, ministra tedesca della Difesa, proposta per l’Eurocommissione. (R9, 10.07.2019) (74) La presidente, che ha 60 anni e sette figli, manterrà la sua residenza principale a Hannover. (C76, 03.10.2019) (75) Tradotto: la sessantenne tedesca a Strasburgo accetterà anche i voti di sovranisti e populisti. (R18, 14.07.2019) Die im Zusammenhang mit der Repräsentation von Frauen in den Medien durchweg beobachtete Fokussierung des äußeren Erscheinungsbildes (cf. z. B. 218 Antje Lobin Robustelli 2014, 22) kann auch in Bezug auf Ursula von der Leyen dokumentiert werden. Zunächst werden an dieser Stelle Aussagen über ihre Frisur und Kleidung präsentiert: (76) Nei travagliati anni da ministro della Difesa, l’impeccabile caschetto biondo di Ursula von der Leyen ha finito per somigliare sempre di più a un elmo. (R3, 03.07.2019) (77) Bionda, minuta, dall’eleganza impeccabile si è presa l’applauso dei deputati del Ppe. (R8, 04.07.2019) (78) Giacca rosa su camicia bianca e pantaloni neri, sorriso smagliante e modi inappuntabili, von der Leyen si presenta in Aula per chiudere la fiducia alle nove del mattino. (R137, 28.11.2019) (79) Madre di sette figli, sempre perfettamente pettinata, vestita con eleganza un po’ demodé […] von der Leyen è l’immagine della grazia e dell’autocontrollo in ogni circostanza. (C1, 02.07.2019) Darüber hinaus werden auch Aussagen zum Wesen und zum mutmaßlichen Charakter von Ursula von der Leyen getroffen: (80) „Panzeruschi“ come la chiamano i suoi detrattori, ha sempre resistito con un enigmatico sorriso sulle labbra e un’incrollabile fede in sé stessa alle bordate continue dei suoi nemici. (R3, 03.07.2019) (81) Ma in questi giorni di passione von der Leyen ha sfoderato il suo carattere di ferro nascosto dai modi affabili di una donna aristocratica sempre sorridente e a proprio agio. (R29, 17.07.2019) (82) Rigorosa come sempre, Ursula von der Leyen ci accoglie nella foresteria del ministero della Difesa che ha guidato fino a pochi giorni fa […]. (R38, 18.07.2019) (83) Giacca rosa su camicia bianca e pantaloni neri, sorriso smagliante e modi inappuntabili, von der Leyen si presenta in Aula per chiudere la fiducia alle nove del mattino. (R137, 28.11.2019) (84) Madre di sette figli, sempre perfettamente pettinata, vestita con eleganza un po’ demodé, composta anche nelle situazioni più drammatiche, mai uno scatto d’ira, von der Leyen è l’immagine della grazia e dell’autocontrollo in ogni circostanza. (C1, 02.07.2019) 219 Geschlechtergerechtigkeit in der italienischen Tagespresse Der Sprachgebrauch von Ursula von der Leyen wird ebenfalls einer Bewertung unterzogen: (85) Come tutte le superdonne che non si comportano da Pollyanna e osano adottare un linguaggio tagliente e financo aggressivo, la neo presidente della Commissione europea divide gli animi. (R3, 03.07.2019) (86) In aula esordisce ricordando Simone Weil, citazione appropriata per la prima donna presidente della Commissione europea. (R30, 17.07.2019) Es zeigt sich, dass sich die Beschreibungen des Äußeren auf den gesamten Betrachtungszeitraum verteilen. Es bleibt abzuwarten, ob sich hier eine Versach‐ lichung einstellen wird, wie sie etwa im Kontext der Berichterstattung über Angela Merkel beobachtet werden kann (Kotthoff/ Nübling 2018, 308). Auch wenn es sich hierbei nicht direkt um die Referenz auf Frauen handelt, sei doch kritisch auf die wiederholt bemühte Farbstereotypie hingewiesen, wie sie in folgenden elf Belegen zum Ausdruck kommt: Anzahl Ausdruck Belege 4 quote rosa / „quote rosa“ R44, 22.07.2019; R44, 22.07.2019; C4, 02.07.2019; C6, 03.07.2019 1 team rosa R72, 30.08.2019 1 ticket „rosa“ C5, 02.07.2019 1 volto rosa R4, 03.07.2019 3 tingere di rosa R29, 17.07.2019; R30, 17.07.2019; C55, 10.09.2019 1 vedere rosa R72, 30.08.2019 Tab. 7: Farbstereotypie 5 Schlusswort Die Gesellschaft, ihre Sprache und mit ihr die Bewertungen von Sprachformen sind zweifellos im Wandel. So gehören die Formen sindaca und ministra inzwischen zum Alltagswortschatz (Robustelli 2016, 11). Auch die vorliegende Untersuchung hat gezeigt, dass in quantitativer Hinsicht im Falle der Referenz auf Ursula von der Leyen die femininen Formen ministra und la presidente deutlich überwiegen. Das viel diskutierte presidentessa ist dagegen nur ein 220 Antje Lobin einziges Mal belegt (cf. Kap. 4.2.1, Beleg 18). Bemerkenswert ist ferner das relativ geringe Vorkommen des bestimmten Artikels in Kombination mit dem weiblichen Nachnamen. Hier sehen wir einen deutlichen Unterschied gegen‐ über der Untersuchung von Burr (1997). Gleiches gilt für den hier seltenen Gebrauch von signora. Allerdings sind weiterhin morphosyntaktische Inkon‐ gruenzen auffällig. Hinzu kommt, dass zwar seit Beginn der Bemühungen um eine geschlechtergerechte Sprache vom bloßen Gebrauch des Vornamens bei der Referenz auf Frauen abgeraten wird, dass dies jedoch nur bedingt eingehalten wird. Besonders problematisch sind hier Asymmetrien im Stile von ‚Dombrowskis vs. Ursula‘. Zudem sind zahlreiche Fälle der personalisierten Berichterstattung belegt, so hinsichtlich der Mutterschaft, des Alters, in Bezug auf Kleidung, Frisur, (mutmaßliche) Charakterzüge und auch Sprachverhalten. Die durchgeführte Untersuchung hat insgesamt gezeigt, dass durchaus eine weitere, wenn auch noch nicht vollständige Entwicklung hin zu einem ge‐ schlechtergerechten Sprachgebrauch in der italienischen Presse zu verzeichnen ist. Dies kann im Einklang mit der gesellschaftlichen Situation Italiens gesehen werden. Im Ranking der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union nach Höhe der geschlechtsspezifischen Ungleichheit (Gender Inequality Index, GII) steht Italien im Jahr 2018 ebenso wie Deutschland im Mittelfeld (UNDP 2020, 361- 364). Es stellt sich beständig die Frage nach den wesentlichen Faktoren, die einer durchgängigen geschlechtergerechten Sprache entgegenstehen. In einem Interview hat Sergio Lepri, der von 1961-1990 Direktor der italienischen Nachrichten- und Presseagentur Ansa war, diesbezüglich formuliert (Robustelli 2014, 65): „Il principio androcentrico che ha regolato da secoli il linguaggio e il maschilismo possono spiegare il passato. Il presente lo spiega soprattutto l’ignoranza; anche l’ignoranza di molte donne.“ Dies bedeutet, dass neben einem gesellschaftlichen Bewusstsein in hohem Maße sprachliches Bewusstsein gefordert ist. Hierfür zu sensibilisieren kann als vordringliche Aufgabe einer Linguistik angesehen werden, die sich einer gesellschaftlichen Verantwortung verpflichtet sieht. Bibliographie Korpus La Repubblica (02.07.2019 - 01.12.2019), www.repubblica.it (22.01.2020). Corriere della Sera (02.07.2019 - 01.12.2019), www.corriere.it (22.01.2020). 221 Geschlechtergerechtigkeit in der italienischen Tagespresse Fachliteratur Arcangeli, Massimo (2007): „Ne parliamo con: Barbara Pollastrini e Stefania Prestigia‐ como“, in: Lid’O - Lingua Italiana d’Oggi 4, 21-28. Benucci, Elisabetta (2012): „‚Il più bel fior ne coglie‘. Donne accademiche e socie della Crusca“, in: Benucci, Elisabetta/ Setti, Raffaella (eds.): Italia Linguistica: gli ultimi 150 anni. 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À l’aide d’un corpus de presse, notre analyse montre que, vingt ans après la publication de Femme, j’écris ton nom… Guide d’aide à la féminisation des noms de métiers, fonctions, grades et titres (1999), les deux quotidiens utilisent régulièrement des formes féminines pour faire référence à Ursula von der Leyen. Pourtant, il subsiste encore des doutes lexicaux ou syntaxiques, surtout en ce qui concerne la désignation des groupes mixtes dont Ursula von der Leyen fait partie. Le fait qu’elle soit la première femme à la tête de la Commission européenne mène même à de nouvelles constructions linguistiques dans les reportages des journaux. Abstract In 2019 Ursula von der Leyen became the new president of the European Commission. The fact that she is the first woman to take up this post has not remained unnoticed by the French press. According to this, the following article, which concentrates on gender issues as they are applied 1 Zum Feminisierungsbegriff cf. Kap. 2.2. Sofern eine explizite Unterscheidung nicht notwendig erscheint, werden besagte Ausdrücke unter Berufs- und Funktionsbezeich‐ nungen gefasst. in the press, aims to examine how two selected French national daily papers (Le Monde and Le Figaro) represent Ursula von der Leyen linguistically. It also takes into consideration the recommendations as stipulated in French guidelines of feminization and of inclusive language. Based on a corpus of press articles, our analysis shows that twenty years after the publication of Femme, j’écris ton nom… Guide d’aide à la féminisation des noms de métiers, fonctions, grades et titres (1999), the two daily papers use feminine forms regularly to refer to Ursula von der Leyen. Nevertheless, it has also been revealed that there are still cases of lexical or syntactic doubts, especially concerning the designation of mixed groups in which Ursula von der Leyen participates. Moreover, the analysis shows that her position as the first woman at the top of the European Commission has even led to new linguistic constructions in the newspapers’ coverage of her election. Keywords: Feminisierung, Berufsbezeichnungen, Geschlechterreferenz, Französisch, Pressesprache 1 Einleitung On peut donc conclure au succès de la féminisation en général et à une visibilité plus grande des femmes politiques en particulier. On peut aussi affirmer que les comités éditoriaux, et les grands quotidiens en général, ont joué et jouent encore le rôle décisif d’acteur social en la matière, mettant à la disposition du public des formes linguistiques jusque-là peu ou pas connues. (Baider 2010, 477-478) Die sprachliche Darstellung von Frauen beschäftigt Frankreich seit gut vier Jahr‐ zehnten und manifestiert sich in ihren Anfängen v. a. in der Feminisierung von Berufs-, Funktions-, Amtsbezeichnungen und Titeln 1 (frz. féminisation des noms de métiers, fonctions, grades et titres), die auch im obigen Zitat angesprochen wird. Baider fasst hier den Forschungsstand der 2000er Jahre zur sprachlichen Repräsentation von Frauen bzw. Politikerinnen zusammen und beleuchtet zugleich die Rolle der französischen Presse in diesem Kontext. Doch welches Bild zeichnet sich in neuester Zeit bei der Darstellung von Politikerinnen im französischen Journalismus ab, zwanzig Jahre nach Erscheinen des ersten französischen Leitfadens Femme, j’écris ton nom… Guide d’aide à la féminisation des noms de métiers, fonctions, grades et titres (Becquer et al. 1999)? Wird die von Baider (2010, 477; Hervorheb. i. O.) unter der Überschrift „Une représentation 226 Friederike Endemann 2 Für angeführte Zitate aus LM und LF gilt: Die kursivierten Hervorhebungen stammen von der Verfasserin dieses Beitrags, Kursivsetzungen aus dem Original wurden nicht übernommen. lexicale réussie“ konstatierte Tendenz zum Femininum in der französischen Presse fortgesetzt? Um dies herauszufinden, widmet sich der vorliegende Beitrag exemplarisch der 2019 gewählten EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (im Folgenden: UvL). Anhand eines Pressekorpus, das den Zeitraum von Ende Juni bis Mitte Juli 2019 umfasst, wird untersucht, wie diese bei ihrer Ernennung und Wahl in den französischen Tageszeitungen Le Monde (im Folgenden: LM) und Le Figaro (im Folgenden: LF) sprachlich dargestellt wird. Hierzu werden Empfehlungen einschlägiger französischer Leitfäden sowie Ergebnisse früherer Untersuchungen miteinbezogen. Konkret werden im Rahmen der vorgesehenen aktuellen Bestandsaufnahme die folgenden Fragestellungen diskutiert: • Wie wird UvL sprachlich in LM und LF dargestellt? • Werden überwiegend Feminina bei Referenz auf UvL gebraucht? • Sind dennoch lexikalische und/ oder syntaktische Asymmetrien bei Referenz auf UvL auszumachen und wenn ja, welche? • Gibt es Unterschiede in der Darstellung von UvL zwischen LM und LF und wenn ja, welche? Dass sich eine Beschäftigung mit UvL im Zuge ihrer Wahl zur EU-Kommissi‐ onspräsidentin 2019 eignet, veranschaulichen die zahlreichen Personenbezeich‐ nungen, Pronomen, Adjektive und Partizipien der Beispiele (1) und (2): (1) L’Allemande Ursula von der Leyen élue présidente de la Commission europé‐ enne, de justesse. Cette proche d’Angela Merkel a été désignée par une courte majorité avec 383 voix. Elle est la première femme à prendre la tête de la Commission. 2 (LM 16.07.2019a) (2) La victoire sans souffle d’Ursula von der Leyen, nouvelle présidente de la Commission européenne. La conservatrice allemande a été élue à une courte majorité ce mardi par le Parlement européen. Elle succède à Jean-Claude Juncker et devient la première femme à assumer la présidence de la Commission européenne. (LF 16.07.2019c) Hintergrund der Ernennung von UvL ist folgender: 2019 ist Wahljahr in Europa. Vom 23. bis 26. Mai findet die Europawahl statt, im Zuge derer ein neues EU- Parlament gewählt wird. Damit verbunden sind auch personelle Veränderungen weiterer EU-Institutionen: Anfang Mai verhandelt der Europäische Rat über die Nachfolge Jean-Claude Junckers an der Spitze der EU-Kommission. Im 227 Ursula von der Leyen - ancienne ministre, nouvelle présidente 3 Der in diesem Beitrag untersuchte Zeitraum entspricht dem hier dargestellten Ernen‐ nungs- und Wahlprozess von UvL bis Mitte Juli 2019. Die Periode bis zum Amtsantritt der EU-Kommission Anfang Dezember 2019, durch den UvL als Präsidentin erst bestätigt wird, ist nicht Gegenstand der durchgeführten Untersuchung. Laufe dieser Verhandlungen, die sich bis Anfang Juli fortsetzen, kommt es zu Uneinigkeit im Europäischen Rat. Der bis dahin als Favorit für die Kommissi‐ onspräsidentschaft geltende Manfred Weber wird durch UvL ersetzt, die am 2. Juli vom Europäischen Rat als Kandidatin vorgeschlagen und am 16. Juli vom EU-Parlament zur neuen Kommissionspräsidentin gewählt wird. UvL ist damit die erste Frau in diesem Amt, was auch in der französischen Presse nicht unbeachtet bleibt, wie (1) und (2) zeigen. 3 Aus dem oben skizzierten Untersuchungsvorhaben ergibt sich folgender Beitragsaufbau: In Kapitel 2 werden theoretische Grundlagen zur sprachlichen Darstellung von Frauen im Französischen beleuchtet. Kapitel 2.1 betrachtet näher, welche Probleme der Geschlechterreferenz sich im Französischen er‐ geben (können). Kapitel 2.2 legt die Diskussionen in Frankreich um die fémi‐ nisation und écriture inclusive dar und präsentiert einige der Vorschläge zur sprachlichen Repräsentation von Frauen. In Kapitel 3 wird auf Basis bisheriger Untersuchungen der Frage nachgegangen, welche Rolle die Presse in der fran‐ zösischen Diskussion und bei der Verbreitung der Empfehlungen aus den Minis‐ terialrunderlassen und Leitfäden spielt. Daraus ergeben sich die methodischen Grundlagen der vorgenommenen Untersuchung (cf. Kap. 4). Wie genau UvL sprachlich dargestellt wird, zeigen die Untersuchungsergebnisse zum Gebrauch von Feminina (cf. Kap. 5.1), zu ihrer Verwendung in Verbindung mit bestimmten sprachlichen Mustern (cf. Kap. 5.2 und 5.3) und zu (Sonder-)Fällen lexikalischer und syntaktischer Asymmetrien bei Referenz auf UvL (cf. Kap. 5.4). Im Fazit erfolgt schließlich ein Abgleich der festgestellten Tendenzen bei der Repräsen‐ tation von UvL mit den Erkenntnissen aus Theorie und Forschungsstand (cf. Kap. 6). 2 Theoretische Grundlagen zur sprachlichen Darstellung von Frauen im Französischen 2.1 Die Problematik der Geschlechterreferenz Der Begriff ‚Geschlecht‘ (frz. genre) ist sowohl im Deutschen als auch im Französischen mehrdeutig. Inzwischen etabliert ist eine erste grundlegende Unterscheidung zwischen ‚Sexus‘ (frz. sexe) als natürlichem, biologischem Ge‐ schlecht, ‚Genus‘ (frz. genre [grammatical]) als grammatischem Geschlecht und 228 Friederike Endemann 4 Eine französische Entsprechung zum Genderbegriff in Abgrenzung zu den französi‐ schen Termini sexe und genre (grammatical) scheint (noch) nicht etabliert zu sein. So lassen sich in der Literatur unterschiedliche Bezeichnungen finden: neben dem aus dem Englischen übernommenen gender (manchmal auch mit dem französischen Artikel: le gender) u. a. le genre im Sinne von ‘rapports sociaux de sexe’ oder le genre socioculturel (z. B. Elmiger 2008, 47; Schafroth 2015, 354-355). Zur Problematik des Genderbegriffs im Französischen cf. auch die von der Commission générale de terminologie et de néologie verfasste Recommendation sur les équivalents français du mot gender (Cogeter 2005) sowie den Aufsatz „Le casse-tête de la traduction du mot ‚gender‘ en français“ (Hay 2002). 5 Formen nach dem Muster ‚femme + Mask.‘ werden in diesem Beitrag nicht als eigenstän‐ diger Formtyp geführt. Unter ‚morphologisch varianten Formen‘ werden solche gefasst, die durch Derivation und Flexion gebildet werden. Zur Problematik von Derivation und Flexion bei der Bildung von Feminina cf. Elmiger (2008, 72-79). ‚Gender‘ 4 als gesellschaftlich und kulturell konstruiertem und geprägtem Ge‐ schlecht (Elmiger 2008, 46-51). Während das biologische und das soziokulturelle Geschlecht außersprachlich zu verorten sind, ist das grammatische Geschlecht eine innersprachliche Kategorie (Elmiger 2008, 49). Im Französischen ist das Genus dem Substantiv auf lexikalischer Ebene inhärent, zugleich teilt es auf grammatischer Ebene Substantive in Klassen ein und regelt die Kongruenz zwischen Substantiv und den von ihm abhängigen Ele‐ menten (Schafroth 2015, 335). Zu letzteren zählen u. a. Determinanten, Adjek‐ tive, Partizipien und Pronomen (Elmiger 2008, 50; 2018, 1). Es gibt verschiedene Ebenen, auf denen das Genus im Französischen markiert werden kann (Schaf‐ roth 2015, 336-337): Manche Substantive drücken das Genus durch Alternation aus (z. B. femme - homme, conservatrice - conservateur). Bei Determinanten, Adjektiven und Partizipien wird das Femininum durch das Kongruenzprinzip markiert (z. B. lʼancienne ministre allemande a été élue présidente). Auch durch die Wiederaufnahme eines Lexems mithilfe eines Pronomens kann das Genus ersichtlich werden (z. B. Mme von der Leyen - elle, M. Juncker - il). Welche dieser Prinzipien zur Genusmarkierung greifen, hängt vom jewei‐ ligen Formtyp der Personenbezeichnung ab. Unter Modifikation der Einteilung von Elmiger (2008, 66-71) 5 können die Substantive wie folgt gruppiert werden: Bei Formen wie femme - homme oder mère - père wird das Genus lexeminhärent markiert. Bei morphologisch varianten Formen (z. B. présidente, conservatrice) ist die Markierung des Femininums an der Endung erkennbar. Ambigene Formen (frz. mots épicènes) sind morphologisch invariant, aber genusvariabel, d. h. im Singular ist das Genus i. d. R. durch den sog. Differentialartikel, im Plural hingegen erst durch weitere, satzkongruenzherstellende Elemente auszumachen (z. B. la ministre, les ministres allemandes). Syntagmatisch ist das Genus im Französischen folglich meist redundant ausgedrückt, es spielt jedoch 229 Ursula von der Leyen - ancienne ministre, nouvelle présidente 6 In Anlehnung an Pettersson (2010, 135-138; 2011, 69-70) wird in diesem Beitrag für den mehrdeutigen Begriff ‚generisch‘ (frz. générique) die Unterscheidung zwischen ‚(im en‐ geren Sinne) generischem‘ und ‚(intendiert) geschlechtsübergreifendem Maskulinum‘ vorgenommen. eine wichtige satzkonstituierende und -strukturierende Rolle (Schafroth 2015, 338). Zu den Schwierigkeiten, die sich durch die Genusmarkierung der verschie‐ denen Formtypen ergeben, kommen solche hinzu, die auf das zweigliedrige französische Genussystem mit Femininum und Maskulinum zurückzuführen sind (Schafroth 2015, 335). Im Gegensatz zu unbelebter Referenz mit arbiträrer Genuszuteilung ist bei belebter Referenz die Genuszuweisung insofern sexuell motiviert, als grammatisches und biologisches bzw. soziokulturelles Geschlecht im Französischen i. d. R. übereinstimmen (Elmiger 2018, 1). Jedoch sind auch lexikalische und syntaktische Asymmetrien in der Relation von Genus zu Sexus bzw. Gender festzuhalten, u. a. Substantive, bei denen traditionell Genus und Sexus bzw. Gender einander nicht entsprechen (z. B. une sentinelle, une recrue), oder Substantive mit festem Genus, die auf Frauen und Männer referieren können (z. B. une personne, un individu; Schafroth 2015, 343-344). Zu lexikalischer und syntaktischer Asymmetrie kann im Französischen auch das sog. generische Maskulinum führen, das unter Schlagworten wie Le mas‐ culin l’emporte sur le féminin und servitude grammaticale gefasst wird (Schafroth 2015, 345-346). Die Zweigliedrigkeit des französischen Genussystems und das damit einhergehende Fehlen eines Neutrums bedingen, dass die französischen Genera traditionell unterschiedliche Funktionen erfüllen, bei deren Beschrei‐ bung zwischen Spezifizität und Generizität zu differenzieren ist (Elmiger 2008, 108-110; Schafroth 2001, 142): Das Femininum dient ausschließlich dem spezi‐ fischen Gebrauch für die Referenz auf eine Frau bzw. Frauen (z. B. la nouvelle présidente Mme von der Leyen). Das Maskulinum kann hingegen spezifisch (individualisierend) zur Bezeichnung eines Mannes bzw. von Männern (z. B. l’ancien président M. Juncker), generisch (generalisierend) bei allgemeingültiger Referenz (z. B. comment le futur président est élu) und geschlechtsübergreifend für die Bezugnahme auf eine Gruppe von Frauen und Männern (z. B. les candidats pour la présidence) verwendet werden. 6 Problematisch und vielfach kritisiert ist die traditionelle Mehrfachfunktion des Maskulinums insofern, als eine eindeutige Referenzzuweisung aufgrund der Ambiguität der Bezeichnung nicht immer möglich ist (Elmiger 2008, 111; Pettersson 2011, 70). Ko- und 230 Friederike Endemann 7 Unter sprachlichem ‚Kotext‘ sind in diesem Beitrag textinterne Informationen zu ver‐ stehen, die vor oder nach einer Textstelle stehen, während mit textexternem ‚Kontext‘ situative und soziale Faktoren der Äußerungssituation gemeint sind (Glück/ Rödel 5 2016, s. v. Kontext, Kotext). 8 Zu Alternativen zum generischen bzw. geschlechtsübergreifenden Maskulinum im Detail cf. Elmiger (2008, 119-153). Zu Vorteilen ambigener Formen cf. Schafroth (2001, 146). 9 In diesem Beitrag wird der Terminus Feminisierung (frz. féminisation) in Anlehnung an die Ministerialrunderlasse von Fabius (1986) und Jospin (1998) sowie den Leitfaden von Becquer et al. (1999) im historischen Kontext der französischen Diskussion gebraucht. Außerhalb davon wird der Ausdruck Gebrauch des Femininums (frz. l’emploi/ l’usage du féminin) unter Rückgriff auf den Leitfaden von HCEfh ( 2 2016, 29) bevorzugt verwendet. Zur Bezeichnungsproblematik cf. auch Baider (2009, 29), Burr (2003, 133-134) und Henry (1999, 51). 10 In diesem Beitrag wird der Terminus écriture inclusive, der in der französischen Diskussion neben Bezeichnungen wie français inclusif, langage inclusif und rédaction épicène steht, in Anlehnung an den Ministerialrunderlass von Philippe (2017) und den Leitfaden von Mots-Clés ( 3 2019) verwendet. Durch die Fokussierung dieses Beitrags auf UvL wird das Augenmerk auf Verfahren zur sprachlichen Repräsentation von Frauen gelegt, die innerhalb der binären Geschlechteropposition zu verorten sind, so wie in den Leitfäden von Becquer et al. (1999), HCEfh ( 2 2016) und Mots-Clés ( 3 2019) zu finden (cf. auch Ossenkop 2020, 71). Zu Verfahren zur Aufhebung der binären Perspektive cf. Lessard/ Zaccour (2018) und Alpheratz (2018). Kontext, 7 in denen eine jeweilige Bezeichnung steht, können ggfs. aber zu einer Disambiguierung beitragen (Schafroth 2015, 344, 348). Die zahlreichen Strategien zur Vermeidung des generisch oder geschlechts‐ übergreifend gebrauchten Maskulinums können nach Elmiger (2008, 119-120, 124-135, 141-142) wie folgt eingeteilt werden: Zur Sichtbarmachung von Frauen ist v. a. die Beidnennung in Lang- (z. B. les candidates et les candidats) und Kurzform (z. B. les candidat·es) anzuführen, deren Reihenfolge, Konnektoren und typographische Zeichen stark variieren. Zur Neutralisation dienen u. a. ambigene Formen im Plural (z. B. les ministres) und Formen mit festem Genus (z. B. la personne, les êtres humains). 8 2.2 Die Diskussionen in Frankreich um die féminisation des noms de métiers  9 und écriture inclusive  10 1984 initiiert die damalige französische Frauenrechtsministerin Yvette Roudy eine commission de terminologie chargée de la féminisation des noms de métier et de fonction (auch bekannt als commission de terminologie relative au vocabulaire concernant les activités des femmes), die sich vor dem Hintergrund der steigenden Präsenz von Frauen in bis dahin von Männern dominierten Berufszweigen der Bildung fehlender femininer Berufs- und Funktionsbezeichnungen im Franzö‐ sischen widmet (Fabius 1986). Die Arbeit dieser Kommission mündet 1986 in die 231 Ursula von der Leyen - ancienne ministre, nouvelle présidente 11 Zu den Ergebnissen des Berichts im Detail cf. Cogeter (1998). Zur Textsorte ‚Leitfaden‘ cf. Elmiger (2000) und Elmiger in diesem Sammelband. Zur Übersicht französischer bzw. frankophoner Leitfäden cf. Elmiger (2020). 12 Zu den Regeln des Feminisierungsleitfadens im Detail cf. Becquer et al. (1999, 21-27). Circulaire du 11 mars 1986 relative à la féminisation des noms de métier, fonction, grade ou titre des französischen Premierministers Laurent Fabius. Der Ministe‐ rialrunderlass, der die Verwendung femininer Bezeichnungen ausschließlich für den offiziellen Sprachgebrauch der Verwaltung regelt, wird jedoch zunächst kaum angewendet (Schafroth 2001, 129; 2014, 105). Dennoch ist er in den dar‐ auffolgenden Jahren nicht außer Kraft gesetzt ( Jospin 1998). Mit der Circulaire du 6 mars 1998 relative à la féminisation des noms de métier, fonction, grade ou titre greift der französische Premierminister Lionel Jospin die Feminisierungsvor‐ gaben des Erlasses von Fabius (1986) erneut auf. Anlass ist die Forderung einiger Ministerinnen der damaligen Regierung, zukünftig mit Madame la ministre, und nicht länger wie üblich mit Madame le ministre, angesprochen zu werden ( Jospin 1998). Auf Initiative des Ministerialrunderlasses von Jospin (1998) entstehen zwei Dokumente, die die französische Diskussion nachhaltig prägen: erstens der von der Commission générale de terminologie et de néologie verfasste Rapport sur la féminisation des noms de métier, fonction, grade ou titre, der den Status der Feminisierung von Berufs- und Funktionsbezeichnungen Ende der 1990er Jahre in Frankreich festhält (Cogeter 1998), und zweitens der erste französische Feminisierungsleitfaden Femme, j’écris ton nom… Guide d’aide à la féminisation des noms de métiers, titres, grades et fonctions (Becquer et al. 1999). 11 Unter Einbezug der Feminisierungsregeln des Ministerialrunderlasses von Fabius (1986) und der Vorschläge anderer frankophoner Länder sind in dem Feminisierungsleitfaden von 1999 u. a. folgende Regeln zur Bildung femininer Berufs- und Funktionsbezeichnungen vorgesehen (Becquer et al. 1999, 22-25) 12 : Grundsätzlich werden feminine Determinanten (z. B. une, la, cette) gebraucht. Bei Substantiven auf stummem -e ist die feminine Form mit der maskulinen identisch (z. B. une ministre). Bei Substantiven, die auf -é oder einen anderen Vokal enden, wird ein -e angefügt (z. B. une députée). Substantive, die auf Konsonanten, außer -eur, enden, bilden das Femininum durch Anfügen eines -e, ggfs. mit zusätzlichem Akzent oder verdoppeltem Endkonsonanten (z. B. une présidente, une conseillère). Substantive, die auf -eur enden, fügen für die feminine Form ein -euse, -e oder -trice an (z. B. une chercheuse, une gouverneure, une sénatrice). Diese Wortbildungsregeln werden durch eine ausführliche Liste maskuliner und femininer Bezeichnungen ergänzt (Becquer et al. 1999, 63-123). Während sich der Feminisierungsleitfaden für den Gebrauch der nach diesen Regeln gebildeten Feminina bei individueller, spezifischer Referenz auf Frauen 232 Friederike Endemann ausspricht, hält er zugleich am Maskulinum bei Referenz auf allgemeingültige Konzepte und auf geschlechtsübergreifende Gruppen fest (Becquer et al. 1999, 37-39). Damit greift er die Unterscheidung zwischen Berufsbezeichnungen einerseits und Funktions-, Amtsbezeichnungen, Titeln andererseits aus dem Bericht von Cogeter (1998, 39-41) auf: Werden Feminina bei Berufsbezeich‐ nungen für Frauen aufgrund der engen Verbindung von Beruf und der ihn ausübenden Person präferiert, gilt für personenunabhängige Funktions-, Amts‐ bezeichnungen und Titel die Empfehlung zum Gebrauch des Maskulinums. Ähnlich wie beim Ministerialrunderlass von Fabius (1986), dem vorgeworfen wird, die französische Diskussion auf ein „Terminologieproblem“ (Burr 1999, 134) zu reduzieren, wird auch die lexikalische Schwerpunktsetzung des Femini‐ sierungsleitfadens von 1999 kritisch betrachtet: „[…] le guide de féminisation […] conseille l’utilisation de noms féminins dans tous les cas, mais ne se prononce guère à propos de la féminisation des textes“ (Elmiger 2008, 172). Lange Zeit wird die französische Diskussion maßgeblich von der lexikalischen Feminisierung bestimmt, die die Wahl und den Gebrauch femininer Berufs- und Funktionsbezeichnungen zur individuellen, geschlechtsspezifischen Referenz auf Frauen umfasst, während die syntaktische Feminisierung, die Verfahren zur Vermeidung des generischen und geschlechtsübergreifenden Maskulinums vorsieht, wenig Beachtung findet (Elmiger 2012, 98; Elmiger/ Tunger 2014, 50). Die Auffassung, dass die (sprachliche) Darstellung von Frauen über Fragen der (lexikalischen) Feminisierung hinausgeht, entfacht in den letzten Jahren die Diskussion in Frankreich neu. So veröffentlichte bspw. der 2013 mit beratender Funktion gegründete und dem Premierminister unterstellte Haut Conseil à l’Égalité entre les femmes et les hommes den Guide pratique pour une com‐ munication sans stéréotype de sexe, der die französische Diskussion in einen größeren Zusammenhang stellt, indem die vertretenen Empfehlungen nicht nur die sprachliche, sondern auch die inhaltlich-bildliche Gleichbehandlung von Frauen und Männern unter Berücksichtigung gesellschaftlicher Gegebenheiten miteinbezieht (HCEfh 2 2016, 17). Die perspektivische Erweiterung manifestiert sich auch in der in den letzten Jahren in Frankreich aufkommenden Forderung nach einer écriture inclusive, die bspw. im Manuel d’écriture inclusive. Faites progresser l’égalité femmes/ hommes par votre manière d’écrire von Mots-Clés aufgegriffen wird. Der Leitfaden von der 2011 rund um Raphaël Haddad gegrün‐ deten Kommunikationsagentur definiert die écriture inclusive als „l’ensemble des attentions graphiques et syntaxiques qui permettent d’assurer une égalité de représentations des deux sexes“ (Mots-Clés 3 2019, 4; Fettdruck aus Original nicht übernommen) und rückt den wechselseitigen Einfluss von Sprache und Gesellschaft in den Vordergrund (Mots-Clés 3 2019, 4). 233 Ursula von der Leyen - ancienne ministre, nouvelle présidente 13 Zu den drei Leitfäden und ihren Herausgeberinstanzen im Detail cf. Ossenkop (2020, 51-59). Folgende auf die Sprache bezogene Vorschläge, die sich auf die Ministerial‐ runderlasse und den Feminisierungsleitfaden von 1999 stützen, aber z. T. auch modifiziert sind, finden im Guide pratique Berücksichtigung (HCEfh 2 2016, 20-31, 36-39): die Angleichung von Berufs- und Funktionsbezeichnungen an das Geschlecht der sie ausübenden bzw. innehabenden Person (z. B. Madame la cheffe), die Beidnennung in alphabetischer Reihenfolge in Lang- oder Kurz‐ form mit unterschiedlichen typographischen Zeichen zur Sichtbarmachung beider Geschlechter (z. B. l’égalité femmes-hommes), die Verwendung ambigener Formen (z. B. ministre) oder von Formen mit festem Genus (z. B. une personne), der Gebrauch von Pluralstatt Singularformen zur Repräsentation der Diversität und Individualität innerhalb von Gruppen (z. B. les femmes statt la Femme). Entsprechende Vorschläge zur Vermeidung des generischen und geschlechts‐ übergreifenden Maskulinums, die der écriture inclusive folgen, finden sich auch im Manuel d’écriture inclusive (Mots-Clés 3 2019, 7-12). Beide Leitfäden enthalten zudem je eine Liste ausgewählter femininer und maskuliner Berufs- und Funktionsbezeichnungen, von denen aber jede einzelne deutlich kürzer ist als die des Feminisierungsleitfadens von 1999 (HCEfh 2 2016, 59-61; Mots-Clés 3 2019, 13-16). 13 Die genannten Empfehlungen führen zu einer Diskussion in der Öffentlich‐ keit um die Anwendung der écriture inclusive, die noch verstärkt wird durch das Erscheinen des Schulbuchs Questionner le monde, das diese Schreibung anwendet (Le Callennec/ François 2017). Die darauf reagierende Circulaire du 21 novembre 2017 relative aux règles de féminisation et de rédaction des textes publiés au Journal officiel de la République française von Édouard Philippe (2017) unterbindet die écriture inclusive für den administrativen Sprachgebrauch. Jedoch spricht sich Philippe (2017) für die Verwendung femininer Funktionsbe‐ zeichnungen (z. B. la ministre, la secrétaire générale) bei Referenz auf Frauen in Ernennungsprozessen unter Berufung auf den Feminisierungsleitfaden von 1999 aus und plädiert für den Gebrauch der ausführlichen Beidnennung (z. B. le candidat ou la candidate) bei Stellenausschreibungen. 234 Friederike Endemann 14 Der Schwerpunkt dieses Forschungsüberblicks liegt auf Untersuchungen zur Presse Frankreichs. Zur Repräsentation von Frauen in der Presse anderer frankophoner Länder cf. z. B. Dister (2004) und Burr/ Demel (2003). 15 Auch heute noch ist davon auszugehen, dass staatliche Vorgaben zur sprachlichen Darstellung von Frauen speziell für die Presse fehlen. Es lassen sich zumindest keine auf die Presse spezialisierten Empfehlungen in der umfangreichen Leitfadensammlung von Elmiger (2020) finden. 3 Forschungsstand zur sprachlichen Darstellung von Frauen in der französischen Presse 14 Ende der 1990er Jahre wird der französischen Presse im Bereich der Feminisie‐ rung eine doppelte Funktion zugeschrieben (Mathieu 1999, 55): Zum einen ist sie das Medium der französischen Diskussion, da sie Reaktionen und Positio‐ nierungen unterschiedlicher Lager veröffentlicht und verbreitet. Zum anderen gilt sie als Spiegel des Sprachgebrauchs und dient zugleich der Verbreitung, Umsetzung und Akzeptanz der Feminisierungsvorschläge in der Öffentlichkeit. Schafroth (2001, 146) postuliert prospektiv, dass „vor allem aber den Medien […] die Aufgabe der Multiplikation dieser neuen Formen zukommen [wird].“ Obwohl dem Ministerialrunderlass von Fabius (1986) wenig öffentliche Resonanz attestiert wird, lassen sich für die Zeit danach erste Tendenzen zur Feminisierung feststellen, die jedoch mit einer Vielzahl lexikalischer und syntaktischer Asymmetrien einhergehen (Brick/ Wilks 1994, 236). Nach dem Ministerialrunderlass von Jospin (1998) und dem Feminisierungsleitfaden von 1999 ist eine steigende Tendenz zum Gebrauch von Feminina erkennbar (Ma‐ thieu 1999, 56-57; Ossenkop 2013, 190-192). Für die Feminisierung speziell im politisch-administrativen Bereich ergibt sich allerdings ein uneindeutiges Bild: Während Mathieu (1999, 59) die Nichtfeminisierung prestigeträchtiger Berufe anhand von Formen wie député und ministre (m.) konstatiert, können andere Untersuchungen starke Tendenzen zur Verwendung von Feminina wie ministre (f.), députée und présidente belegen (Fujimura 2005, 39-40, 43, 47). Bezogen auf die Darstellung von Frauen in der Presse ermittelt Schafroth (2014, 107) eine anhaltende Uneinheitlichkeit und fehlende Systematik, Baider (2010, 477) hingegen sieht große Fortschritte allgemein und besonders bei der Sichtbarmachung von Politikerinnen. Mögliche sprachliche Einflüsse auf die Zeitungsredaktionen stehen in enger Verbindung zu dem Ministerialrunderlass von Jospin (1998) und dem Feminisie‐ rungsleitfaden von 1999. Mathieu (1999, 57) stellt zunächst das grundsätzliche Fehlen staatlicher Vorgaben speziell für die französische Presse fest: 15 „Il est vrai que la plupart des rédactions n’ont pas reçu de consignes normatives et que la 235 Ursula von der Leyen - ancienne ministre, nouvelle présidente 16 Brick/ Wilks (1997, 301) weisen darauf hin, dass LM Mitte der 1990er Jahre dabei war, ein Stilbuch auszuarbeiten, „dans lequel figure, ou figurera, une section sur la féminisation.“ In einem ersten Entwurf von 1995 machen Brick/ Wilks (1997, 301) keine Feminisie‐ rungsrubrik aus. Das zu Beginn der 2000er Jahre herausgegebene LM-Stilbuch, das durch besagte Ethikcharta ersetzt wurde, ist gegenwärtig nicht öffentlich zugänglich (AIJ 2013a; Le Monde 2 2004). 17 Auf Anfrage der Verfasserin dieses Beitrags hat LM diese Feminisierungsliste, die nach jetzigem Kenntnisstand nicht öffentlich zugänglich ist, zur Verfügung gestellt. Es liegen keine Informationen zu ihrer Verbreitung und Gültigkeit innerhalb der LM-Redaktion vor. Eine ähnliche Anfrage wurde auch an LF gestellt, bis zum Abschluss dieses Beitrags blieb eine Antwort allerdings aus. 18 Zentrale Formen dieses Beitrags, wie ministre und présidente, sind hingegen nicht aufgelistet (Le Monde 2018). féminisation y est une recommandation qui ne fait pas toujours l’unanimité […].“ Fujimura (2005, 40) kann jedoch aufzeigen, dass der Erlass von Jospin (1998), obwohl primär für den offiziellen Sprachgebrauch der Verwaltung vorgesehen, auch die Presse beeinflusst und dort zu einem vermehrten Gebrauch von Feminina geführt hat. Eine vergleichbare Wirkung auf die Presse ist nach Baider (2010, 477) ebenfalls seitens des Feminisierungsleitfadens von 1999 auszuma‐ chen. Dies kann Ossenkop (2013, 191) mit ihrer Untersuchung bestätigen: Die Empfehlungen des Feminisierungsleitfadens hätten „zu einer deutlichen Verän‐ derung in Gebrauch und Akzeptanz femininer Bezeichnungen in Frankreich geführt […], zumindest in der aktuellen französischen Tagespresse.“ Neben staatlichen Empfehlungen erklären auch redaktionsinterne sprach‐ liche Vorgaben den erhöhten Gebrauch von Feminina in der Presse (Baider 2010, 477). Allerdings ist die Forschungslage hierzu für LM und LF undurchsichtig: Während eine Art Stilbuch von LF nicht öffentlich zugänglich scheint, ist von LM eine Ethikcharta online einzusehen, die jedoch nicht den Gebrauch von Fe‐ minina thematisiert (AIJ 2013a; 2013b; Le Monde 2010). 16 In einer Untersuchung von Brick/ Wilks (1997, 301-302), die Einblicke in die journalistische Praxis von LM Mitte der 1990er Jahre gewährt, kristallisiert sich ein vielschichtiges, un‐ einheitliches Meinungsbild innerhalb der Zeitungsredaktion heraus: Während einige feminine Formen auf Akzeptanz stießen (z. B. avocate, députée, ministre (f.)), erwiesen sich andere als problematisch (z. B. présidente, écrivaine). Zudem stellen Brick/ Wilks (1997, 304) fest, dass die LM-Redaktion am generischen Maskulinum als neutralem und unmarkiertem Genus im Französischen festhält. Diese Erkenntnisse aus den 1990er Jahren können durch eine aktuelle Liste von LM zur Feminisierung von ca. 140 Berufs- und Funktionsbezeichnungen ergänzt werden (Le Monde 2018). 17 Aus dem politischen Bereich führt diese Liste Feminina wie ambassadrice, cadre (f.), chef (f.), leadeuse, maire (f.), membre (f.), prédécesseure, successeure. 18 236 Friederike Endemann Einige sprachliche Auffälligkeiten, die in bisherigen Untersuchungen ge‐ nannt werden, seien noch angeführt. Hierzu zählen syntaktische Konfliktfälle in Verbindung mit femininen Bezeichnungen, bspw. bei der Kongruenz von Adjektiven oder der pronominalen Wiederaufnahme (Brick/ Wilks 1994, 237). Obwohl in den französischen Leitfaden nicht erwähnt, finden sich in Untersu‐ chungen um die Jahrtausendwende zudem die Muster ‚femme + Mask.‘ und ‚Fem./ Mask. + féminin/ féminine‘, die auf das Fehlen femininer Berufs- und Funktionsbezeichnungen, das Vermeiden (noch) nicht akzeptierter Feminina oder das Hervorheben des Attributs ‚weiblich‘ zurückgeführt werden (Henry 1999, 60-61; Mathieu 1999, 58; Schafroth 2001, 133-134, 146). Schafroth (2001, 134) nennt auch das Muster ‚(première) femme + Mask.‘ für die Erstnennung einer Frau in einem bestimmten Beruf oder einer bestimmten Funktion. In neueren Untersuchungen wird darüber hinaus ein vermehrter Gebrauch des Femininums bei Funktionsreferenz in Formulierungen wie rôle/ poste/ fonction/ grade de er‐ kannt (Fujimura 2005, 42; Ossenkop 2013, 188). Zeitungsvergleiche, die in einigen Untersuchungen durchgeführt werden, zeigen Differenzen im Hinblick auf die Feminisierung in Abhängigkeit von der Verbreitung und der politischen Ausrichtung des Mediums. In regionalen Zeitungen wird tendenziell weniger feminisiert als in nationalen (Mathieu 1999, 56-57). In links ausgerichteten Zeitungen ist eine grundsätzliche Tendenz zum Femininum zu erkennen, während in konservativen das Maskulinum oftmals dominiert (Khaznadar in Dumais et al. 2008, 172). 4 Methodische Grundlagen: Forschungshypothesen, Korpus und methodisches Vorgehen Zur Untersuchung der Personenreferenz in der Berichterstattung über den Ernennungs- und Wahlprozess von UvL 2019 werden die folgenden Hypothesen formuliert, die sich auf die Forschungsfragen aus der Einleitung, auf die Emp‐ fehlungen für die sprachliche Darstellung von Frauen im Französischen (cf. Kap. 2) sowie auf die Ergebnisse früherer Untersuchungen zu dem Thema (cf. Kap. 3) stützen: 1. Zur individuellen, geschlechtsspezifischen Personenreferenz auf UvL werden überwiegend Feminina gebraucht (cf. Kap. 5.1). 2. Auch bei mit ‚poste/ fonction/ grade/ rôle de‘ eingeleiteten Funktionsbezeich‐ nungen werden vermehrt Feminina genutzt (cf. Kap. 5.2). 3. Das Muster ‚femme + Mask.‘ wird durch den erhöhten Gebrauch von Feminina selten verwendet (cf. Kap. 5.3). 237 Ursula von der Leyen - ancienne ministre, nouvelle présidente 19 Für das Jahr 2021 steht LM mit 445.894 verkauften Exemplaren auf dem ersten Platz der meistverkauften nationalen Tageszeitungen Frankreichs; LF folgt mit 347.088 Exemplaren auf dem zweiten Rang (ACPM 2021). LM kann als „die einflussreichste Zeitung Frankreichs“ (BpB 2020a) angesehen werden und LF gilt als „das wichtigste konservative Medium“ (BpB 2020b) in Frankreich. 20 Es wurden weder Artikel meinungsbetonter Rubriken noch solche, die gänzlich oder in Kooperation mit Presseagenturen entstanden sind, in das Korpus aufgenommen. 21 Trotz der erweiterten Perspektive des Beitrags auf Personenbezeichnungen allgemein dominieren in dem untersuchten Pressekorpus die Berufs- und Funktionsbezeich‐ nungen: In LM sind 91-mal (63,6 %) Formen aus dem Berufsleben, 19-mal (13,3 %) aus dem Privatleben und 33-mal (23,1 %) allgemeingültige Bezeichnungen für UvL belegt. In LF lassen sich 82-mal (70,1 %) Bezeichnungen aus dem beruflichen, 13-mal (11,1 %) aus dem privaten Bereich und 22-mal (18,8 %) Bezeichnungen allgemeiner Art finden. 4. Lexikalische und syntaktische Asymmetrien treten bei der Darstellung von UvL in Fällen uneindeutiger Referenz auf, kommen aber insgesamt selten vor (cf. Kap. 5.4). 5. Im Zeitungsvergleich werden Feminina zur Darstellung von UvL von der linksliberalen LM regelmäßiger und systematischer gebraucht als von dem konservativen LF. Das für die Untersuchung gewählte französische Pressekorpus beinhaltet 14 Zeitungsartikel der linksliberalen LM und 15 des konservativen LF. Die beiden nationalen Tageszeitungen zählen zu den auflagenstärksten und damit wich‐ tigsten Zeitungen Frankreichs (ACPM 2021; BpB 2020a; 2020b). 19 Aufgrund ihrer unterschiedlichen politischen Ausrichtung bieten sie sich für einen Vergleich an. Die ausgewählten Zeitungsartikel sind zwischen Ende Juni und Mitte Juli 2019 entstanden und decken damit den Zeitraum der Ernennung und Wahl von UvL zur EU-Kommissionspräsidentin ab. Es handelt sich schwerpunktmäßig um informationsbetonte Artikel aus der Rubrik ‚International‘, die in den Zeitungsredaktionen selbst entstanden sind. 20 Ausgangspunkt und Grundlage der vorgenommenen Analyse bilden die häu‐ figsten Lexeme, die in dem Pressekorpus zur sprachlichen Darstellung von UvL ermittelt werden können (cf. Tab. 1). Bei der Auswahl der Formen liegt der Fokus auf Personenbezeichnungen allgemein, d. h. es werden sowohl Berufs- und Funktionsbezeichnungen (z. B. ministre, présidente) als auch allgemeingültige (z. B. personne) und private Bezeichnungen (z. B. mère) miteinbezogen. 21 Berück‐ sichtigung finden alle femininen und maskulinen Substantive im Singular und Plural, die in (un)mittelbarem Ko- und Kontext auf UvL referieren und mind. dreimal im Gesamtkorpus vorkommen. Dieses quantitative Vorgehen bei der Erhebung und Auswertung der Daten dient primär der Stützung qualitativer Ergebnisse. 238 Friederike Endemann 22 Die mit Asterisk (*) gekennzeichneten Lexeme aus den Tabellen 1 und 2 sind ohne Genusmarker gelistet. Sie umfassen alle femininen und maskulinen Substantive im Singular und Plural, die zur sprachlichen Repräsentation von UvL in LM und LF gebraucht werden. Lexeme 22 (nach Häufigkeit) Vorkommen in LM Vorkommen in LF ministre* 34 31 candidat* 21 27 femme* 26 17 président* 19 15 Allemand* 12 11 personnalité* 3 5 mère* 5 1 prétendant* 6 0 chef* 2 3 proche* 3 2 conservat* 3 1 personne* 4 0 fille* 2 1 membre* 3 0 (haut*) représentant* 0 3 ∑ 143 117 Tab. 1: Die 15 häufigsten Lexeme zur Darstellung von UvL in LM und LF Die Personenbezeichnungen aus Tabelle 1 können verschiedenen Formtypen zugeordnet werden, die das Genus formal und syntaktisch unterschiedlich mar‐ kieren: (a) morphologisch variante Formen, (b) ambigene Formen, (c) Formen mit festem Genus und (d) lexeminhärent genusmarkierte Formen (cf. Kap. 2.1). Die Zuordnung der Lexeme zu ihrem Formtyp ist in Tabelle 2 dargestellt. Dort werden darüber hinaus die jeweiligen Empfehlungen aus den Leitfäden von Becquer et al. (1999), HCEfh ( 2 2016) und Mots-Clés ( 3 2019) angegeben (cf. Kap. 2.2). Dies ermöglicht einen Abgleich der Vorschläge aus den Leitfäden mit der journalistischen Praxis aus LM und LF. 239 Ursula von der Leyen - ancienne ministre, nouvelle présidente 23 Die mit Hashtag (#) gekennzeichneten Formen sind aus den Regeln der drei Leitfäden zur sprachlichen Darstellung von Frauen abgeleitet, da sie entweder gar nicht oder nicht in allen drei Leitfäden aufgeführt sind. 24 Das Femininum conservatrice bezieht sich in dem Pressekorpus auf die politische Haltung von UvL, in dem Feminisierungsleitfaden von 1999 hingegen auf die von einer Person ausgeübte Verwaltungstätigkeit (z. B. conservatrice de musée; Becquer et al. 1999, 18, 76). Aufgrund der formalen Gleichheit wird die Form in das Korpus aufgenommen. 25 Die Form chef wird im Feminisierungsleitfaden von 1999 als ambigene Form angegeben, cheffe ist dort als schweizerische Variante markiert (Becquer et al. 1999, 73). In den anderen beiden Leitfäden wird hingegen das Femininum cheffe empfohlen (HCEfh 2 2016, 60; Mots-Clés 3 2019, 15). Formtypen Lexeme (nach Häufig‐ keit) Empfehlungen aus den Leitfäden 23 (a) morphologisch variant candidat* candidat - candidate# président* président - présidente Allemand* Allemand - Allemande# prétendant* prétendant - prétendante# conservat* conservateur - conserva‐ trice#  24 (haut*) représentant* (haut) représentant - (haute) représentante# (b) ambigen ministre* ministre (f./ m.) chef* chef (f./ m.) oder: chef (m.) - cheffe  25 proche* proche# (f./ m.) membre* membre (f./ m.) (c) mit festem Genus personnalité* personne* (d) lexeminhärent genusmarkiert femme* mère* fille* Tab. 2: Die 15 häufigsten Lexeme zur Darstellung von UvL in LM und LF klassifiziert nach Formtypen und mit Angabe der Empfehlungen aus den Leitfäden von Becquer et al. (1999), HCEfh ( 2 2016) und Mots-Clés ( 3 2019) bei (a) morphologisch varianten und (b) ambigenen Formen 240 Friederike Endemann 5 Untersuchungsergebnisse zur sprachlichen Darstellung Ursula von der Leyens in Le Monde und Le Figaro 5.1 Tendenz zum Femininum Die Gesamtverteilung der Personenbezeichnungen für UvL (143 in LM und 117 in LF) zeigt, dass im untersuchten Pressekorpus morphologisch variante und ambigene Formen dominieren (cf. Abb. 1): In LM sind morphologisch variante Formen 61-mal (42,7 %) und ambigene Formen 42-mal (29,4 %) belegt, in LF lassen sich 57-mal (48,7 %) morphologisch variante und 36-mal (30,8 %) ambigene Formen finden. Das entspricht einem Gesamtanteil beider Formtypen von 72,1 % für LM und von 79,5 % für LF. Abb. 1: Die Personenbezeichnungen zur Darstellung von UvL klassifiziert nach Form‐ typen und mit Angabe ihrer absoluten Häufigkeiten in LM und LF Betrachtet man zunächst die morphologisch varianten Formen, lässt sich in beiden Zeitungen eine deutliche Dominanz im Gebrauch von Feminina zur Referenz auf UvL feststellen (cf. Abb. 2): In LM sind 57 der 61 Formen (93,4 %) Feminina, in LF 49 der insgesamt 57 Formen (86,0 %). 241 Ursula von der Leyen - ancienne ministre, nouvelle présidente Abb. 2: Der Anteil von Feminina und Maskulina bei (a) morphologisch varianten Formen zur Darstellung von UvL in LM und LF Das Überwiegen der Feminina lässt sich an den Lexemen candidat* und prési‐ dent* veranschaulichen. So ist in beiden Zeitungen vielfach das Femininum candidate zur Bezeichnung von UvL ausfindig zu machen: (3) La candidate allemande pour la présidence de la Commission de Bruxelles a été élue […]. (LM 16./ 18.07.2019) (4) C’est sur cette victoire sans souffle que s’est achevé mardi le marathon de la candidate des Vingt-Huit. (LF 16.07.2019c) Die Beispiele (3) und (4) zeugen exemplarisch von der Einheitlichkeit und Konsequenz im Gebrauch von Feminina in beiden Zeitungen, was sich nicht nur in der femininen Form candidate selbst, sondern auch in weiteren femininen Satzelementen, etwa dem Artikel la, dem Adjektiv allemande und dem Partizip élue, manifestiert. Ebenso wird das Femininum présidente mit Referenz auf UvL verwendet, wie die in (5) und (6) angegebenen Überschriften der Zeitungen belegen: (5) LʼAllemande Ursula von der Leyen élue présidente de la Commission europé‐ enne, de justesse (LM 16.07.2019a) (6) La victoire sans souffle d’Ursula von der Leyen, nouvelle présidente de la Commission européenne (LF 16.07.2019c) 242 Friederike Endemann Auch hierbei liegt die Kongruenz des Partizips élue in (5) und des Adjektivs nouvelle in (6) in Verbindung mit der femininen Personenbezeichnung vor. Im Bereich der morphologisch varianten Formen sind also in den allermeisten Fällen Feminina festzustellen, die zusätzlich auf syntaktischer Ebene anhand von Artikeln, Adjektiven und Partizipien als solche markiert sind. Widmet man sich den ambigenen Formen, die zur Darstellung von UvL verwendet werden, ergibt sich ein etwas differenzierteres Bild, bei dem jedoch ebenfalls der Gebrauch von Feminina vorherrscht (cf. Abb. 3): Für LM sind 31 Feminina von 42 Formen insgesamt (73,8 %), für LF 26 Feminina von 36 Formen (72,2 %) zu konstatieren. Abb. 3: Der Anteil von Feminina und Maskulina bei (b) ambigenen Formen zur Darstel‐ lung von UvL in LM und LF Hier lassen sich bspw. die Lexeme ministre* und proche* anführen, die in der Mehrzahl als Feminina zur Bezeichnung von UvL verwendet werden: (7) Cette proche d’Angela Merkel, jusqu’ici ministre allemande de la défense, prendra la suite du Luxembourgeois Jean-Claude Juncker en novembre. (LM 16.07.2019a) (8) Cette proche d’Angela Merkel, ministre allemande de la Défense, a été choisie mardi pour prendre la présidence de la Commission européenne. (LF 02./ 03.07.2019a) 243 Ursula von der Leyen - ancienne ministre, nouvelle présidente Anders als bei den morphologisch varianten Formen ist das Genus bei ambi‐ genen Formen erst durch die Kongruenz mit Determinanten, Adjektiven und Partizipien erkennbar (cf. Kap. 2.1). In (7) und (8) können sowohl proche als auch ministre als Feminina bestimmt werden, was u. a. an dem femininen Demonstrativum cette, dem femininen Adjektiv allemande und dem femininen Partizip choisie festgemacht werden kann. Wie Abbildung 3 mit (b3) Fem./ Mask. jedoch auch verdeutlicht, sind in dem untersuchten Pressekorpus ebenfalls Fälle formal uneindeutiger Genusmarkie‐ rung im Bereich ambigener Formen bei der Repräsentation von UvL zu finden: In LM ist dies neunmal (21,4 %), in LF zehnmal (27,8 %) der Fall. (9) Avant de devenir présidente de la Commission européenne, elle a été ministre de la défense en Allemagne […]. (LM 17.07.2019) (10) Ministre de la Famille en 2005, ministre du Travail en 2009, Ursula von der Leyen a connu une ascension politique rapide […]. (LF 16.07.2019a) Anders als in (7) und (8) steht ministre in diesen Beispielen jeweils isoliert, in (9) als Prädikatsnomen und in (10) in Apposition. Allerdings können die Formen aus (9) und (10) als Feminina interpretiert werden, und zwar sowohl durch den gegebenen Kotext, in dem eindeutig mit présidente und elle in (9) sowie der Namensnennung in (10) auf UvL referiert wird, als auch durch den gesamten Kontext des Ernennungs- und Wahlprozesses von UvL zur neuen EU-Kommissionspräsidentin. Auch wenn rein formal keine eindeutige Genus‐ zuweisung vorgenommen werden kann, ist durch den Einbezug solcher ko- und kontextgebundenen Faktoren die Interpretation dieser Formen als Feminina in insgesamt acht Fällen für LM und neun für LF möglich. Dieser Auslegung folgend würde sich die Zahl der gebrauchten Feminina mit Referenz auf UvL aus Abbildung 3 auf 39 in LM und 35 in LF erhöhen. Gleichzeitig würden sich die Fälle uneindeutiger Genuszuweisung im Bereich ambigener Formen auf einen pro Zeitung reduzieren (cf. Kap. 5.4). Es sei zudem noch auf das Lexem chef* eingegangen, das sich ebenfalls, wenn auch nicht häufig, zur Bezeichnung von UvL finden lässt. Es stellt insofern eine Besonderheit dar, als in den herangezogenen Leitfäden verschiedene feminine Formen empfohlen werden (cf. Tab. 2). In beiden Zeitungen lässt sich chef durch den Gebrauch des femininen Artikels und der Adjektivangleichung als Femininum identifizieren: (11) „[…] elle sera une chef européenne convaincue et convaincante de la Commission européenne“, a déclaré pour sa part Angela Merkel dans un communiqué. (LM 16.07.2019a) 244 Friederike Endemann (12) L’Allemande Ursula von der Leyen est bel et bien la nouvelle chef de l’exécutif européen […]. (LF 16.07.2019c) Chef wird in den Zeitungen als ambigene Form behandelt, die Form cheffe kommt in dem Pressekorpus hingegen nicht vor. Diese Erkenntnis zum Gebrauch des Lexems chef* deckt sich mit der Empfehlung aus dem Feminisierungsleitfaden von 1999, an dem sich beide Zeitungen zu orientieren scheinen. Dies kann wiederum anhand der Feminisierungsliste der LM-Redaktion bestätigt werden, die chef (f./ m.) ebenfalls als ambigene Form führt (cf. Kap. 3; Tab. 2). 5.2 Au poste de présidente Die bis hierhin festgestellte allgemeine Dominanz femininer Personenbezeich‐ nungen bei der Darstellung von UvL bietet Anlass dazu, das verwendete Genus bei Amts- und Funktionsbezeichnungen mit Referenz auf die Politikerin näher zu untersuchen. Während das dafür fokussierte Muster ‚grade/ poste/ fonction/ rôle de + Fem./ Mask.‘ in LM nicht vorzufinden ist, kommen insgesamt fünf solcher Fälle in LF vor. Dabei folgen dreimal ein Femininum, einmal ein Maskulinum und ein weiteres Mal eine Form, die formal keine eindeutige Genuszuweisung zulässt: (13) La ministre de la Défense allemande, candidate au poste de présidente de la Commission européenne, est la cible de tirs croisés. (LF 03.07.2019a) (14) On parle aussi de la PPE Mariya Gabriel pour la fonction de haut représentant ainsi que de la ministre allemande de la Défense, Ursula von der Leyen. (LF 28./ 29.06.2019) (15) Prête à jouer son va-tout […], elle a annoncé qu’elle démissionnerait mercredi de ses fonctions de ministre de la Défense. (LF 16.07.2019b) In (13) ist der systematische und einheitliche Gebrauch von Feminina auf Satz‐ ebene erkennbar, denn dort stehen nach dem Kongruenzprinzip die femininen Personenbezeichnungen ministre (f.), candidate und présidente mit Bezug auf UvL. In (14) hingegen wird bei Referenz auf Mariya Gabriel und UvL das möglicherweise von ihnen zu bekleidende Amt mit dem Maskulinum haut représentant betitelt, wobei gleichzeitig die geschlechtsspezifischen Feminina la PPE und la ministre allemande gebraucht werden. An dieser Stelle scheint die traditionelle Funktionsunterscheidung zwischen individueller Berufsausübung und dem personenunabhängigen Amt mittels der unterschiedlichen Genusmar‐ kierung Anwendung zu finden (cf. Kap. 2.1 und 2.2). Im Vergleich zeugen die Beispiele (13) und (14) aus LF von dem derzeitig uneinheitlichen sprachlichen Umgang mit dem Muster ‚grade/ poste/ fonction/ rôle de + Fem./ Mask.‘ bei der Repräsentation von UvL bzw. von Politikerinnen allgemein. 245 Ursula von der Leyen - ancienne ministre, nouvelle présidente Während in (13) und (14) morphologisch variante Formen vorkommen, die eine Genuszuweisung anhand formaler Aspekte ermöglichen, wird diese in (15) durch die ambigene Form ministre erschwert. Formal gesehen steht hier eine Form, der keines der beiden französischen Genera eindeutig zugewiesen werden kann. Durch Ko- und Kontext ist der Bezug zu UvL jedoch gegeben, was für die Interpretation von ministre in Verbindung mit ses fonctions de als Femininum sprechen würde. Die Erkenntnisse aus Kapitel 5.1 zum Lexem ministre*, das mehrheitlich als Femininum mit Referenz auf UvL gebraucht wird, können diese Auslegung zusätzlich stützen. Aufgrund des insgesamt geringen Vorkommens dieses Musters kann aller‐ dings keine eindeutige Tendenz festgestellt werden, da sich Beispiele sowohl mit Femininum als auch mit Maskulinum zur Amts- und Funktionsbezeichnung für UvL finden lassen. In diesem Bereich herrscht Uneinheitlichkeit, wenn auch der grundsätzliche Gebrauch von Feminina nicht (länger) ausgeschlossen scheint. 5.3 La première femme présidente Der hochfrequente Gebrauch von Feminina, der in Kapitel 5.1 belegt ist, veran‐ lasst ebenfalls dazu, das in bisherigen Untersuchungen thematisierte Muster ‚femme + Mask.‘ in den Blick zu nehmen (cf. Kap. 3). Bei näherer Betrachtung dieses Musters ist festzustellen, dass es in dem untersuchten Pressekorpus mit Referenz auf UvL nicht vorkommt. Stattdessen ist aber das Muster ‚(première) femme + Fem.‘ auffällig. Betrachtet man zunächst seine einzelnen Elemente, ist für das beiden Mustern gemeine Lexem femme* das dritthäufigste Vorkommen in dem untersuchten Pressekorpus zur Repräsentation von UvL festzuhalten (cf. Tab. 1): Während diese lexeminhärent genusmarkierte Form in LM insgesamt 26-mal (18,2 %) belegt ist, ist sie in LF 17-mal (14,5 %) zu finden. Innerhalb des Ernennungs- und Wahlprozesses von UvL können dem Gebrauch von femme* unterschiedliche Stellenwerte zugeschrieben werden, wie die Beispiele (16) bis (19) gegenüber den Beispielen (20) und (21) verdeutlichen. (16) Femme, PPE, Allemande parlant le francais: trois atouts. (LM 28.06.2019) (17) Sans un large soutien des sociaux-démocrates, l’élection est hors de portée pour cette femme de 60 ans […]. (LF 16.07.2019b) (18) Elle devrait succéder à Jean-Claude Juncker (2014-2019) et devenir la première femme de l’histoire à occuper ce poste. (LM 01/ .03.07.2019) (19) L’Allemande Ursula von der Leyen est bel et bien la nouvelle chef de l’exécutif européen, la toute première femme à la tête de cette institution. (LF 16.07.2019c) Zu Aussagen in (16) und (17), in denen allgemein mit femme auf UvL referiert wird, kommen solche wie in (18) und (19) hinzu, in denen die Zeitungen das 246 Friederike Endemann Frausein von UvL als besondere Eigenschaft hervorheben, um sie als erste Frau an der Spitze der EU-Kommission darzustellen. Die Betonung dieses erstmaligen Ereignisses wird zusätzlich durch de l’histoire in (18) und toute in (19) verstärkt. Ferner bedient sich LM einmal des Musters ‚(première) femme + Fem.‘, das in LF hingegen nicht anzutreffen ist: (20) Elle espère devenir la première femme présidente de la Commission européenne […]. (LM 16.07.2019b) Aufgrund des sehr geringen Vorkommens im Pressekorpus ist es schwer, allgemeingültige Schlüsse zur Funktion dieses Musters zu ziehen. Dient das Muster ‚femme + Mask.‘ vielfach zur Schließung einer terminologischen Lücke femininer Berufsbezeichnungen (cf. Kap. 3), scheint ‚(première) femme + Fem.‘ vielmehr eine emphatische Funktion zu erfüllen und hervorzuheben, dass eine Frau als Erste ein gewisses Amt innehat. Nach diesem Verständnis kann es parallel zu Ausdrücken wie la première femme à la présidence de la Commission européenne/ à présider la Commission européenne und damit zu den Beispielen (18) und (19) gesehen werden. Für diese Interpretation kann zudem das Beispiel (21) aus einem anderen Zeitungsartikel der LM angeführt werden, in dem UvL als erste Frau an der Spitze des deutschen Verteidigungsministeriums dargestellt wird: (21) Première femme ministre de la défense (LM 17.07.2019) Obwohl die Form ministre morphologisch gesehen keine eindeutige Genuszu‐ weisung ermöglicht, sprechen Ko- und Kontext in Verbindung mit UvL als pre‐ mière femme für eine Interpretation der Form als Femininum. Insgesamt macht die sehr geringe Datenlage genauere Betrachtungen und Schlussfolgerungen jedoch unmöglich. Ob und wenn ja, welche Unterschiede bspw. zwischen (18), (19) und (20), (21) genau bestehen, gilt es anhand größerer Datenmengen zu erforschen. 5.4 (Sonder-)Fälle lexikalischer und syntaktischer Asymmetrien Entgegen des in Kapitel 5.1 festgestellten mehrheitlichen Gebrauchs von Fe‐ minina zur Darstellung von UvL zeigen die Abbildungen 2 und 3 durchaus, wenn auch zahlenmäßig geringe, lexikalische und syntaktische Asymmetrien auf. Während bei eindeutiger Referenz auf UvL grundsätzlich Feminina stehen bzw. im Falle ambigener Formen diese durch Ko- und Kontext als Feminina interpretiert werden können, sind in bestimmten Fällen maskuline Formen zu finden. Bei den morphologisch varianten Formen sind vier Maskulina (6,6 %) in LM und acht (14 %) in LF auszumachen (cf. Abb. 2). Im Bereich der ambigenen 247 Ursula von der Leyen - ancienne ministre, nouvelle présidente Formen gibt es zwei Maskulina (4,8 %) in LM, jedoch keine in LF (cf. Abb. 3). Maskuline Formen stehen v. a. in Fällen uneindeutiger Referenz, in denen UvL (mit)gemeint sein könnte, wie bei président zur Erklärung des Ernennungs- und Wahlverfahrens der EU-Kommissionspräsidentschaft in (22) und (23): (22) En ne choisissant pas le futur président de la Commission parmi les têtes de liste […], les chefs d’Etat et de gouvernement européens ont „flanqué une gifle au Parlement européen“, estiment les eurodéputés SPD. (LM 12./ 13.07.2019) (23) En désignant la candidate allemande à la présidence de la Commission, les di‐ rigeants européens ont sous-estimé l’attachement des eurodéputés au système des Spitzenkandidaten, qui veut que le futur président soit choisi parmi les chefs de file des partis politiques aux élections européennes. (LF 16./ 17.07.2019) Für diese allgemeingültigen Aussagen wird in beiden Zeitungen das Masku‐ linum président mit entsprechend kongruentem Artikel (le), Adjektiv (futur) und Partizip (choisi) verwendet. Zu diesem Zeitpunkt der Berichterstattung ist UvL bereits Kandidatin für das EU-Präsidentschaftsamt. Die generelle Amts- und Funktionsbezeichnung, die in beiden Zeitungen durch das generische Maskulinum ausgedrückt wird, steht gegenüber einer geschlechtsspezifischen Bezeichnung im Fokus der Berichterstattung. Ein weiterer Fall eines generisch gebrauchten Maskulinums liegt bei Alle‐ mand in (24) vor: (24) Ursula von der Leyen saura ce mardi […] si elle est la prochaine présidente [de] la Commission européenne, le premier allemand [sic] depuis 52 ans et la première femme à la tête de cette institution […]. (LF 16.07.2019b) (25) Elle est la première femme, et la première personnalité allemande depuis cinquante-deux ans, à prendre la tête de la Commission. (LM 16.07.2019a) Es geht hierbei primär um die Gattungsbezeichnung, die im Falle von Allemand Personen deutscher Nationalität einschließt. Es ist fraglich, ob das geschlechts‐ spezifische Femininum Allemande bedeutungsgleich in (24) stehen könnte, ist UvL doch sowohl die allererste Frau als auch die erste Person deutscher Nationalität seit 52 Jahren an der Spitze der EU-Kommission. LM umgeht in (25) diese Quelle möglicher lexikalischer Asymmetrie, indem auf personnalité als Form mit festem Genus zurückgegriffen wird. Da Formen mit festem Genus wie in (25) im Gesamtkorpus selten vorkommen (cf. Abb. 1), ist nicht zu (er)klären, ob eine systematische und bewusst gebrauchte Strategie zur Vermeidung des generischen Maskulinums vorliegt. Eine weitere Quelle sprachlicher Unsicherheit und damit verbundener Un‐ einheitlichkeit findet sich, wenn UvL als Teil einer Gruppe dargestellt wird. 248 Friederike Endemann Während in LM zweimal das Maskulinum zur geschlechtergemischten Grup‐ penbezeichnung genutzt wird, sind es in LF einmal das Femininum und einmal das Maskulinum. Der geschlechtsübergreifende Gebrauch des Maskulinums wird in (26), der des Femininums in (27) verdeutlicht: (26) […] M me von der Leyen étant la seule des actuels ministres allemands à avoir siégé dans tous les gouvernements de M me Merkel depuis 2005. (LM 03.07.2019b) (27) […] elle n’avait pas été l’une des ‚Spitzenkandidaten‘, c’est-à-dire l’une des candidates déclarées au poste. (LF 17./ 18.07.2019) In beiden Beispielen ist das erste, individualisierende Element mit la seule und l’une geschlechtsspezifisch an UvL angeglichen. Das zweite Element, das der geschlechtergemischten Gruppendarstellung dient, gestaltet sich hingegen sowohl auf lexikalischer als auch auf syntaktischer Ebene problematisch. In (26) steht das Maskulinum actuels ministres allemands, unter das UvL mitgefasst wird. In (27) wird sie in das deutsche Maskulinum Spitzenkandidaten einge‐ schlossen, das geschlechtsübergreifend gebraucht wird. Die französische Über‐ setzung mit candidates enthält dagegen ein geschlechtsübergreifend verwen‐ detes Femininum. Bei dem Einschluss von UvL in eine geschlechtergemischte Personengruppe sind also Unregelmäßigkeiten in und zwischen den Zeitungen festzuhalten. In beiden Zeitungen sind jedoch ebenfalls Fälle wie die folgenden zu identi‐ fizieren, in denen die Gruppenbezeichnung geschlechtsneutral vorliegt: (28) […] le SPD a contribué à l’échec d’une des ministres les plus proches de M me Merkel […] (LM 12./ 13.07.2019) (29) À 60 ans, Ursula von der Leyen est l’une des personnalités fortes de la scène politique allemande. (LF 02./ 03.07.2019a) Die Bezeichnung ministres und das Adjektiv proches aus (28) sind ambigene Formen, die keine Genuszuweisung ermöglichen und somit als geschlechts‐ neutral betrachtet werden können. Der in (29) gebrauchten Form mit festem Genus personnalités kann ebenfalls eine geschlechtsneutralisierende Funktion zugeschrieben werden. Inwiefern diese Formen aus (28) und (29) bewusst zur Geschlechtsneutralisierung in der Darstellung einer geschlechtergemischten Gruppe verwendet werden, ist anhand der geringen Datenmenge aus dem Pressekorpus nicht zu erkennen. 249 Ursula von der Leyen - ancienne ministre, nouvelle présidente 6 Fazit Auch wenn das untersuchte Pressekorpus durch seinen Umfang eingeschränkt aussagekräftig ist und die Repräsentativität der daraus gewonnenen Erkennt‐ nisse dadurch relativiert wird, lassen sich einige Tendenzen bei der sprachlichen Darstellung von UvL in LM und LF konstatieren. Die beiden Zeitungen schließen sich mehrheitlich den Vorschlägen der herangezogenen französischen Leitfäden an. LM folgt damit auch seinen redaktionsinternen Vorgaben. Die Ergebnisse dieses Beitrags decken sich zudem mit denen vorangegangener Untersuchungen zur sprachlichen Repräsentation von Frauen bzw. Politikerinnen in der franzö‐ sischen Presse. Festzumachen ist dies daran, dass in beiden Zeitungen mehr‐ heitlich Feminina zur individuellen, spezifischen Personenreferenz auf UvL verwendet werden. Dies belegen bspw. die hochfrequenten Personenbezeich‐ nungen ministre (f.) und présidente, für die sich in früheren Untersuchungen ein unterschiedliches und uneinheitliches Bild im Gebrauch abgezeichnet hatte. Die 1. Forschungshypothese kann folglich bestätigt werden. Die Relevanz der Presse in der Verbreitung femininer Formen und ihrer Etablierung im Sprachgebrauch wird hierdurch ersichtlich. Zugleich werden neuere Tendenzen offengelegt, die veranschaulichen, dass sich eine nähere Betrachtung auch zwanzig Jahre nach Veröffentlichung des ersten französischen Feminisierungsleitfadens von 1999 lohnt. So zeigt dieser Beitrag, dass bei dem Muster ‚grade/ poste/ fonction/ rôle de + Fem./ Mask.‘ zur Amts- und Funktionsbezeichnung für UvL zumindest nicht ausschließlich Maskulina gebraucht werden. Es finden sich auch Feminina, deren Gebrauch aber noch nicht vollständig etabliert zu sein scheint. Das Muster ist selten im Pressekorpus vorzufinden, sodass die 2. Hypothese, die eine steigende Tendenz des Femininums postuliert, schwer belegt, aber auch nicht widerlegt werden kann. Ähnlich uneindeutige Schlüsse sind mit Blick auf die 3. Hypothese zum Muster ‚femme + Mask.‘ zu ziehen. Es ist fraglich, wie die Hypothese in Anbe‐ tracht der Tatsache, dass im Gesamtkorpus keine Formen nach diesem Muster vorhanden sind, zu bewerten ist. Unabhängig davon ist jedoch auffällig, dass in Verbindung mit (première) femme vereinzelt auch Feminina gesetzt werden, zumindest in LM. Im Kontext der Wahl von UvL als erster Frau an der Spitze der EU-Kommission hebt es die Erstmaligkeit des Ereignisses und den Status von UvL hervor. Inwiefern ein möglicherweise neues oder zeitungsspezifisches Bildungsmuster vorliegt, ist in größer angelegten Untersuchungen zu ermitteln. Im Gegensatz zu früheren Untersuchungen, die z. T. noch erhebliche lexikali‐ sche und syntaktische Asymmetrien bei individueller, spezifischer Referenz auf 250 Friederike Endemann Politikerinnen nachweisen, liegen in dem untersuchten Pressekorpus wenige solcher Fälle vor. Sie manifestieren sich entweder im Gebrauch des generischen Maskulinums bei generellen Aussagen, die (auch) auf UvL bezogen werden können, oder in der Verwendung zumeist geschlechtsübergreifender Maskulina, wenn UvL als Teil einer Gruppe dargestellt wird. Vereinzelt finden sich bei der Gruppendarstellung auch ambigene Formen im Plural (z. B. les ministres) oder Formen mit festem Genus (z. B. les personnalités). Es ist fraglich, inwiefern diese als bewusst gewählte Vermeidungsstrategien, wie die Leitfäden sie z. T. empfehlen, zu sehen sind. Beidnennungen, die zumindest in den neueren Leit‐ fäden zur Vermeidung generischer und geschlechtsübergreifender Maskulina vorgeschlagen werden, sind weder in LM noch in LF ausfindig zu machen. Die 4. Hypothese kann damit bestätigt werden, ist aber ebenfalls anhand einer größeren Datenmenge zu verifizieren. Für die 5. Forschungshypothese ergibt sich, dass die postulierten Unter‐ schiede zwischen LM als linksliberaler und LF als konservativer Tageszeitung insgesamt geringer ausfallen als angenommen. Abgesehen von den seltenen Mustern ‚(première) femme + Fem.‘ aus LM und ‚grade/ poste/ fonction/ rôle de + Fem.‘ aus LF sind mehrheitlich Gemeinsamkeiten im Gebrauch von Feminina zwischen beiden Zeitungen zu finden. Die von Baider angeführte Tendenz zum erhöhten Gebrauch des Femininums, auf die in der Einleitung dieses Beitrags eingegangen wurde, setzt sich den Ergebnissen dieser Untersuchung zufolge in der französischen Presse 2019 fort. Zugleich ergeben sich weitere Asymmetrien in der sprachlichen Repräsentation von Frauen bzw. Politikerinnen, die es in Folgeuntersuchungen mit größer angelegten Pressekorpora zu studieren gilt. Auch zwanzig Jahre nach dem Femi‐ nisierungsleitfaden von 1999 wird das Thema der sprachlichen Repräsentation der Geschlechter Frankreich noch viele Jahre beschäftigen. Der Sprachgebrauch, auch der in der französischen Presse, wird hierbei eine wesentliche Rolle spielen. Bibliographie Korpus Le Figaro (25.06.2019-18.07.2019): https: / / www.lefigaro.fr/ (24.05.2021): LF 25.06.2019 = Barotte, Nicolas (2019): „Bruxelles: la CDU/ CSU hausse le ton contre Macron“, in: Le Figaro 25.06.2019, https: / / www.lefigaro.fr/ international/ bruxelles-la-c du-csu-hausse-le-ton-contre-macron-20190625 (24.05.2021). 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Dès le tournant du millénaire, on peut constater un changement, mais les études montrent aussi que l’usage des noms féminins dépend de facteurs divers comme le prestige ou le domaine de l’activité, le type de référence, la forme du mot, les attitudes et mentalités. Cette contribution a pour objectif l’analyse d’un corpus de la presse quotidienne des années 2011, 2016 et 2019 pour démontrer si et dans quelle mesure ces noms de personne féminins font entretemps partie d’un usage habituel dans le français contemporain de France. L’analyse fait apparaître que les noms féminins sont de plus en plus utilisés dans les textes des journaux. Étant toujours à constater que les facteurs cités ci-dessus déterminent cet usage, il y a un changement concernant la hiérarchie entre eux: Tandis que les mentalités de même que la spécificité ou généricité de la référence restent importantes, le prestige du métier et la forme du mot perdent de leur pertinence. Abstract In France, the problem of non-sexist language is primarily discussed with regard to the so called ‚feminization‘ of language. This debate that focuses on feminine nouns referring to women caused political interventions on French language. But for a long time, feminine nouns were avoided, even fought from various sides. Since the new millennium, the situation has changed, but studies indicate that the use of these nouns depends on several factors like for example the prestige or the area of a professional activity, the type of reference, the form of the word itself, attitudes and mentalities. In this article, the analysis of a French daily newspapers’ corpus from 2011, 2016, and 2019 is meant to show if and to what extent feminine nouns referring to women are meanwhile used habitually in contemporary French. It remains to be seen that these nouns are more and more used in the newspapers. It is also found that the above-mentioned factors are still determining this language use, but their hierarchical order with regard to their influence has obviously changed: While mentalities as well as the specificity or genericity of references stay important, the prestige of a profession and the form of a word lose their relevance. Keywords: Feminisierung, Personenbezeichnungen, Französisch, Presse‐ sprache, nichtsexistischen Sprache 1 Einleitung Seit den 1980er Jahren wird in Frankreich über das Ob und Wie einer nicht‐ sexistischen Sprache diskutiert. Im Mittelpunkt steht dabei die sogenannte ‚Feminisierung‘ der Personenbezeichnungen, insbesondere von Berufs-, Funk‐ tions- und Amtsbezeichnungen. Dieses Wortschatzsegment ist aber nicht nur zum Gegenstand sozialer und sprachnormativer, sondern auch sprachpolitischer Auseinandersetzungen und schließlich sogar politischer Regelungen und Emp‐ fehlungen geworden. Deren Ziel war und ist es, einen Sprachgebrauch zu schaffen, der Frauen und ihre Rolle in der Gesellschaft berücksichtigt. Der Erfolg dieser Maßnahmen war zur Enttäuschung vieler Verfechterinnen zunächst gering. Viele der ‚neuen‘ femininen Personenbezeichnungen, die empfohlen wurden, waren umstritten und empirische Studien der 1980er, 1990er und zum Teil noch der 2000er Jahre zeigen, dass sie zum einen kaum verwendet wurden und dass zum anderen in der Sprachgemeinschaft große Verunsiche‐ rung herrschte, welche Formen überhaupt korrekt und legitim sind (cf. z. B. Hartmann-Brockhaus 1986; Brick/ Wilks 1994; van Compernolle 2007). Erst seit dem Ende der 1990er Jahre entwickelt sich offenbar eine größere Akzeptanz für die Sprachreform, soweit sich eine solche an der häufigeren Verwendung der Formen ablesen lässt. Der Beitrag beschäftigt sich mit den messbaren Auswirkungen dieser Dis‐ kussionen und der daraus entstandenen Empfehlungen auf den Gebrauch der französischen Sprache in nachrichtenbetonten Pressemedien. Am Beispiel von vier ausgewählten Berufs- und Funktionsbezeichnungen soll anhand einer 260 Julia Burkhardt Analyse von Daten aus der französischen Tagespresse der Jahre 2011, 2016 und 2019 die Frage beantwortet werden, ob und inwieweit sich der Gebrauch anfangs oft abgelehnter femininer Personenbezeichnungen im Verlauf des letzten Jahrzehnts erhöht hat. Es kann vorweggenommen werden, dass dies in unterschiedlichem Maße geschehen ist. Deshalb werden auch die Faktoren beleuchtet, die zu diesen unterschiedlichen Entwicklungen beigetragen haben. Kontextualisiert wird die Studie im ersten Teil durch einen Einblick in die Spezifika des französischen Diskurses über die nichtsexistische Sprache, der sich als vergleichsweise einseitig erweist, und im zweiten Teil durch einen Überblick über bisher vorliegende empirische Ergebnisse zum Gebrauch der femininen und maskulinen Personenbezeichnungen in der französischen Nachrichten‐ presse. Das Ziel ist es, einen Beitrag zur Beschreibung aktueller Tendenzen bei der Entwicklung einer nichtsexistischen französischen Sprache zu leisten. 2 Der französische Diskurs um die ‚Feminisierung‘ der Sprache 2.1 Fokus und Ziel der Debatte: Nichtsexistische Sprache als ‚Terminologieproblem‘ Über nichtsexistische Sprache, d. h. darüber, was darunter zu verstehen ist und wie sie sein kann, wird in den unterschiedlichsten (v. a. westlichen) Sprachge‐ meinschaften seit den 1970er Jahren debattiert. Konsens ist dabei, dass es sich um einen Sprachgebrauch handelt, der Personen nicht aufgrund von Geschlecht diskriminiert, egal ob es sich bei diesen Personen um die Sprechenden, die Ange‐ sprochenen oder diejenigen handelt, über die etwas ausgesagt wird. Ob das aber durch eine sprachliche Ausdrucksweise realisiert wird, die Geschlecht(er) in besonderer Weise berücksichtigt, oder eher eine solche, die keine Unterschiede macht, ist sprachübergreifend und auch innerhalb der Sprachgemeinschaften umstritten. Der französische Diskurs über die Problematik weist zwei Spezifika auf: Erstens legt er den Fokus auf das Wortschatzsegment der Berufs-, Funk‐ tions- und Amtsbezeichnungen innerhalb der Klasse der nomina agentis und reduziert die Frage der nichtsexistischen Sprache damit weitgehend auf ein, wie Elisabeth Burr (1999, 135) es nennt, „Terminologieproblem“. Zweitens liegt der Fokus noch mehr als in anderen Sprachgemeinschaften auf der ‚Feminisierung‘ der Sprache. Andere sprachliche Mittel, wie etwa Pronomen oder Adjektive, kamen in der französischen Debatte hingegen lange Zeit ebenso selten in den Blick wie alternative Strategien zur ‚Feminisierung‘, etwa die Neutralisierung, die Berücksichtigung nichtbinärer Geschlechterkonzepte bzw. überhaupt die nichtsexistische Gestaltung von Texten (cf. hierzu auch Elmiger 2013, 117-118; Greco 2013, 6). Das ändert sich erst in jüngster Zeit. Besonders die politischen 261 Nichtsexistische Sprache in Frankeich 1 Zur „semantischen Nutzung“ des Genus im Allgemeinen und zur Geschlechtsdifferen‐ zierung im Besonderen siehe den Aufsatz von Brigitte Schwarze (2000). Von semanti‐ scher Nutzung spricht Schwarze, weil das Genus als formale Kategorie selbst keine Bedeutung trägt, jedoch für den Ausdruck von Differenzierungen auf semantischer Ebene herangezogen wird. Das trifft nicht nur auf die Unterscheidung männlicher und weiblicher Referenten zu, sondern z. B. auch auf Fälle wie le panier ‘Korb’ vs. la panière ‘großer Korb’ (cf. Schwarze 2000, 61-64). und staatlichen Institutionen streben die ‚sprachliche Gleichstellung‘ der Frauen durch ihre explizite Berücksichtigung an. Unter expliziter Berücksichtigung wird dabei verstanden, dass die Opposition der französischen Genera, die traditionell u. a. für die Differenzierung von männlichem und weiblichem Geschlecht zur Verfügung steht, 1 systematisch ausgenutzt und überdies syste‐ matisch ausgebaut wird, um die Frauen ‚adäquat‘ bezeichnen zu können. Diese Fokussierung hat zum einen Tradition, denn die Frage nach der ‚adäquaten Bezeichnung‘ von Frauen in Berufen und Funktionen, in denen lange Zeit ausschließlich Männer tätig waren, stellte sich der französischen Sprachgemeinschaft bereits Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wie aus den Ausführungen Claudie Baudinos (2001) hervorgeht. Nach einer längeren historischen Phase, in der Frauen hauptsächlich Arbeiten in Haus, Familie und Pflege verrichtet hatten, drangen sie nun einerseits (wieder) vermehrt in Bereiche handwerklicher und industrieller Arbeit vor, etwa als Fabrikarbeiterinnen, und andererseits in intellektuelle und akademische Berufe, denn gegen Ende des 19. Jahrhunderts erwarben die ersten europäischen Frauen universitäre Abschlüsse. Anhand historischer Zeitungstexte aus den 1880er und 1890er Jahren arbeitet Baudino heraus, welche sprachlichen Probleme diese gesellschaftlichen Veränderungen den Sprecher_innen bereiteten. Sie macht vor allem die Unsicherheit darüber sichtbar, welche Ausdrücke als geeignet, korrekt oder ausreichend präzise angenommen werden konnten, wenn eine Frau benannt werden sollte. So sammelt die Autorin aus den Zeitungen z. B. eine Vielzahl an Bezeichnungen für Jeanne Chauvin, eine der ersten Anwältinnen Frankreichs, u. a. la femme avocat, la jeune doctoresse, avocate? , l’avocate, un avocat féminin, avocat, la première „maîtresse“ (cf. Baudino 2001, 89-95). In dieser Beschäftigung mit einzelnen Benennungseinheiten und deren Korrektheit bzw. Legitimität, die sich bis heute hält, spiegelt sich auch die in Frankreich besonders stark ausgeprägte Tradition der sprachlichen Normierung und die ebenso stark ausgeprägte Orientiertheit großer Teile der Sprachgemeinschaft an diesen expliziten sprachlichen Normen wider. Zum anderen ist die Fokussierung auf die ‚Feminisierung‘ von Berufsbe‐ zeichnungen der Tatsache geschuldet, dass die konkrete politische Initiative 262 Julia Burkhardt 2 Siehe hierzu die Dokumentationen z. B. in Houdebine (1987); Khaznadar (2000); Viennot et al. (2015). zu sprachlichen Veränderungen von den Frauen ausging und an Impulse der Zweiten Frauenbewegung anschloss. Sie zielte dabei gerade auf die Wahrneh‐ mung und Unterstützung der gesellschaftlichen und beruflichen Emanzipation der Frauen ab: So war es die Ministerin für Frauenrechte Yvette Roudy, die 1984 eine sogenannte Terminologiekommission (Commission de terminologie relative au vocabulaire concernant les activités des femmes) ins Leben rief. Diese sollte sich mit der Benennung speziell der berufstätigen Frauen befassen, da sich der französische Wortschatz in dieser Hinsicht als ‚lückenhaft‘ erwiesen hatte. Auf die Auswirkungen dieses Defizits insbesondere in medialen Texten, also auf Inkongruenzen, Zweideutigkeiten usw., ist immer wieder hingewiesen worden. Exemplarisch dafür ist der von Marina Yaguello (1989, 73) zitierte Presseauszug: „Le capitaine Prieur est actuellement enceinte et l’accord prévoyait que dans ces circonstances, elle pouvait être rapatriée à Paris.“ Dass feministisch motiviertes politisches Handeln zum damaligen Zeitpunkt alles andere als eine Selbstverständlichkeit war, zeigt die Häme, mit der die Gründung und die Arbeit dieser Kommission in der medialen Öffentlichkeit begleitet wurden. 2 Am Ende der Kommissionsarbeit stand der Circulaire du 11 mars 1986 relative à la féminisation des noms de métier, fonction, grade ou titre, ein internes Dokument, das für die administrative Kommunikation der Ministerien Gültigkeit haben sollte. Darin betont der zeichnende Premierminister Laurent Fabius explizit, dass die sozialen Entwicklungen, in deren Rahmen Frauen zunehmend unterschiedlichste Berufe und Funktionen im gesellschaftlichen Leben einnehmen, sich in der Sprache niederschlagen sollten, das heißt v. a. in der Verwendung ‚feminisierter‘ Bezeichnungen, wenn man diese Frauen benennt: L’accession des femmes, de plus en plus nombreuses à des fonctions de plus en plus diverses, est une réalité qui doit trouver sa traduction dans le vocabulaire. Pour adapter la langue à cette évolution sociale, Mme Yvette Roudy, ministre des droits de la femme, a mis en place, en 1984, une commission de terminologie chargée de la féminisation des noms de métier et de fonction, présidée par Mme Benoîte Groult. Cette commission vient d’achever ses travaux et a remis ses conclusions. Elle a dégagé un ensemble de règles permettant la féminisation de la plupart des noms de métier, grade, fonction ou titre. (Circulaire du 11 mars 1986) Auch der spätere Circulaire du 6 mars 1998 und der 1999 erschienene Ratgeber Femme, j’écris ton nom (= Guide d’aide; cf. Becquer et al. 1999), der dazu beitragen 263 Nichtsexistische Sprache in Frankeich 3 So plädiert der Guide pratique explizit für die konsequente Ansprache aller Personen bzw. Geschlechter, etwa durch Reihung (les Français et les Françaises), Neutralisierung (le corps professoral) oder die Nutzung verkürzter Schreibweisen (cf. Haut Conseil 2 2016, 27-28), von denen der Guide d’aide hingegen ausdrücklich abrät (cf. Becquer et al. 1999, 37-38). 4 Éliane Viennot, Maria Candea, Yannick Chevalier, Sylvia Duverger und Anne-Marie Houdebine (Viennot et al. 2015) haben in ihrem Band alle bis 2014 verfügbaren Stellung‐ nahmen der Académie française und/ oder einzelner ihrer Mitglieder zur Problematik originalgetreu und vollständig zusammengestellt, eingeordnet und kommentiert. sollte, aus dem verwaltungsinternen Gebot ein breites gesellschaftliches Projekt zu machen, waren in diesem Sinne verfasst. Dabei ist der Begriff der féminisation durchaus problematisch, impliziert er doch, dass das Femininum in der Sprache (noch) nicht vorhanden wäre oder dass die femininen Bezeichnungen für die Frauen neu erfunden werden müssten. In dem Ratgeber Pour une communication sans stéréotype de sexes. Guide pratique (= Guide pratique) des Haut Conseil à l’égalité entre les femmes et les hommes, der ein ungleich differenzierteres Konzept nichtsexistischer Sprache vorstellt, 3 heißt es hierzu kritisch: Privilégier l’expression „user du féminin“ plutôt que „féminiser“ la langue ou le langage, car le genre grammatical féminin existe déjà: il est simplement peu, ou plus usité. Le fait d’utiliser un verbe d’action comme „féminiser“ sous-entend à tort que l’on transformerait la langue. (Haut Conseil 2 2016, 29) Tatsächlich galten der Sprachgemeinschaft aber viele der von den Circulaires und dem Guide d’aide empfohlenen femininen Berufsbezeichnungen als neu, obwohl nicht wenige dieser Ausdrücke historisch belegt sind. Insbesondere die Académie française weigerte sich lange, den staatlichen Eingriff in Sprachge‐ brauch und Sprachnormen einerseits und einen Teil der ‚feminisierten‘ Formen andererseits zu akzeptieren, weil sie diese Formen nicht nur als Neologismen, sondern auch als Barbarismen auffasste: „On se gardera de même d’user de néologismes comme agente, cheffe, maîtresse de conférences, écrivaine, autrice… L’oreille autant que l’intelligence grammaticale devraient prévenir contre de telles aberrations lexicales“ (Académie française 2002, zitiert nach Viennot et al. 2015, 113; kursiv i. O.). 4 Erst in jüngster Zeit hat sie ihre Auffassung hierzu zumindest modifiziert und das Bedürfnis nach femininen Bezeichnungen als Reflex gesellschaftlicher Entwicklungen anerkannt: „les nouvelles générations donnant souvent la préférence aux appellations qui font droit à la différence“ (Académie française 2019, 3). 264 Julia Burkhardt 5 Im Gegensatz dazu wird der Guide pratique meinem Eindruck nach nicht in der gleichen Weise wahrgenommen. 6 Ich schließe mich der Kritik am Begriff des generischen Maskulinums von Kotthoff und Nübling (2018, 91-92) an. Sie haben darauf hingewiesen, dass häufig gar kein generischer Gebrauch im semantischen Sinne gemeint ist, wenn vom generischen Maskulinum die Rede ist. Ihren Vorschlag, vom geschlechtsübergreifenden Maskulinum zu sprechen, erweitere ich um den Verweis darauf, dass es sich um ein geschlechts‐ übergreifend intendiertes Maskulinum (GiM) handelt - denn dass sein Gebrauch geschlechtsübergreifend ist bzw. so verstanden wird, verneint die Mehrheit der dazu vorliegenden Studien (cf. z. B. die Zusammenfassung in Kotthoff/ Nübling 2018; zum Französischen insbesondere Gygax et al. 2008). 2.2 Die Empfehlungen der französischen Sprachpolitik Die Empfehlungen der französischen Sprachpolitik wurden bereits öfter zitiert und kommentiert (cf. z. B. Schafroth 2001; van Compernolle 2007), weshalb hier eine kurze Zusammenfassung der Regularien als Bezugspunk der Untersuchung genügen soll. Grundlage ist der Guide d’aide, weil er, soweit ich sehe, bis heute als Referenz aufgefasst werden kann. 5 Darin werden zum einen die Empfehlungen und Regeln des Circulaire von 1986 präzisiert und ausführlich erläutert, zum anderen soll er mit seiner Wortliste am Ende auch als Nachlagewerk dienen. Diese Wortliste führt die femininen und maskulinen Berufsbezeichnungen auf, die sich aus den Regeln ergeben, und zwar durchaus mit Anspruch auf Vollständigkeit. Die wichtigste Regel des Guide d’aide lautet, dass, wann immer von einer Frau die Rede ist, ein femininer Ausdruck zu ihrer Bezeichnung herangezogen werden kann und soll, der mindestens durch den femininen Artikel markiert ist (cf. Becquer et al. 1999, 22). Das gilt, wohl gemerkt, für die Bezeichnung einer ganz bestimmten Frau. An dem umstrittenen geschlechtsübergreifend intendierten Gebrauch des Maskulinums (sog. generisches Maskulinum) 6 halten die Empfehlungen des Guide d’aide (anders als die des Guide pratique) nämlich ausdrücklich fest. Das heißt, sowohl bei der Bezeichnung von Gruppen, deren geschlechtliche Zusammensetzung gemischt ist oder sein könnte (1), als auch bei der Bezeichnung nicht spezifizierter einzelner Personen (2) oder allgemeiner Funktionen und Ämter (3) wird der Gebrauch des geschlechtsübergreifend intendierten Maskulinums (GiM) weiterhin empfohlen (cf. Becquer et al. 1999, 37-38): (1) Cette ville compte vingt mille habitants. (2) Les Droits de l’Homme et du Citoyen (3) Cette question relève du préfet, pas du président du conseil général. 265 Nichtsexistische Sprache in Frankeich Die weiteren Regeln und Empfehlungen betreffen die Auswahl der morphologi‐ schen Prinzipien, nach denen das jeweilige Femininum gebildet wird. Sie werden hier mit Bezug auf die vier für die Datenanalyse ausgewählten Ausdrücke dargestellt. Diese Ausdrücke sind im Maskulinum écrivain, directeur, professeur und chercheur. Als feminine Äquivalente ergeben sich aus den Regeln des Guide d’aide (cf. Becquer et al. 1999, 22-25): 1. écrivaine: Endet das Maskulinum auf einen Konsonanten, wird im Femi‐ ninum in der Regel ein -e hinzugefügt, was zusätzlich zu Modifikationen im Auslaut führen kann, wie hier von [ekʀivɛ̃] zu [ekʀivɛn]. Eine Ausnahme bildet etwa le/ la chef. 2. directrice: Endet das Maskulinum auf -teur, alterniert es meist mit einem Femininum auf -trice. Trägt das semantisch korrespondierende Verb den Konsonanten -tim Stamm, alterniert -teur auch mit -teuse (acheteur - acheter - acheteuse). 3. chercheuse: Bei den Maskulina auf -eur gibt es zwei Fälle: a) Existiert ein semantisch korrespondierendes Verb (chercher), alternieren sie mit Feminina auf -euse. In diesem Fall ist jedoch auch chercheure belegt (cf. Becquer et al. 1999, 73), möglicherweise in Analogie zu professeure, auteure u. a. 4. professeur(e): Es trifft der zweite Fall zu: b) Existiert kein korrespondie‐ rendes Verb, besteht die Wahlmöglichkeit zwischen einem Femininum ohne formale Anpassung nach belgischem oder mit -e nach kanadischem Vorbild. Es zeigt sich, dass der Guide d’aide eher wenig restriktiv ist. Vielmehr lässt er ausdrücklich Varianten zu, die sich im Sprachgebrauch bewähren oder durch ihn sanktioniert werden sollen (z. B. la procureur/ procureure/ procureuse/ procu‐ ratrice). Dabei werden auch Varianten einbezogen, die in anderen frankophonen Ländern vorgeschlagen worden sind, etwa die Bildungen auf -eure (cf. Becquer et al. 1999, 108). Diese Offenheit sollte, so urteilt Elmar Schafroth, „letztlich eine möglichst große Kompatibilität mit dem sich künftig abzeichnenden Sprachge‐ brauch ermöglichen“ (Schafroth 2001, 146). 2.3 Gründe für die Ablehnung der ‚Feminisierung‘ Feministisch motivierte Sprachkritik und Sprachreformen haben in den meisten Sprachgemeinschaften starke Widerstände und erbitterte Debatten hervorge‐ bracht und tun es teilweise bis heute. Dennoch scheinen die Fronten in Frank‐ reich besonders verhärtet. Dafür lassen sich fünf wesentlich Gründe nennen, die sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Wissenschaft in unterschiedlichem 266 Julia Burkhardt 7 Siehe hierzu ausführlich Fleischmann (1997). Maße immer wieder angeführt und diskutiert werden (cf. z. B. Yaguello 1979; Houdebine 1987; Fleischmann 1997; Schafroth 2001; Viennot et al. 2015). Diese Gründe sind: 1) der Mangel an Usualität und Akzeptanz der Feminina: Viele feminine Berufsbezeichnungen waren Anfang des 20. Jahrhunderts aufgrund der ge‐ schlechtlichen Arbeitsteilung nicht oder nicht mehr üblich. Dabei können sich, wie Schafroth (2001, 131) betont, „Gegner der Feminisierung […] in vielen Fällen gerade nicht auf eine fehlende Bezeichnungstradition berufen.“ Denn historische Studien belegen, dass bis ins 16. Jahrhundert Frauen in verschiedensten Berufen aktiv und Bildungsmuster für feminine Berufsbezeichnungen produktiv waren. Schafroth verweist z. B. auf belegte Formen wie autrice, jugesse, professeuse oder maçonne. Erst danach ging die Berufstätigkeit der Frauen zurück und es vertiefte sich die geschlechtliche Arbeitsteilung. Damit verschwanden auch die Berufsbezeichnungen in den Bereichen, die seither Männerdomänen waren (cf. Schafroth 2001, 131-132), während Bezeichnungen aus traditionellen beruf‐ lichen Frauendomänen (v. a. Soziales, Pflege, Dienstleistung), wie infirmière, institutrice, vendeuse, coiffeuse, erhalten geblieben sind und problemlos akzep‐ tiert wurden und werden. 2) die mangelnde Legitimierung der Feminina: Ce n’est pas dans le diction‐ naire oder L’académie s’y oppose sind typische Einwände französischer Spre‐ cher_innen gegen feminine Bezeichnungen, die sie als Neologismen empfinden (cf. Houdebine 1998, 165; Elmiger 2013, 118). Sie zeigen die starke Orientierung der französischen Sprachgemeinschaft an präskriptiven Sprachnormen und an Sprachautoritäten, z. B. an Wörterbüchern oder der Académie française. Wörter, die von diesen Autoritäten nicht ausdrücklich legitimiert sind, werden nur zögerlich akzeptiert und verwendet, selbst wenn sie produktiven Wortbil‐ dungsmustern entsprechen. Die Normorientierung verknüpft sich überdies mit einer stark konservativen, also auf Sprachbewahrung ausgerichteten Hal‐ tung, die darin begründet ist, dass die Norm, der sog. bon usage, als eine Art Supernorm, d. h. die bestmögliche Ausprägung der Sprache aufgefasst wird. 7 Daraus erwächst schließlich auch der Eindruck, die Sprache sei nur bedingt veränderlich. Unterdessen akzeptiert gerade die Académie Française die Vorschläge bis heute nur zögerlich und nehmen Wörterbücher die femininen Formen nur sehr langsam auf. So wird etwa écrivaine noch im Grand Robert 2017 zwar als mögliche, aber nicht unbedingt übliche, überwiegend sogar idiolektale Form präsentiert: 267 Nichtsexistische Sprache in Frankeich Par appos. (pour suppléer l’absence de forme féminine). Une femme écrivain. REM. Au féminin, on dit écrivain (George Sand, Emily Brontë sont de grands écrivains), mais le féminin écrivaine […] est revendiqué par certaines (Colette, ironiquement, Benoîte Groult). (Grand Robert 2017, s. v. écrivain) Erst in der aktuellsten Fassung des Grand Robert heißt es, écrivaine sei in Kanada verbreitet und „de plus en plus fréquente en France et dans le reste de la francophonie“ (Grand Robert 2021, s. v. écrivain). Das Femininum professeure ist dort bis heute nicht verzeichnet. 3) soziale Hierarchien und die Genderisierung von Tätigkeiten: Bereits Ende des 19. Jahrhunderts kamen Feministinnen zu der Erkenntnis, dass die Akzeptanz einer femininen Berufsbezeichnung von dem bezeichneten Beruf abhängt (cf. Baudino 2001, 40). Es besteht dabei zum einen ein Zusammenhang zur inhaltlichen Domäne, der die jeweilige Tätigkeit zugehört, und zum an‐ deren zur sozialen Positionierung des Berufes oder Amtes; u. U. kreuzen sich beide Aspekte. Diese Zusammenhänge wurden auch immer wieder empirisch bestätigt (cf. z. B. Schafroth 1993; Fujimura 2005; van Compernolle 2007; cf. Kap. 2). Bis in die 1990er Jahre hinein stand dabei stets das Sozialprestige der Berufe oder Funktionen und ggf. ihre öffentliche Relevanz im Vordergrund (chef, médecin, professeur vs. vendeuse, boulangère, serveuse). Bisweilen zeigten sich sogar soziale Abstufungen bei ein und demselben Ausdruck, wenn dieser auf verschiedenen Hierarchiestufen und/ oder in verschiedenen Bereichen ver‐ wendbar ist (la secrétaire vs. le secrétaire d’État; cf. Yaguello 1979, 124; Schafroth 2001, 135). 4) die Annahme, Feminina führten zu einer Devalorisierung: Mit dem unter 3) Dargestellten korrespondiert die Tatsache, dass die femininen Formen lange Zeit als degradierend wahrgenommen wurden. Das ist der Grund dafür, dass in den 1980er und 1990er Jahren viele Frauen die femininen Formen ablehnten oder zumindest für sich selbst nicht verwendeten. Exemplarisch dafür ist diese mehr‐ fach zitierte Aussage der Fernsehredakteurin Christine Ockrent von 1984: „On devrait m’appeler rédactrice, mais cette forme féminine ne correspond pas à mon travail; on penserait que je rédige un magazine féminin. Donc, je suis rédacteur, il n’y a rien à faire“ (zitiert nach Fleischmann 1997, 837; kursiv i. O.). Mit dem Femininum war für diese Sprecherin damals also automatisch die Assoziation von Tätigkeiten verbunden, die als weniger ernsthaft und wichtig eingeschätzt werden. Gestützt wurde dieser Effekt durch die (heute kaum noch praktizierte) Gewohnheit, Ehefrauen v. a. von hochrangigen Funktionsträgern mit der jeweils femininen Form der Amtsbezeichnung anzusprechen (Madame l’Ambassadrice; cf. Yaguello 1979, 123-124). Referenz auf Weiblichkeit war also lange mit der 268 Julia Burkhardt Zuweisung eines niedrigeren sozialen Status gleichgesetzt. Dabei wird klar, wie stark gesellschaftliche und sprachliche Normen ineinandergreifen: Die Ablösung der negativen Konnotation von den femininen Bezeichnungen musste demzufolge mit einem Wandel der Bewertung weiblicher Berufstätigkeit und Leistungsfähigkeit einhergehen. 5) die Unsicherheit darüber, ob die Formen angemessen, korrekt und/ oder legitim sind bzw. darüber, welche Form es jeweils ist. Sie geht auf mehrere Ursachen zurück: erstens auf die Kontroversität der Debatte, in der sich nicht nur verschiedene gesellschaftliche Gruppen und Positionen gegenüberstehen, sondern mit der staatlichen Sprachpolitik einerseits und der Académie française andererseits auch zwei institutionelle Autoritäten. Zweitens spielen möglicher‐ weise die unterschiedlichen sprachlichen Lösungen innerhalb der (westlichen) Frankophonie eine Rolle (cf. hierzu z. B. Schafroth 2001). Drittens sind die 1986 und 1999 vorgeschlagenen sprachlichen Regeln, wie oben gezeigt wurde, nicht immer eindeutig und auch nicht immer logisch in dem Sinne, dass sie Ähnliches auch ähnlich behandeln. Der 1999 erschienene Leitfaden, der als Orientierung und Nachschlagewerk gedacht ist, lässt, wie bereits erwähnt wurde, bei einigen Ausdrücken sogar Wahlmöglichkeiten zu. Viertens sind den Sprachnutzer_innen die offiziellen Empfehlungen nicht immer bewusst oder bekannt, wie Rémy A. van Compernolle (2007) empirisch nachgewiesen hat. Neben diesen vor allem außersprachlichen und normbezogenen Gründen wurden immer wieder auch semantische Hürden ins Feld geführt, etwa, weil durch die femininen Personenbezeichnungen Homonymien entstehen (la cafe‐ tière, la chauffeuse). Für Schafroth (2001, 133; kursiv i. O.) geht es dabei jedoch um eine „quantité négligeable“, zumal Verwechslungen durch die Kontexteinbettung aus seiner Sicht weitestgehend ausgeschlossen sind. Greifbarer sind zusätzliche negative Konnotationen wie bei maîtresse oder dem Bildungsmuster mit -euse, das laut Schafroth (2001, 131) vorrangig die semantischen Merkmale ‚sozial niedrig‘ und ‚manuelle Arbeit‘ trägt und deshalb auch abwertend gebraucht werden kann. Schließlich werden nicht selten ästhetische Werturteile vom Typ „Une pompière? C’est affreux! “ angeführt (cf. van Compernolle 2007), die freilich eng mit den Faktoren Usualität und Legitimität zusammenhängen, denn dabei geht es um nicht mehr und nicht weniger als sprachliche Gewohnheiten. Diese Faktoren bedingen eine aus Sicht der Befürworter_innen der ‚Feminisierung‘ sehr langsame Entwicklung Frankreichs bei der Implementierung nichtsexisti‐ scher Sprachregelungen, vor allem im Vergleich mit englischsprachigen Län‐ dern oder dem frankophonen Kanada - zumal mit der ‚Feminisierung‘ der Personenbezeichnungen das Potenzial der Sprache in dieser Hinsicht längst nicht ausgeschöpft ist. 269 Nichtsexistische Sprache in Frankeich 3 Forschungsstand: Empirische Untersuchungen zu Personenbezeichnungen Die bereits angedeutete ‚Wende‘ im Sprachgebrauch in Hinsicht auf die Ver‐ wendung der femininen Personenbezeichnungen lässt sich bei der Durchsicht der empirischen Studien deutlich nachvollziehen. Die erneute Diskussion der nichtsexistischen Sprachregelungen Ende der 1990er Jahre fand in einem ins‐ gesamt veränderten gesellschaftlichen Klima statt. Im gleichen Zweitraum war in Frankreich der Begriff der parité in aller Munde. Das Recht auf gleichberech‐ tigte gesellschaftliche, vor allem aber auch politische Teilhabe von Frauen und Männern wurde infolgedessen im Juli 1999 durch eine Änderung in der Verfassung verankert. Augenscheinlich hat das auch der Sprachreform Aufwind verliehen. Es muss allerdings zur Kenntnis genommen werden, dass empirische und erst recht quantitative Studien zum Gebrauch der französischen Personenbezeichnungen eher die Ausnahme sind. Diesen Eindruck bestätigt Marie-Marthe Gervais-le Garff: „Une somme importante de recherches ont été menées sur la féminisation langagière mais fort peu d’entre elles ont comporté une dimension quantitative“ (Gervais-le Garff 2007, 30). Da der hier durchgeführten Untersuchung ein Pressekorpus zugrundliegt, wird in diesem Forschungsüberblick hauptsächlich auf (ausgewählte) Studien verwiesen, die ebenfalls auf der Analyse von Pressetexten basieren. Die vorlie‐ genden Studien arbeiten zusammengefasst fünf Tendenzen heraus: 1) Der Gebrauch femininer Personenbezeichnungen steigt gegen Ende der 1990er Jahre, besonders nach 1998/ 1999, deutlich an. In den 1990er Jahren hatten Noëlle Bricks und Clarissa Wilks (1994) vor allem noch die große Unsicherheit der Zeitungen im Umgang mit den Berufsbezeich‐ nungen nachweisen können. Sie beobachteten in sechs französischen Tages- und Wochenzeitungen von 1991 die Bezeichnungen für die Politikerin und kurzzeitige Premierministerin Edith Cresson (1991-1992) und fanden première ministre neben premier ministre oder (le) chef du gouvernement. Häufig wurde die feminine Form auf Kosten von Grammatikalität und Textkohäsion vermieden, etwa in diesem Auszug: „‚Mme Cresson, onzième premier ministre est la première femme à devenir chef du gouvernement en France‘“ (Brick/ Wilks 1994, 236). Brick und Wilks mussten also zu dem Urteil kommen, dass die Sprachdebatte kaum Einfluss auf den Sprachgebrauch der Presse genommen hatte (cf. Brick/ Wilks 1994, 235). 270 Julia Burkhardt 8 In die gleiche Richtung weisen auch die Ergebnisse in Gervais-le Garff (2007) und Ossenkop (2013). 9 Die genannten Anteile von 8 % und 12,7 % fassen die von Gervais-le Garff erhobenen Kategorien féminins marqués (z. B. la directrice), épicènes (z. B. la ministre) und féminins émergeants (z. B. une écrivaine) zusammen. Von diesen unterschied Gervais-le Garff die Kategorien féminins usuels (z. B. la chanteuse) und masculins (z. B. le professeur; cf. Gervais-le Garff 2001, 163-165). 10 Die Zeitungen sind mit unterschiedlichem Anteil in das Korpus eingegangen. So umfasst das Le Monde-Teilkorpus insgesamt 24.654.000 Wörter aus sechs Erscheinungs‐ jahren. Dagegen geht Libération mit ‚nur‘ 5.915.000 Wörtern aus zwei Jahren in das Korpus ein, usw. Dass sich das im Verlaufe der 1990er Jahre im Ansatz änderte, konnte z. B. Gervais-le Garff (2001) zeigen: 8 Ihre Untersuchung beruht auf der Auswertung von je sieben Ausgaben von Le Monde aus dem März 1997 sowie 1998, in denen systematisch alle Personenbezeichnungen erhoben wurden, die auf eine Frau referierten (cf. Gervais-le Garff 2001, 160-161). Aus dieser Auswertung resultierten zwei Belegsammlungen von 506 (1997) bzw. 412 (1998) Wörtern. Den größten Teil dieser Belege machten traditionell akzeptierte feminine Per‐ sonenbezeichnungen (cliente, actrice, épouse) aus. Gleichzeitig waren in beiden Korpora 15 % aller Personenbezeichnungen, die auf Frauen referierten, maskulin (le juge, le député européen). Speziell die ‚neuen‘ femininen Ausdrücke, die häufig Berufe und Funktionen mit großem Renommee bezeichnen (la présidente, une écrivaine, la ministre), machten 1997 nur 8 %, 1998 immerhin 12,7 % der Perso‐ nenbezeichnungen aus, die auf Frauen referierten (cf. Gervais-le Garff 2001, 163-165). 9 Bei diesen Ausdrücken war also ein leichter Anstieg zu verzeichnen; gleichzeitig blieb jedoch der Anteil maskuliner Personenbezeichnungen zur Bezeichnung von Frauen konstant. Eine aufschlussreiche Untersuchung zum Gebrauch von femininen Berufs‐ bezeichnungen anhand eines Pressekorpus aus dem Zeitraum zwischen 1988 und 2001 hat Itsuko Fujimura (2005) vorgelegt. Ihr Korpus speist sich aus den Texten von fünf verschiedenen französischen Tages- und Wochenzeitungen und umfasst insgesamt 57 Mio. Wörter. 10 Für die Analyse hat sie die Häufigkeit des Vorkommens einer Auswahl von Personenbezeichnungen erhoben, sofern sie auf Frauen referierten (z. B. ministre, juge, député/ e, président/ e). Die Auswertung hat im Wesentlichen eine zunehmend häufige Verwendung der femininen Berufs- und Funktionsbezeichnungen ab 1998 ergeben. So konnte Fujimura (2005, 44) etwa la ministre vor 1998 in nur ca. 10 % der Fälle nachweisen, in denen eine Frau bezeichnet wurde, die das entsprechende Amt innehatte. Nach 1998 wurde das Femininum zum Teil in bis über 90 % dieser Fälle verwendet. Es zeigte sich aber auch, dass die Unterschiede zum einen zwischen den Wörtern und 271 Nichtsexistische Sprache in Frankeich zum anderen zwischen den einzelnen Presseorganen teils sehr groß sind. So ist etwa der Ausdruck une écrivaine in Fujimuras Korpus auch nach 1998 nur wenig in Gebrauch. Vergleicht man den Sprachgebrauch einzelner Zeitungen, zeigt sich in Fujimuras Daten zudem, dass Zeitungen sich unterschiedlich schnell auf feminine Formen einlassen: So verwendet Libération schon 1995 mehrheitlich la députée, um Frauen in diesem Amt zu bezeichnen, Le Monde hingegen erst ab 1998. 2) Der Gebrauch der femininen Personenbezeichnungen erweist sich als ab‐ hängig von ideologischen und politischen Einstellungen. Unterschiede zwischen Presseorganen hängen vermutlich mit dem unterschied‐ lichen Selbstverständnis, mit verschiedenen Zielgruppen, dem Schreibstil der Zeitung u. v. m., ganz sicher aber mit sozialen und politischen Einstellungen zusammen. Das wurde in Tageszeitungen, aber auch am Beispiel von Texten po‐ litischer Parteien nachgewiesen: Brick und Wilks (2002) und im Anschluss daran Anne Dister und Marie-Louise Moreau (2006) konnten in ihren Studien deutlich zeigen, dass Parteien, die im Parteienspektrum Frankreichs und Belgiens links oder eher links positioniert sind, sich eher für nichtsexistischen Sprachgebrauch aussprechen und diesen auch eher umsetzen als die Parteien rechts oder eher rechts der Mitte. Dieser Zusammenhang gilt nach den Erkenntnissen von Dister und Moreau (2006, 36) im Übrigen besonders für Frankreich, während sich die belgischen Parteien in den 2000er Jahren einander stärker anglichen. Für die Medien zeichnet sich ein ähnliches Bild ab. Eine Studie Gervais-le Garffs (2007) auf der Basis von Auswertungen anhand des Zeitungsarchivs der Biblio Branché mit Daten von 1985 bis 2005 deutet an, dass insbesondere neuere feminine Bezeichnungen (z. B. auteure) eher in links oder linksliberal gerichteten Zeitungen wie L’Humanité oder Libération zu finden sind als in konservativen wie Le Figaro oder La Croix. Aber nicht nur unmittelbar politischideologische Einstellungen spielen hinein, sondern allgemein der Bezug zu Norm und Innovation: Brick und Wilks gingen 1997 erstens der Frage nach, inwieweit die Redaktionen französischer Zeitungen, hier Libération und Le Monde, die Vorschläge für eine nichtsexistische Sprache reflektieren und ob sie sich ggf. selbst zu entsprechenden internen Regeln anregen lassen. Zweitens haben sie überprüft, ob sich diese internen Regeln tatsächlich im Sprachge‐ brauch der Zeitungen widerspiegeln. In den Gesprächen mit den Redaktionen zeigte sich, dass die Tageszeitungen sich entsprechend ihrem unterschiedlichen Selbstverständnis als sprachlich offene und stilistisch lockere (Libération) bzw. eher normkonforme (Le Monde) Zeitung auch in Bezug auf nichtsexistischen 272 Julia Burkhardt 11 Bezüglich Stil und Aufmachung der beiden Tageszeitungen siehe Daniela Bohnacker ( 2 1996) zu Le Monde und Johannes Freytag ( 2 1996) zu Libération. Sprachgebrauch unterschiedlich positionierten. 11 Dieselbe Tendenz ließ sich auch in ihrem Sprachgebrauch finden: Die quantitative Erhebung ergab, dass in Libération in den Erhebungsjahren 1982, 1988 und 1995 der Anteil der femininen Personenbezeichnungen unter allen Bezeichnungen, die sich auf Frauen bezogen, konstant um 90 % lag. Im Gegensatz dazu kam Le Monde 1982 auf 52,9 % und 1995 auf 79,3 % (cf. Brick/ Wilks 1997, 305-306). Auch im Umgang mit den ‚neuen‘ Feminina (z. B. présidente, députée) erwies sich Libération als weitaus offensiver (cf. Brick/ Wilks 1997, 305-306). 3) Der Gebrauch der femininen Bezeichnungen erweist sich als abhängig vom Tätigkeitsbereich und der Genderisierung von Berufen, der Einfluss des Sozialprestiges scheint hingegen in jüngerer Zeit kleiner zu werden. Eine wichtige Erkenntnis der Studien aus den 2000er Jahren ist die Feststellung, dass das Sozialprestige des bezeichneten Berufes oder der Funktion nicht mehr der zuerst ausschlaggebende Faktor dafür ist, ob eine feminine Form als angemessen empfunden wird oder nicht. Das geht besonders deutlich aus der Erhebung Fujimuras (2005) hervor: Ihre Daten zeigen, dass Ausdrücke aus dem politischen, administrativen, zum Teil auch juristischen Bereich nach 1998 (teil‐ weise auch schon davor) häufig im Femininum gebraucht wurden (conseillère municipale, présidente du tribunal, la ministre), während dies auf Ausdrücke, die intellektuelle Tätigkeiten in Bildung, Wissenschaft und Kultur bezeichnen, eher nicht zutraf (directeur de recherche, professeur, écrivain, secrétaire perpétuel de l’Académie française; cf. Fujimura 2005, 45-47). Auch weitere Studien, etwa Befragungen oder Analysen von Stellenanzeigen, belegen, dass das Berufsfeld und die Genderisierung der Berufe deutlichen Einfluss darauf nehmen, wie akzeptiert eine feminine Berufsbezeichnung ist (cf. Boivin 1998; Decamps 2001; van Compernolle 2007). Als stereotypische Männerdomänen, in denen feminine Personenbezeichnungen weiter ein Problem darstellen, gelten demnach neben den genannten intellektuellen Tätigkeiten z. B. die Bereiche Technik und Bau (ingénieur, mécanicien) sowie Sicherheit (policier, pompier). Während Studien am Ende der 1990er Jahre zeigten, dass Sozialprestige und Genderisierung als Faktoren stark ineinandergriffen (cf. Boivin 1998; Decamps 2001), weisen Fujimuras Daten darauf hin, dass seitdem das Sozialprestige hinter dem Einfluss des Berufsfelds zurücktritt. 273 Nichtsexistische Sprache in Frankeich 4) Der Gebrauch des Femininums hängt von der konkreten Form des Ausdrucks und den morphologischen Prinzipien der Femininbildung ab. Dass Ausdrücke wie la professeur(e) und écrivaine auch nach der Jahrtausend‐ wende viel seltener vorkommen als etwa députée oder présidente, führt Fujimura (2005, 43-44) nicht nur auf den Einfluss sozialer Aspekte zurück. Vielmehr setzt sie auch einen facteur lexical an, also individuelle, formale Eigenschaften der Wörter, die offenbar dazu beitragen, dass ein bestimmtes Femininum weniger akzeptiert wird als andere. Was genau diese Eigenheiten sind oder ausmacht, lässt sich kaum vorhersagen; auch Fujimura (2005, 43) bleibt hier eher vage: „La facilité de féminisation dépend notamment des noms, comme on le sait par expérience.“ Warum présidente einfacher zu bilden sein soll als etwa professeure oder écrivaine, ist aber unklar. Einige Wörter scheinen allein schon durch den jahrzehntelangen Kampf bzw. aufgrund der despektierlichen Argumentation gegen sie als „aberrations lexicales“ (Académie française 2002, zitiert nach Viennot et al. 2015, 113) dauerhaft diskreditiert zu sein. So z. B. écrivaine, dessen Gebrauch anfangs mit dem Verweis auf den Reim mit vaine abgelehnt wurde (cf. Yaguello 1979, 126). Unklar blieb immer, warum dieser Reim ein Problem darstellt, nicht aber der zwischen vain und écrivain. Vorbehalte existieren offenbar auch gegen die aus dem kanadischen Französisch importierte Femininbildung mit -eure. Dabei ist die Form bereits ein Kompromiss, der eine Art minimalistischer ‚Feminisierung‘ erlaubt, weil im Gegensatz zur Vari‐ ante ohne formale Veränderung (la professeur) zwar eine Anpassung vorgenommen wird, diese jedoch im Sprachgebrauch kaum spürbar ist, weil sie nur im graphischen Code sichtbar wird. Bernard Cerquiglini, der an der Redaktion des Guide d’aide beteiligt war, hat diesen durchaus strategischen Aspekt in einem Interview in Le Figaro hervorgehoben und begründet damit z. B. auch die Bevorzugung von auteure gegenüber autrice: „Cette invention québécoise datant du début des années 2000 me semble très bien. On trouve ce suffixe dans les mots ‚supérieure‘, ‚prieure‘, ‚professeure‘ etc. La terminaison en ‚-eure‘ ne s’entend pas à l’oral, le terme paraît donc moins agressif qu’‚autrice‘“ (Develey 2018). Auch Schafroth sieht in der Nutzung von Ausdrücken auf -eure, ebenso wie bei allen Formen des Differential‐ genus, den Vorteil, dass dadurch „[d]as psychosoziale Problem der ‚Inferorität‘ eines markierten Femininums […] gelöst werden [könnte]“ (Schafroth 2001, 146). Die Datenlage zur Akzeptanz ist aber nicht eindeutig: So weist eine Studie von Christina Ossenkop (2013, 191-192) anhand von Daten aus 2009 auf eine gewisse Akzeptanz der Ausdrücke auf -eure und zugleich auf ihre Bevorzugung vor unveränderten Formen mit femininem Differentialartikel (z. B. la professeur) hin. Fujimuras (2005, 43-44) Ergebnisse bestätigen das hingegen eher nicht. Allerdings liegen zwischen 274 Julia Burkhardt 12 Bei der hier vorgelegten Untersuchung handelt es sich zum Teil um eine Auskopplung aus meinem Dissertationsprojekt. Die Datenausschnitte für 2011 und 2016 (erhoben 2017-2018) wurden jedoch erweitert und um den Datensatz 2019 ergänzt. Im Rahmen der Dissertation wurden neben den genannten Bezeichnungen die Paare bzw. Trios présidente/ président, députée/ députée sowie auteur/ auteure/ autrice in nationalen und regionalen Tageszeitungen sowie Nachrichtenmagazinen (insgesamt 23 Titel) untersucht. den zugrundeliegenden Korpora ca. 10 Jahre, in denen sich die Einstellung zu den Bezeichnungen auf -eure verändert haben könnte. 5) Der Gebrauch femininer Personenbezeichnung hängt von der Referenz ab. Aus Fujimuras (2005, 41) Sicht hängt die Frage, ob eine feminine Form verwendet wird oder nicht, zuerst davon ab, auf wen genau referiert wird und wie spezifisch diese Referenz ist (facteur sémantique). Denn ganz im Sinne der Empfehlungen des Guide d’aide wird in der Regel nur dann das Femininum verwendet, wenn von einer konkreten Frau (oder konkreten Frauen) die Rede ist. In allen anderen Fällen, denen ein wie auch immer gearteter Grad an Generizität zugeschrieben wird, steht das Maskulinum. Allerdings kann Fujimura (2005, 42) in geringem Maße eine Veränderung bei Funktionsbezeichnungen in Formulierungen mit rôle de, poste de, fonction de feststellen (z. B. le poste de directrice générale), in denen nach 1998 ihren Daten zufolge häufiger das Femininum steht als zuvor. Der Anstieg ist jedoch nicht vergleichbar mit demjenigen bei den individuellen Referenzen. Der geschlechtsübergreifend intendierte Gebrauch des Maskulinums scheint in keiner Weise rückläufig zu sein. 4 Feminine und maskuline Personenbezeichnungen in der aktuellen Nachrichtenpresse Die folgende Untersuchung soll die Entwicklung des Sprachgebrauchs von 2011 bis 2019 in Hinsicht auf die Verwendung der femininen Berufs- und Funktionsbe‐ zeichnungen exemplarisch nachzeichnen. Mit den bereits genannten vier (bzw. fünf) Lexemen professeure, écrivaine, directrice, chercheuse/ chercheure liegt das Au‐ genmerk auf Personenbezeichnungen, deren Gebrauch am Anfang der Debatte umstritten war und teils bis heute als Problem empfunden wird. Damit stehen zwar gerade solche Ausdrücke im Vordergrund, die bereits häufig Gegenstand von Untersuchungen und Darstellungen waren, doch erscheint der Umgang der Sprachgemeinschaft mit gerade diesen Wörtern aussagekräftig für den Stand der Dinge. 12 Im Folgenden stehen die Kurzformen profess*, écriv*, direct* und cherch* für alle möglichen Formen des jeweiligen Wortpaares (z. B. professeur(s)/ professeure(s)) oder der Gruppe (z. B. chercheure(s)/ chercheuse(s)/ chercheur(s)). 275 Nichtsexistische Sprache in Frankeich 13 Seit Anfang März 2021 ist auch Le Monde nicht mehr verfügbar. 4.1 Datenbasis Die Erhebung beruht auf der Auswertung von nationalen Tageszeitungen über die Datenbank Nexis ® bzw. Nexis Uni ® (cf. LexisNexis 2021), die über die Universitätsbibliothek Leipzig verfügbar ist. Herangezogen wurden jeweils alle in Nexis ® verfügbaren Ausgaben der ausgewählten Tageszeitungen vom 1. April bis zum 30. September aus den Jahren 2011, 2016 und 2019, sodass ein Vergleich von Datensätzen aus drei Erhebungszeiträumen in der jüngeren Vergangenheit möglich ist. Leider musste in der Erhebung für 2019 eine Modifikation der ausgewählten Tageszeitungen vorgenommen werden, weil Le Parisien und Au‐ jourd’hui en France zum Zeitpunkt der entsprechenden Auswertung Ende 2020 nicht mehr in Nexis ® zur Verfügung standen. 13 Sie wurden für die Untersuchung durch Libération ersetzt, die wiederum erst seit 2017 in Nexis ® enthalten ist. Hier zeigen sich deutlich die Vor- und Nachteile der Nutzung einer Datenbank wie Nexis ® im Vergleich zu einem festen und konstanten Korpus: Zwar sind große Mengen von Daten sehr leicht zugänglich, doch kann sich die Datenbank durch ihre Abhängigkeit von Lizenzvereinbarungen zwischen dem Unternehmen und den Verlagen schnell und ggf. unerwartet verändern. Die untenstehende Tabelle zeigt, welche Tageszeitungen der für diesen Beitrag durchgeführten Erhebung in den jeweiligen Zeiträumen zugrunde liegen (cf. Tab. 1). Die beiden Zeitungen Le Parisien und Aujourd’hui en France wurden aufgrund ihrer Komplementarität als Hauptstadt- und Regionalzeitung bei der Erhebung als ein Titel behandelt. Der mehrfache Einbezug von Artikeln, die in beiden Ausgaben vorkamen, wurde durch die in Nexis ® mögliche Duplikatanalyse weitestgehend ausgeschlossen. 2011 2016 2019 Le Parisien/ Aujourd’hui en France Le Monde Le Figaro L’Humanité Les Echos La Tribune Le Parisien/ Aujourd’hui en France Le Monde Le Figaro L’Humanité Les Echos La Tribune Libération Le Monde Le Figaro L’Humanité Les Echos La Tribune Tab. 1: Ausgewertete Tageszeitungen in den drei Erhebungszeiträumen 2011, 2016, 2019 Insgesamt sind damit auflagenstarke und beliebte nationale Tageszeitungen berücksichtigt worden, auch wenn zwischen einzelnen Zeitungen große Unter‐ schiede zu verzeichnen sind (cf. Tab. 2). Nach der Klassifikation Jean-Marie 276 Julia Burkhardt 14 Der Begriff diffusion payée beziffert die verkauften Exemplare. Er wird von der diffusion totale, also der Verbreitung insgesamt, unterschieden. Beides kann noch einmal nach der Verbreitung bzw. dem Verkauf im In- und Ausland differenziert werden (cf. ACPM 2020). 15 La Tribune erscheint seit einigen Jahren nur noch als numérique und ist nur per Abon‐ nement zugänglich. ACPM weist für sie keine Verbreitungszahlen aus. Die Webseite Latribune.fr verzeichnete 2019 ca. 59.500.000 Besuche (visites totales; cf. ACPM 2021). Charons ( 2 2005) gehören die meisten der presse d’information généraliste an, sind also allgemein informierend ausgerichtet. Les Echos und die Konkurrentin La Tribune sind besonders auf Wirtschafts- und Finanznachrichten fokussiert (presse spécialisée) und L’Humanité lässt sich mit Charon ( 2 2005, 36-37) als zur presse d’opinion zugehörig klassifizieren, als Zeitung also, die einer bestimmten Ideologie und/ oder Institution verpflichtet ist, in diesem Falle dem Parti Com‐ muniste Français (PCF). Quotidiens nationaux Diffusion payée 2016 14 Diffusion payée 2019 Le Figaro 305.701 325.938 Le Monde 269.584 323.565 Les Echos 127.389 130.059 L’Humanité 35.835 36.261 Le Parisien + Aujourd’hui en France 336.845 (283.232) Libération (73.331) 71.466 Tab. 2: Auswahl der nationalen Tageszeitungen und ihre Verbreitung (diffusion payée) im Inland in den Untersuchungszeiträumen 2016 und 2019 mit Ausnahme von La Tribune (cf. ACPM 2021) 15 Es wird davon ausgegangen, dass mit der Auswahl von Presseerzeugnissen im Allgemeinen und der nationalen Tageszeitungen im Besonderen der Untersu‐ chung ein Sprachausschnitt zugrunde liegt, der hinsichtlich des allgemeinen Sprachgebrauchs aussagekräftig ist. Auch wenn die französische Presse in den letzten Jahrzehnten in ihrer Bedeutung hinter andere Medien zurückgefallen ist, so wird sie doch von einem vielfältigen Publikum im Alltag wahrgenommen. Überdies steigen die Auflagenzahlen einzelner Titel in jüngster Zeit wieder (cf. Tab. 2). Weil sich die Sprache von Zeitungen an einem vielfältigen Publikum ausrichtet (cf. Burr 2004, 6), weil sie, wie Christina Huber (2007, 146) erläutert, 277 Nichtsexistische Sprache in Frankeich zwischen code écrit und code parlé lanciert und weil sie sprachliche Normen zugleich aufnimmt und ihrerseits beeinflusst (cf. Lüger 2 1995, 1), lassen sich daran Tendenzen des allgemeinen Sprachgebrauchs ablesen. 4.2 Datenerhebung und Auswertungsmethoden Die ausgewählten maskulinen und femininen Ausdrücke dienten bei der Er‐ hebung als Stichwörter für die Suche in Nexis ® . Die Suchmaschine ermittelt alle Texte innerhalb der Suchparameter (etwa Zeitraum und Medien), die das Stichwort mindestens einmal enthalten. Diese Texte bzw. die Textausschnitte, die die Stichwörter enthielten, wurden heruntergeladen und mit Hilfe des Analyseprogramms AntConc (cf. Anthony 2018) nach den einzelnen Formen quantitativ ausgewertet. Ein zusätzlicher Selektionsprozess war bei der Analyse von direct* notwendig, da die möglichen Wortformen nicht nur substantivisch (le directeur, une directrice), sondern auch adjektivisch (plan directeur, idée direc‐ trice) gebraucht werden können. Bereits im Rahmen des Dissertationsprojekts war hierzu eine Stichprobe genauer daraufhin untersucht worden, in welchen Kontexten die Adjektive directeur/ directrice erschienen. Demnach erschöpfte sich der Gebrauch in den Zeitungen (und Magazinen) weitestgehend in einer überschaubaren Gruppe von Kollokationen, nämlich idée und ligne directrice sowie comité, schéma, fil, bureau und selten plan directeur sowie ggf. deren Plu‐ ralformen. Später wurde darüber hinaus der Ausdruck taux directeur beobachtet und einbezogen. Diese Kollokationen wurden systematisch gesucht und aus den Ergebnissen herausgerechnet. Das Ergebnis dieser Auszählung beziffert die Häufigkeit der gewählten Ausdrücke in den verfügbaren Texten der Zeitungen in den festgelegten Zeiträumen der Jahre 2011, 2016 und 2019. Diese Studie zeigt also nicht, wie hoch der Anteil femininer oder maskuliner Bezeichnungen an der Benennung der Frauen ist, sondern sie gibt das Verhältnis zwischen den vorkommenden maskulinen und femininen Nomina wieder. Es wird sich zeigen, dass die erhobenen Daten nicht nur die Entwicklungen des Sprachge‐ brauchs darstellen, sondern auch gesellschaftliche Geschlechterverhältnisse, insofern die stark auseinanderfallenden Anteile femininer und maskuliner Personenbezeichnungen in den Zeitungen zumindest tendenziell auf den sehr unterschiedlichen Anteil von Männern und Frauen an nachrichtenwürdigen Positionen und Ereignissen hinweisen. Gleichzeitig kann anhand der Erhe‐ bung allein nicht genau abgelesen werden, inwieweit der jeweilige Anteil der femininen Personenbezeichnungen Effekt sprachlicher Entscheidungen oder Effekt dieser gesellschaftlichen Verhältnisse ist: Ob also etwa ein geringer Anteil des Femininums écrivaine an allen Vorkommen von écriv* im Vergleich 278 Julia Burkhardt zu écrivain tatsächlich auf sprachliche Faktoren zurückgeht oder darauf, dass weniger über Schriftstellerinnen berichtet wird oder es weniger von ihnen gibt, kann anhand der Zahlen nicht abschließend beurteilt werden. Um einschätzen zu können, welche Rolle sprachliche Faktoren spielen, sind flankierende Analysen notwendig (s. u.). 4.3 Daten und Ergebnisse Insgesamt wurden im Erhebungszeitraum 2011 48.267, im Jahr 2016 43.076 und im Jahr 2019 25.443 Wortformen erhoben. Davon sind 2011 90,37 % maskulin und 9,63 % feminin. Im Jahr 2016 erhöht sich der Anteil der femininen Formen auf 13,06 % und 2019 auf 19,02 % (cf. Abb. 1). Abb. 1: Verhältnis maskuliner und femininer Ausdrücke 2011, 2016 und 2019 in % Es ist also eine deutliche Verschiebung im Verhältnis zwischen den mas‐ kulinen und den femininen Ausdrücken zu sehen, denn der Anteil der Feminina nimmt um ca. 10 Prozentpunkte zu. Um einschätzen zu können, ob diese Unterschiede zwischen den Datenreihen signifikant, also weder auf den Zufall noch auf Faktoren wie die Korpusgröße zurückzuführen sind, und ob ein Zusammenhang zum zeitlichen Abstand zwischen den Daten‐ reihen unterstellt werden kann, wurden sie anhand des Chi-Quadrat-Tests überprüft. Dabei lautet die Nullhypothese H 0 : Zeitpunkt der Erhebung und Verhältnis zwischen Maskulina und Feminina sind unabhängig voneinander. Die Hypothese H 1 lautet: Zeitpunkt der Erhebung und Verhältnis zwischen Maskulina und Feminina sind nicht unabhängig voneinander. Es wird eine Irrtumswahrscheinlich von 5 % akzeptiert (α=0,05). Der Chi-Quadrat-Test ergibt einen Wert von χ 2 =1.302,85 (df=2) und wird damit auf einem weit höheren Niveau (p<0,001) signifikant als erwartet. Die Nullhypothese wird 279 Nichtsexistische Sprache in Frankeich 16 Die statistischen Tests basieren auf den entsprechenden Ausführungen von Albert/ Marx (2010) sowie Hemmerich (2011-2020a; 2011-2020b) und dem Chi-Quadrat- Rechner von Sklorz (s. a.). damit zurückgewiesen: Zeitraum der Erhebung und Ergebnis sind mit großer Wahrscheinlichkeit nicht unabhängig voneinander. Berechnet man zur Ein‐ ordnung des Ergebnisses zusätzlich die Effektstärke für den Zusammenhang, so ergibt sich ein Wert von Cramer’s V=0,11, der zwar einen kleinen, aber doch einen Zusammenhang belegt. 16 Besonders deutlich werden Unterschiede beim Gebrauch maskuliner und femininer Ausdrücke, wenn man nach den Numeri differenziert und die vier Genus-Numerus-Kategorien betrachtet (cf. Abb. 2): Demnach machen Perso‐ nenbezeichnungen im Maskulinum Singular 2011 fast 80 %, im Maskulinum Plural knapp 11 %, im Femininum Singular 9,5 % aller erhobenen Bezeichnungen aus. Die femininen Pluralformen professeures, écrivaines, chercheuses und direc‐ trices kommen hingegen so gut wie gar nicht vor. Daran ändert sich auch im Laufe der Zeit nichts, denn während der Anteil der Feminina im Singular von 2011 bis 2019 kontinuierlich auf letztlich 18,97 % ansteigt, bleibt der Anteil der Pluralformen im Femininum auf extrem niedrigem Niveau. Wann immer also von mehreren Personen oder Gruppen von Personen die Rede ist, wird auf die maskulinen Pluralformen zurückgegriffen. Abb. 2: Anteil der Genus-Numerus-Kategorien Maskulinum bzw. Femininum Singular, Maskulinum bzw. Femininum Plural 2011, 2016 und 2019 in % Deutliche Unterschiede zeigen sich überdies, wie aufgrund bisheriger For‐ schungsergebnisse zu erwarten war, zwischen den einzelnen Ausdrücken. 280 Julia Burkhardt Abb. 3: Verhältnis von écrivain(s) und écrivaine(s) 2011, 2016 und 2019 in % So wird etwa écrivaine(s) im Erhebungszeitraum 2011 noch extrem wenig gebraucht, der Anteil der Singularform liegt bei 3,65 %, der Anteil der Pluralform ist mit 0,08 % kaum der Rede wert. Der Gebrauch des Singulars écrivaine steigt bis 2016 geringfügig (4,4 %), bis 2019 allerdings deutlich an (13,56 %; cf. Abb. 3). Der Unterschied zwischen den drei Datenreihen für écriv* ist statistisch hoch signifikant (χ 2 =379,69, df=2) bei einer Effektstärke von Cramer’s V=0,16. Abb. 4: Verhältnis von professeure(s) und professeur(s) 2011, 2016 und 2019 in % Eine ähnliche Entwicklung zeigt professeure (cf. Abb. 4): Auch dieses Femininum macht 2011 nur 3,28 % aller Vorkommen von profess* aus, 2019 sind es jedoch 13,97 %. Der Unterschied ist hoch signifikant (χ 2 =451,38, df=2) bei einer Effekt‐ stärke von Cramer’s V=0,17. Deutlich zeigt sich die Dominanz des Maskulinums im Plural: Denn obwohl profess* im Vergleich zu écriv* und direct* relativ oft im Plural gebraucht wird, kann die Form professeures nicht davon profitieren. 281 Nichtsexistische Sprache in Frankeich Forscherinnen und Forscher kommen in Zeitungstexten offenbar ebenfalls häufig als Gruppe(n) vor: Singular und Pluralformen von cherch* stehen insge‐ samt betrachtet nahezu im Verhältnis 1: 1 (cf. Abb. 5). Aber auch hier dominiert die maskuline Form. Der Anteil des femininen Singulars ist bereits 2011 deutlich höher als bei professeure und écrivaine und steigert sich 2019 sogar auf über 21,87 %. Allerdings steigt 2019 in ähnlichem Maße auch der Anteil der Maskulina im Singular, sodass insgesamt der Singular zuungunsten der Pluralformen zulegt. Die Unterschiede zwischen den Datenreihen sind auf jeden Fall hoch signifikant (χ 2 =270,92, df=2) bei einer Effektstärke von Cramer’s V=0,16. Das mögliche Femininum chercheure, das vom Guide d’aide als belegte Alternative erwähnt wird, kann sich trotz der Analogie zu anderen Ausdrücken auf -eure im selben semantischen Umfeld (z. B. professeure) nicht durchsetzen: 2011 finden sich keine, 2016 insgesamt acht und 2019 nur vier Belege. Abb. 5: Verhältnis von chercheur(s) und chercheuse(s)/ chercheure(s) 2011, 2016 und 2019 in % Das Femininum directrice ist bereits 2011 mit einem Anteil von fast 12 % das am meisten gebrauchte von den hier ausgewählten femininen Wörtern. Sein Anteil steigt bis 2019 auf über 20 % aller Fälle, in denen eine Person in entsprechender Position genannt wird (cf. Abb. 6). Die Steigerung ist damit allerdings geringer als bei den anderen Wörtern: Während sich der Anteil von chercheuse von 2011 bis 2019 mehr als verdoppelt und sich derjenige von écrivaine und professeure verdreifacht bzw. vervierfacht, steigt der von directrice nur um 75 %. Der Unterschied zwischen den Datenreihen wird dennoch signifikant (χ 2 = 710,53, df=2), die Effektstärke ist mit Cramer’s V=0,1 etwas geringer. 282 Julia Burkhardt Abb. 6: Verhältnis von directrice(s) und directeur(s) 2011, 2016 und 2019 in % Bei directrice zeigt sich damit besonders deutlich, dass die außersprachlichen den sprachlichen Geschlechterverhältnissen Grenzen setzen: Fujimura konnte be‐ legen, und die Daten der hier vorgelegten Studie legen dies ebenfalls nahe (s. u.), dass mittlerweile vergleichsweise konsequent auf den femininen Ausdruck directrice zurückgegriffen wird, wenn von einer Frau in der entsprechenden Funktion die Rede ist. Gleichzeitig scheint jedoch die Anzahl der Frauen, die eine solche bekleiden und für nachrichtenwürdig gehalten werden, weit hinter derjenigen ihrer männlichen Kollegen zurückzubleiben, auch wenn ihre Anzahl in den Jahren 2011-2019 gestiegen ist. Welche Rolle sprachliche und außersprachliche Faktoren spielen und inwie‐ weit sich die Ausdrücke hierin unterscheiden, lässt sich abschätzen, wenn man zusätzlich untersucht, ob und in welchem Maße diese Ausdrücke zur Referenz auf Frauen verwendet werden. Das soll hier exemplarisch anhand von professeur und directeur gezeigt werden. Für diese Analyse wurden aus Stichproben im Korpus mögliche Kollokationen abgeleitet, in denen den Nomina durch den Kotext feminines Genus zugewiesen wird. Diese Kollokationen wurden systematisch in allen drei Zeiträumen erhoben. Auch wenn die Ergebnisse den Gebrauch der Nomina in Referenz auf weibliche Personen nur annäherungs‐ weise abbilden können, vor allem, weil Maskulina in Appositionen nicht erfasst werden (z. B. Marie, 49 ans, professeur de stratégie publicitaire), der zumindest bei professeur eine gewisse Rolle spielt, zeigen sie deutliche Tendenzen (cf. Tab. 3). 283 Nichtsexistische Sprache in Frankeich X = professeur X = directeur 2011 2016 2019 2011 2016 2019 la/ une/ cette X 83 78 17 0 0 0 ancienne/ nouvelle/ jolie X 16 18 5 0 0 0 elle *(*) X (z. B. elle est/ est nommée X) 7 7 5 56 6 1 femme (*) X 9 5 0 2 1 1 une/ la/ cette jeune X 3 6 1 0 0 0 118 114 28 58 7 2 Tab. 3: Kollokationen mit professeur und directeur mit weiblicher Referenz in den Tageszeitungen So finden sich im Zusammenhang mit professeur in den Erhebungszeiträumen 2011 und 2016 nicht wenige Belege dafür, dass der Ausdruck mit femininen Determinierern auch zur Referenz auf Frauen gebraucht wird. Der Anteil dieser Verwendungen an allen Vorkommen von professeur liegt jeweils bei ca. 2 %. Angesichts der Tatsache, dass la professeur laut Guide d’aide eine offiziell mög‐ liche Variante darstellt, erscheint das wenig. Im Erhebungszeitraum 2019 geht dieser Gebrauch noch einmal stark zurück. Eine unsystematische Durchsicht des Korpus lässt erkennen, dass dies auch für die Verwendung von professeur in Apposition zu weiblichen Namen gilt. Das Maskulinum directeur wurde schon 2011 kaum mehr als Bezeichnung für Frauen genutzt und seine Kombination mit einem femininen Determinierer scheint, anders als bei professeur, schon immer ungebräuchlich gewesen zu sein. Man findet es ausschließlich in prädikativer Funktion wie in elle fut directeur de oder elle est devenue directeur financier und sehr selten mit femme, z. B. in femme directeur oder première femme CTO (directeur des technologies). Schließlich lassen sich klare Diskrepanzen zwischen den einzelnen Zeitungen nachvollziehen, die mit großer Wahrscheinlichkeit mit deren Selbstverständnis als gesellschaftspolitisch eher konservativ oder eher links ausgerichtete Blätter korrespondiert. Die folgenden Abbildungen zeigen das am Beispiel der beson‐ ders umstrittenen femininen Ausdrücke écrivaine und professeure einerseits und der drei Zeitungen Le Figaro, L’Humanité und Les Echos andererseits (cf. Abb. 7 und 8): Es ist deutlich, dass der konservative Figaro die Verwendung beider 284 Julia Burkhardt femininer Formen bis in die jüngste Zeit vermeidet, während die linke Zeitung L’Humanité bereits 2011 vergleichsweise hohe Anteile von professeure und écrivaine aufweist und diese bis 2019 noch einmal erheblich und kontinuierlich steigert. Abb. 7: Anteil von écrivaine an allen Vorkommen von écriv* in ausgewählten Zeitungen 2011-2019 in % Die Wirtschaftszeitung Les Echos bleibt 2011 und 2016 noch sehr zurückhaltend, was den Gebrauch der beiden femininen Nomina angeht, steigert ihn 2019 jedoch überdurchschnittlich stark und nähert sich so eher der progressiven L’Humanité als dem konservativen Figaro an. Abb. 8: Anteil von professeure an allen Vorkommen von profess* in ausgewählten Zeitungen 2011-2019 in % 4.4 Auswertung Das Verhältnis zwischen den untersuchten femininen und maskulinen Berufsbe‐ zeichnungen hat sich nach den hier vorgelegten Daten zwischen 2011 und 2019 285 Nichtsexistische Sprache in Frankeich sehr deutlich verschoben. Der Anteil femininer Wörter ist insgesamt betrachtet um ca. 10 % gestiegen. Zwar kann hier nicht ausgeschlossen werden, dass diese Steigerung zumindest auch auf die zunehmende Repräsentation von Frauen in Medien zurückzuführen ist; doch konnte durch Tiefenanalysen deutlich gezeigt werden, dass die Verwendung der maskulinen Formen zur Referenz auf Frauen in den Zeitungen im selben Zeitraum zurückgegangen ist. Deshalb kann die Tendenz, die sich seit der Jahrtausendwende abgezeichnet hat, auf der Basis dieser Erhebung bestätigt werden: Feminine Berufsbezeichnungen werden - zunächst einmal unabhängig von ihrer Form, der bezeichneten Tätigkeit und der Sprechendengruppe - immer häufiger verwendet. Dabei haben sich zum Teil deutliche Unterschiede zwischen den Wörtern gezeigt: Wie schon in der Studie von Fujimura (2005) erreicht der Ausdruck directrice bereits 2011 hohe Werte und wird auch im Jahr 2019 am häufigsten im Vergleich zu den anderen Feminina gebraucht. Das hat zum einen mit dem traditionell akzeptierten Wortbildungsmuster und zum anderen damit zu tun, dass das Wort häufig eine Leitungstätigkeit im administrativen und organisatorischen Bereich von Politik und Wirtschaft, seltener Bildung und Medien bezeichnet, in dem sich feminine Berufs- und Funktionsbezeichnungen (wie z. B. auch la présidente, la ministre, la députée) seit der Jahrtausendwende schnell durchgesetzt haben. Anders die Ausdrücke professeure und écrivaine, die von Anfang an aus ganz un‐ terschiedlichen Gründen problematisiert worden sind. Der Gebrauch dieser Be‐ zeichnungen für Tätigkeiten im intellektuellen Bereich, deren Bildungsmuster wie insbesondere im Falle von professeure umstritten sind, steigt zwar merklich an, doch erreichen diese Feminina längst nicht so hohe Anteile wie etwa directrice. Trotzdem kann die Tendenz, die sich in der Studie von Ossenkop (2013) angedeutet hatte, zu Beginn der 2020er Jahre klar bestätigt werden: Auch Feminina mit -eure finden zunehmend Verwendung. Gleichzeitig ist die Scheu, formal maskuline Wörter wie professeur mit femininen Determinierern zu verwenden (la professeur), offenbar gewachsen, obwohl das durchaus den ‚offiziellen‘ Empfehlungen entspräche. Das Sozialprestige der bezeichneten Tätigkeiten, das bei directrice, professeure oder écrivaine gleichermaßen eine Rolle spielen könnte, ist augenscheinlich nicht (mehr) der ausschlaggebende Faktor, ob ein Femininum verwendet wird oder nicht. Eine unerwartete Entwicklung hat chercheuse genommen: Für die Bezeich‐ nung aus dem Bereich Bildung und Wissenschaft wäre eine verhaltene Ent‐ wicklung zu erwarten gewesen. Tatsächlich bleibt der Ausdruck 2016 noch weit hinter directrice zurück. Bis 2019 steigt der Anteil der Feminina an allen Bezeichnungen von Forscher_innen in den Zeitungen erheblich. Dies kann ver‐ mutlich einerseits auf das traditionell akzeptierte Bildungsmuster zurückgeführt 286 Julia Burkhardt werden, andererseits auf das wissenschaftliche Milieu selbst, das zumindest in Teilen stark an der Auseinandersetzung um Geschlechterverhältnisse und auch um nichtsexistische Sprache beteiligt ist. Die Bildung chercheure kann sich hingegen nicht durchsetzen. Ebenfalls bestätigt hat sich die Erkenntnis, dass u. a. politische Einstellungen auf die Verwendung femininer Personenbezeichnungen Einfluss nehmen, was eindrücklich am Beispiel der eklatanten Unterschiede zwischen Le Figaro und L’Humanité belegt werden konnte. Angesichts der deutlichen Diskrepanz er‐ scheint dieser Faktor sogar viel stärker als bisher angenommen. Ein überaus einflussreicher Faktor ist schließlich nach wie vor die Referenz, wie bereits Fujimura (2005) herausgearbeitet hatte. Die deutliche Dominanz der maskulinen Formen, vor allem im Plural, weist auch auf die starke Rolle des geschlechtsüber‐ greifend intendierten Maskulinums in den Zeitungstexten hin. Insbesondere, dass die Pluralformen im Femininum fast gar nicht gebraucht werden, ist ein Hinweis darauf, dass feminine Ausdrücke ausschließlich dann verwendet werden, wenn eine konkrete, einzelne Frau zu identifizieren ist. In allen anderen Fällen, etwa bei der Bezeichnung von Gruppen, wenn sie nicht explizit nur aus Frauen bestehen, oder bei unspezifischer Referenz auf Funktionen, steht prin‐ zipiell das Maskulinum. Alternative Formen, etwa verkürzte Schreibweisen wie directeur(trice), kommen in der Tagespresse nur vereinzelt vor. Die Zeitungen entsprechen damit im Wesentlichen den Empfehlungen des Guide d’aide von 1999. 5 Zusammenfassung und Ausblick Die sog. ‚Feminisierung‘ der Berufs-, Amts- und Funktionsbezeichnungen setzt sich im französischen Sprachgebrauch seit der Jahrtausendwende zumindest bei der Referenz auf konkrete weibliche Individuen durch. Auch ehemals umstrittene Bildungen erweisen sich spätestens im Erhebungszeitraum 2019 als regelmäßig in alltäglich verfügbaren Medien auffindbar. Nach Jahrzehnten der Verweigerung hat sich selbst die Académie française wenigstens teilweise zu dieser Entwicklung des Sprachgebrauchs bekannt. Frankreich hat in den 1990er Jahren lebhafte Auseinandersetzungen um die Gleichstellung der Geschlechter geführt und diese in den Gesetzen zur politischen und gesellschaftlichen parité festgeschrieben. Diese im Vergleich zu den 1980er und 1990er Jahren veränderten gesellschaftlichen Bedingungen, die in vielen Bereichen tatsäch‐ lich zu annähernd ausgeglichenen Geschlechterverhältnissen geführt haben, haben vermutlich auch diese sprachliche Entwicklung befördert. Freilich ändert das nichts daran, dass die Perspektive auf eine nichtsexistische Verwendung 287 Nichtsexistische Sprache in Frankeich der Sprache stark eingeschränkt bleibt, wenn ausschließlich Personen- und dabei vor allem die Berufsbezeichnungen fokussiert werden. Längst ist die Debatte darum weitergegangen: Linguist_innen kritisieren, dass die Diskus‐ sion in Frankreich sowohl die Auseinandersetzung mit der Problematik des geschlechtsübergreifend intendierten Maskulinums als auch die Entwicklung eines nichtsexistischen Sprachgebrauchs, der über das Einzelwort (féminisation lexicale) hinausgeht und eine rédaction non sexiste des textes anstrebt, weitest‐ gehend ausklammert (cf. z. B. Baider/ Khaznadar/ Moreau 2007, 10; Elmiger 2013, 117-118). Unterdessen diskutieren Linguist_innen und Aktivist_innen Vorschläge, die viel weiter gehen, angefangen bei unterschiedlichsten Formen verkürzter Schreibweisen (cf. Abbou 2013) über genus- und geschlechtsüber‐ greifende Suffixe an Adjektiven (cf. Labrosse 1996) bis hin zu neuen Pronomen (cf. Greco 2013). Ziel ist dabei nicht mehr die ‚Feminisierung‘ des Französischen, sondern eine Sprache, die, wie Ossenkop (2020, 40-41) beobachtet, seit 2017 vermehrt als ‚inklusiv‘ bezeichnet wird (français/ langage inclusif, écriture/ rédac‐ tion inclusive). Mit dem Guide pratique liegt sogar vonseiten der französischen Politik ein Ansatz vor, der über die féminisation lexicale hinausgehen soll. Die Resonanz ist noch gering, was angesichts der zögerlichen Entwicklung schon im Zusammenhang mit den femininen Ausdrücken und angesichts der verbreiteten restriktiven Auffassung von ‚guter Sprache‘ kaum verwundert. Klar ist, dass es auch für die französische Sprachgemeinschaft kein Zurück hinter die Debatte gibt, das zeigen die Entwicklungen; auch wenn bislang strittig ist, was nichtsexistischer Sprachgebrauch ist oder sein kann. Zwischen gesellschaftspolitischen Veränderungen und sprachlichen Bedürfnissen bleibt er voraussichtlich vorerst ein Experimentierfeld, auf dem unterschiedliche Normen im Konflikt stehen. Bibliographie Abbou, Julie (2013): „Pratiques graphiques du genre“, in: Langues et cité 24, 4-5. ACPM (2021) = L’Alliance pour les chiffres de la presse et des médias (2021): Classement diffusion presse quotidienne nationale 2021, https: / / www.acpm.fr/ site/ Les-chiffres/ Dif fusion-Presse/ Presse-Payante/ Presse-Quotidienne-Nationale (06.05.2022). 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Abstract This article focuses on the use of the word doctoresse and its functional ‚neighbours‘ in French newspapers between 1870 and 1930. This period covers the professional career of the first practising female medical doctor in France, Madeleine Brès (1842-1921), whose work is mentioned and commented on frequently in the French daily press, using a wide range of expressions with even opposite connotations. It is argued on the example of doctoresse, that a mainly negative or derogatory meaning at the beginning, can be to some extent neutralized, due to linguistic, normative and political changes on the one hand, and a partially affirmative journalistic use on the other hand. Keywords: Berufsbezeichnungen, Französisch, Pressesprache, historische Linguistik, Sprachbewertung 1 Die Titelzeile stammt aus einem Leserbrief vom 14.10.1900 in der Zeitung La Fronde zum Thema femininer Alternativen zu docteur (zitiert nach - im Folgenden: z. n. - BNF 2016), cf. dazu auch Kap. 3. 2 Laut Dictionnaire suisse romand (1997) ist doctoresse in der Suisse romande verankert: „Quoi qu’il en soit de l’usage en France, doctoresse est resté jusqu’à nos jours courant et neutre en Suisse romande (ainsi qu’en Belgique, selon une comm. pers. de Michel Francard, 15 août 1997). On le relève entre autres sur les enseignes des cabinets de certaines femmes médecins, ce qui montre qu’il n’est pas limité à la langue parlée ou familière“ (Dictionnaire suisse romand 1997, 334b). 1 Einleitung In diesem Beitrag geht es um Berufsbezeichnungen in der französischen Pressesprache in der 2. Hälfte des 19. Jh. und zu Beginn des 20. Jh. für die Bedeutung ‘Ärztin’ bzw. ‘promovierte Frau’. 1 Ausgehend von einem Fallbei‐ spiel werden die neben den konventionalisierten Formen docteur und médecin existierenden Formen doctoresse, femme-médecin und damit konzeptuell oder lexikalisch verbundene weitere, auch weniger bekannte oder okkasionelle Bildungen, in den Blick genommen, wobei die Formen semantisch teilweise über den Bereich ‚Medizin‘ hinausweisen. Nach einer kurzen Standortbestimmung zu den Bereichen ‚Konnotation‘ und ‚Pressesprache‘ folgt ein lexikologischer Überblick über die Form doctoresse, die damit verbundenen Konnotationen und lexikographischen Angaben seit dem 19. Jh. sowie eine punktuelle Darstellung zu médecin. Anhand der Pres‐ sedarstellungen zu Madeleine Brès (1842-1921), der ersten in Frankreich im 19. Jh. zugelassenen und als Ärztin praktizierenden Französin, geht es darum, inwiefern sich bestimmte kollokative Tendenzen, Verwendungskontexte oder sogar Habitualisierungen femininer Formen und ihrer Bewertungen in den zeitgenössischen Pressetexten erkennen lassen. Einen besonderen Raum nimmt dabei die Form doctoresse ein, die bis heute einerseits (mit regionalen Unter‐ schieden) 2 in der Frankophonie in Gebrauch ist, andererseits von normierenden Instanzen konstant negativ bewertet wird. Die Habitualisierung eines Wortes müsste sich an dessen beständig anstei‐ gender Gebrauchsfrequenz in einem Korpus erkennen lassen. Was das hier verwendete Pressekorpus RetroNews (eine von der Bibliothèque nationale de France - im Folgenden: BNF - zur Verfügung gestellte Datenbank mit mehr als 1.000 archivierten Pressetiteln von 1631-1950) betrifft, kann man die Frequenz von einzelnen Wörtern darin zwar ermitteln, jedoch ist eine streng quantitativ belastbare Aussage nicht möglich (cf. BNF 2016). Automatische Suchergebnisse in diesem Korpus sind aufgrund häufiger Druckfehler und typographischer Mängel der gescannten Pressetexte grundsätzlich ungenau, auch die Zeichener‐ 294 Georgia Veldre-Gerner 3 Hervorhebungen in den Belegen entsprechen dem Original, sofern nicht explizit erwähnt. kennung der Suchalgorithmen im RetroNews-Korpus ist begrenzt. Dazu kommt, dass es viele identische Meldungen in verschiedenen Zeitungen an einem Tag gibt. Auch die Aussonderung von Belegen in abgedruckten Fortsetzungsro‐ manen bereitet methodische Probleme. Wesentlich für das Verständnis dieses Beitrags ist das immanente Prinzip, für Bewertungen von Texten oder sprachlichen Ausdrücken - soweit möglich - eine historische Sicht einzunehmen. Das bedeutet praktisch, dass Aussagen der v. a. männlichen Schreiber in der untersuchten Periode von ca. 1870-1930 über die zu dem Zeitpunkt mehrheitlich gegebene gesellschaftliche Rolle und Situation von Frauen nicht a priori als ‚negativ‘ oder ‚reaktionär‘ eingeordnet werden können, was einer Projektion heutiger sozialer Bewertungsstandards in die Vergangenheit entspräche. Es ist also im Sinne einer strikt deskriptiven linguistischen Analysehaltung zu vermeiden, etwas ggf. ‚Gemeintes‘ aus aktu‐ eller Sicht zu bewerten. Wesentlich ist daher der konkrete sprachliche Kontext eines Ausdrucks, der eine neutrale, positive oder negative Darstellung eines Sachverhalts herstellt, die im Idealfall klar hervortritt. Grundsätzlich können Konnotationen von Ausdrücken kontextabhängig durch eine ironische oder po‐ lemische Grundaussage verändert werden, so wie ‚neutrale‘ Ausdrücke ebenso kontextabhängig Teil einer bewertenden Aussage sein können (zu Ironie und Pressesprache cf. Siminiciuc 2015). Dies zeigt anschaulich das folgende Beispiel, das aus einem Artikel von 1885 unter der Überschrift „Madame le Docteur“ über zu der Zeit praktizierende Ärztinnen stammt: (1) Il s’agit des femmes-médecins, des doctoresses pour de bon, de celles qui soi‐ gnent et guérissent…, quant à l’imitation de leurs confrères du genre masculin, elles ne tuent pas. […] Combien, pensez-vous qu’il y ait actuellement, à Paris, de jeunes dames dûment autorisées à jouer du bistouri dans les furoncles de notre génération au sang vicié […] nous ne jouissons encore que de huit docteursdames. […] Sept de ces médecines pratiquantes sont d’origine française […]. 3 (La Lanterne 06.11.1885, 2; z. n. BNF 2016) Mit ‚Konnotation‘ als Arbeitsbegriff soll hier das semantische Wissen um‐ schrieben werden, das Sprecher über die Gebrauchskontexte eines Lexems haben, die sich nicht aus der ‚Denotation‘, also dem begrifflich-referentiellen Kern ergeben (sofern beide Ebenen überhaupt gegenseitig abgrenzbar sind). Bei Konkreta ist die Konnotation zweifellos leichter von ‚begrifflichem Kern‘ abgrenzbar als bei Abstrakta, ggf. lässt sich keine Grenze ziehen (cf. z. B. Stati 295 „Doctrice, Docteuse… que m’importe! “ 4 Folgende Schlagzeile findet sich in der Ausgabe der Le Monde vom 18.03.2021: „Confi‐ nement et couvre-feu: ‚Ces mesures de type moyenâgeux devraient être totalement bannies de notre ordre juridique‘“ (Cassia 2021). 5 Der Ausdruck jupon/ jupons bzw. en jupons findet sich laut Grand Robert (2017, s. v. jupon) in Texten des 19. Jh. mit der neutralen Bedeutung ‘auf Frauen bezogen’. 1978, 115; Blank 2001, 30; zu ‚Konnotation‘ und ‚Weltwissen‘ cf. auch Blank 1997, 72-79). Diese Gebrauchskontexte haben letztlich mit emotiven Faktoren (Abwertung, Aufwertung usw.) zu tun und können auch morphologisch durch Analogien ausgelöst werden (etwa durch ein bestimmtes Suffix). Gleichzeitig können emotive Faktoren auch die Denotation bestimmen und damit stabiler Teil der Bedeutung werden, wie im Fall der Bezeichnung bas-bleu, die erst im Laufe des 19. Jh. eine abwertende Bedeutung bekam, welche daraufhin eine weitere neutrale Verwendung u. a. im Französischen ausschloss. Die Konnota‐ tion ist nicht statisch, da jederzeit durch Mechanismen der Abschwächung, Verstärkung oder Ironisierung veränderbar. Konnotationen von Neologismen oder neuen Bedeutungen eines Wortes sind vermutlich zunächst instabil (cf. etwa couvre-feu im pandemischen Kontext ab 2020). 4 Wie die folgenden Beispiele aus RetroNews anschaulich belegen, kann selbst ein expressiver Ausdruck wie docteur en jupon(s) in völlig konträren Kontexten erscheinen: 5 (2) […] et toutes mes lectrices qui auraient l’occasion de contrôler mes dires me sauront gré de leur avoir raconté l’odyssée de notre courageux docteur en jupon. (L’Écho saintongeais 10.04.1879, 5; z. n. BNF 2016) (3) Un docteur en jupon, Louise Delage, âgée de trente-sept ans, vient de com‐ paraître devant le tribunal correctionnel de Limoges, sous les inculpations d’exercice illégal de la médecine, de vagabondage et d’escroquerie. (Le Radical 23.10.1883, 3; z. n. BNF 2016) (4) Un docteur en jupons. Paris compte depuis mardi un docteur en médecine de plus […]. (Mémorial de la Loire et de la Haute-Loire 18.11.1881, 3; z. n. BNF 2016) Die Beispiele zeigen deutlich, welchen Anteil der unmittelbare sprachliche Kontext und die Aussageintention an der Ad-hoc-Bedeutung eines Ausdrucks zu einem konkreten historischen Zeitpunkt haben. Ausdrücke können in Bezug auf neue Sachverhalte oder Referenten in der Presse in innovativen Kontexten erscheinen, wenn Bezeichnungskonventionen durch eine neue Realität in Be‐ wegung geraten. Dies trifft in der 2. Hälfte des 19. Jh. in besonderem Maße auf die Form doctoresse zu. 296 Georgia Veldre-Gerner 2 Zur Spezifik von Pressetexten Pressetexte sind hinsichtlich ihrer sprachlichen und inhaltlichen Merkmale sehr heterogen. Sie sind oft sprachlich innovativ, da v. a. in Zeitungen auf neue Sachverhalte direkt reagiert werden muss, gleichzeitig sind sie stilistisch an einer bestimmten Lesererwartung orientiert. Kennzeichnend für die Pressesprache und generell die Mediensprache ist außerdem die Verbindung verschiedener Textfunktionen, wobei die Informationsfunktion zwar als die historisch erste und zentrale gilt, aber je nach Textgenre und Publikationstyp v. a. seit dem Ende des 18. Jh. gegenüber anderen Funktionen wie der Meinungsfunktion zurücktritt bzw. sich zunehmend mit diesen vermischt (cf. Burger 2008, 622; zu den generellen Funktionen der Presse cf. Cayrol 1991, 20; zu weiteren Funktionen auch Lüger 2 1995). Für die französische Presse gilt, dass vor allem im letzten Drittel des 19. Jh., also im hier betrachteten Zeitraum, eine Professionalisierung und ein genereller Aufschwung mit einer großen Zahl neuer Zeitungen stattfanden (cf. Jurt 2013, 277-278; zur französischen Presse im 19. Jh. cf. auch Livois 1965, 272-318). Grosse (2001) stellt einen chronologischen Vorsprung der frz. Presse gegenüber der dt. und ital. Presse hinsichtlich der Herausbildung neuer Textsorten im Kontext der „genres d’opinion“ (Grosse 2001, 24) fest, wobei als beschleunigende Faktoren die frühe politische Zentralisierung und die Französische Revolution genannt werden (cf. Grosse 2001, 24-25). Der Anteil meinungsbetonter Textsorten steigt also auf Kosten der rein informativen ‚Nachricht‘ an, hinzu kommen zahlreiche neue Pressetitel und -genres ab dem 19. Jh. (zu den einzelnen genres im europäischen Vergleich cf. Grosse 2001, 20-36). Auch für die hier behandelte Thematik gilt: Derselbe Sachverhalt wird zum einen in vielen Zeitungen wortgleich reproduziert, zum anderen in unterschied‐ lichen Kontexten journalistisch dargestellt und politisch oder feuilletonistisch kommentiert. Die Verwendung oder Meidung bestimmter sprachlicher Formen im Zusammenhang mit Titeln, Berufs- oder Funktionsbezeichnungen war also, wie auch heute, Teil des Profils einer Zeitung oder Zeitschrift. In die vorliegende Darstellung werden alle in den Pressetexten auftretenden journalistischen Textsorten, inkl. Anzeigen und faits divers, einbezogen, wäh‐ rend Belege in Fortsetzungsromanen nicht betrachtet werden. 3 Wortgeschichte doctoresse Da die Form doctoresse in der Pressedarstellung zu M. Brès und anderen Pionie‐ rinnen im akademischen Bereich eine große Rolle spielt, wird hier zunächst die Geschichte des Wortes einschließlich der lexikographischen Darstellung 297 „Doctrice, Docteuse… que m’importe! “ 6 Gazette Nationale ou le Moniteur Universel. 7 Journal des débats politiques et littéraires. 8 Daher ist eine calque-Situation denkbar, in der die laut Oxford English Dictionary (2020) im 19. Jh. im Englischen gängige Bezeichnung doctress/ doctoress für ‘Ärztin’ hier als Fremdwort fungiert (cf. OED 2021, s. v. doctress/ doctoress). beleuchtet. Die zentrale Frage ist, wie die Lexikalisierung des Wortes verläuft und welche Rolle dabei die Pressesprache spielt. Die Bedeutung von doctoresse enthält zunächst in einem binären Verständnis gegenüber docteur das Merkmal ‚weiblich‘ im distinktiv-klassifizierenden Sinne, also entweder ‘weibliche promovierte Person’ oder ‘weiblicher Arzt (Ärztin)’. Wird allerdings docteur generisch verstanden und verwendet, ergibt sich auf‐ grund der Asymmetrie für doctoresse eine ‚Leerstelle‘, die konnotativ aufgefüllt werden kann, z. B. im emphatischen oder evaluativ-bewertenden Sinne. Eine Habitualisierung von doctoresse müsste dann mit einer Bedeutungseingrenzung von docteur einhergehen. In einem solchen Prozess, der eine steigende Frequenz des Wortes voraussetzt, ist zunächst eine Phase anzunehmen, in der doctoresse verschiedene - auch gegensätzliche - Konnotationen umfasst, die dann an Bedeutung verlieren. Dabei ist auch eine separate, analogisch übertragene Konnotation des Suffixes -esse für die Bewertung des Wortes zu berücksichtigen (cf. die Diskussion zu poétesse in Debrosse 2014). Hinsichtlich der Verwendung des Wortes doctoresse lässt sich keine geradlinige Entwicklung feststellen. In der frz. Presse wird doctoresse im 19. Jh. etwa ab 1850 zunächst in Berichten über Ärztinnen oder promovierte Frauen in den USA gebraucht (cf. „la doctoresse Elizabeth Blackwell“, GNMU 6 17.03.1859, 3; „Mme la doctoresse Clarke“, GNMU 04.09.1854, 2; „la doctoresse Miss Harriet Hunt“, JDPL 7 03.10.1852, 1; z. n. BNF 2016). Zusätze wie „miss Deborah, doctoresse, femme-penseur et écrivain“ (Vert- Vert 02.01.1861, 3; z. n. BNF 2016) oder „la doctoresse miss Harriet Hunt, (elle a étudié la médecine)“ ( JDPL 03.10.1852, 1; z. n. BNF 2016) zeigen, dass doctoresse für die Bedeutung ‘Ärztin’ und die Bedeutung ‘promovierte Frau’ Mitte des 19. Jh. zumindest bekannt ist. Die Form docteur erscheint in Kontexten dieses Typs nicht, vereinzelt jedoch doctoress  8 . Trotz dieser frühen Präsenz einer feminisierten Form muss es als optimistisch gelten, wenn einige Jahrzehnte später, in einem satirischen Artikel des Magazins Le Tintamarre vom 02.08.1891, im Zusammenhang mit der Rolle der Académie Française bei der Etablierung femininer Berufsbezeichnungen, die Form docto‐ resse als zugleich gelungene und akzeptierte Bezeichnung beschrieben wird: „Le goût public n’a pas hésité à adopter ce féminin pour désigner la femme-médecin, plutôt que ‚médecine‘ par exemple, qui aurait prêté à une fâcheuse équivoque“ (Le Tintamarre 02.08.1891, 4; z. n. BNF 2016). 298 Georgia Veldre-Gerner 9 Theaterstück des ‚Vaudeville‘ (einer Art Boulevardtheater im 19. Jh.) um 1885, satirisch auch in der Presse aufgegriffen (cf. z. B. La Lanterne 06.11.1885, 2; z. n. BNF 2016). Einige Jahre später druckt die feministisch orientierte Tageszeitung La Fronde den Leserbrief eines Arztes mit der Frage: „Doit-on dire d’une femme-médecin la doctoresse ou le docteur? Et pourquoi en général les femmes-médecins ellesmêmes préfèrent-elles s’appeler docteur? “ (La Fronde 07.10.1900, 2; z. n. BNF 2016). In den Reaktionen dominieren zunächst die Wortmeldungen (weiblicher Leser) pro docteur - und dies mit 2 Argumentationen: Zum einen handle es sich um die amtliche, offizielle Form, zum anderen sei die Form doctoresse diskreditiert: „Les journalistes, vaudevillistes 9 et autres farceurs de ce genre se sont efforcés de rendre ridicule le mot doctoresse et un instant ils ont failli réussir (doctoresse du Gymnase)“ (La Fronde 07.10.1900, 2; z. n. BNF 2016). In einer weiteren Äußerung einer Leserin zu diesem Thema einige Tage später werden die Argumente aus‐ führlich kommentiert und auch Konkurrenzformen zu doctoresse, darunter die der Titelzeile dieses Aufsatzes, benannt. Nach detaillierter Schilderung und kritischer Sichtung der „armes dont on prétend accabler ce pauvre mot de ‚doctoresse‘“ (La Fronde 14.10.1900, 3; z. n. BNF 2016) lautet das Fazit: (5) Je m’intitule ‚doctoresse‘ parce que j’ai trouvé ce mot tout fait dans les dictionnaires, parce qu’il porte son genre avec lui et que je trouve cela commode et naturel. S’il est irrégulier ou immoral, qu’on m’en donne un autre: Doctrice, Docteuse… que m’importe! Mais je veux une désinence féminine dont je ferai ma gloire au lieu de la dédaigner. (La Fronde 14.10.1900, 3; z. n. BNF 2016) Die Erwähnung weiterer Formen neben doctoresse ist dabei sehr wahrscheinlich nur ironisch interpretierbar. Docteuse erscheint nur sehr vereinzelt im Korpus, doctrice, das zumindest auch lexikographisch belegt ist, nur wenig häufiger (cf. dazu Kap. 5). Fast zwei Jahrzehnte später ist die Situation inhaltlich scheinbar unverändert. Unter der Überschrift „Féminisons“ heißt es in einem Kommentar: (6) C’est un fait curieux que la résistance routinière des Français à l’adoption du mot indispensable, dont la mise en service s’impose avec l’apparition d’un fait nouveau. Quand nos femmes furent admises à faire de la médecine, voilà une quarantaine d’années, le mot doctoresse, qui était pourtant logique dans sa nouveauté, fut prohibé avec dédain. (L’Avenir 04.12.1919, 2; z. n. BNF 2016) Man muss also im hier betrachteten Zeitraum hinsichtlich doctoresse in der Presse von einem bedeutenden Anteil nicht-neutraler, tendenziell abwertender und im Gegenzug auch ‚aufwertender‘ Kontexte ausgehen, wodurch der Ge‐ 299 „Doctrice, Docteuse… que m’importe! “ 10 Mit der Zulassung von Frauen zum Anwaltsberuf im Dezember 1900 in Frankreich findet sich neben vielfältigen morphosyntaktischen Kombinationen (doctoresse/ docteur en droit, candidate doctoresse usw.) vermehrt die Form avocate, die im Vergleich mit doctoresse weniger Polemik auslöst, vermutlich aufgrund der kontinuierlichen lexikographischen Präsenz mit metaphorischer, u. a. religiöser Bedeutung seit dem 15. Jh. (cf. dazu das Lemma avocate in der elektronischen Ausgabe des Littré 1873/ 1878). brauch von generisch verstandenem docteur durch und in Bezug auf Frauen zweifellos konserviert wurde. Wie ist nun die Form doctoresse in der Pressesprache des betrachteten Zeitraums repräsentiert? Eine automatisierte Frequenzanalyse für die Form doctoresse im Korpus RetroNews (BNF 2016) zwischen 1870 und 1930 ergibt, nach zunächst nur vereinzelten Belegen bis ca. 1875, einen starken, aber kurzfristigen Anstieg des Gebrauchs um 1885, eine moderat steigende Frequenz bis zu einem Einbruch im 1. Weltkrieg und eine stabile Präsenz zum Ende des dokumentierten Zeitraums (cf. Abb. 1). Abb. 1: Frequenz von doctoresse im Pressekorpus RetroNews für den Zeitraum 1870-1930 (BNF 2016) Doctoresse steht dabei im gesamten Zeitraum sowohl für ‘Ärztin’ als auch für ‘promovierte Frau’. Mit der Zahl promovierter Frauen, z. B. im juristischen Bereich, stieg auch hier der Anteil von doctoresse gegenüber docteur. 10 300 Georgia Veldre-Gerner Die Form ist auch in beiden Bedeutungen bis in die Gegenwart erhalten, wenn auch nicht offiziell empfohlen. Im Guide d’aide à la féminisation des noms de métiers, titres, grades et fonctions (im Folgenden: Guide) des CNRS von 1999 ist es die Form docteure, die neben docteur sowohl für die Bedeutung ‘Ärztin’ als auch für die Bedeutung ‘promovierte Person’ als die offiziell gültige präsentiert wird. Die Form doctoresse sei „parfois sentie comme désuète, […] [mais] toujours en usage“ (Guide 1999, 81). Im Archiv der Zeitung Le Monde finden sich durchaus aktuelle Belege für doctoresse, exemplarisch folgen zwei Überschriften zu Online-Artikeln aus den letzten Jahren, in denen doctoresse für ‘Ärztin’ steht: (7) La fausse doctoresse néo-zélandaise a exercé pendant plus de vingt ans au Royaume-Uni (S. a. 20.11.2018) (8) Françoise Sivignon, la French doctoresse (Baumard 10.06.2015) Eine Befragung im Jahr 2005 unter 230 überwiegend weiblichen französischen Studierenden verschiedener Philologien der Universität Tours zur jeweils be‐ vorzugten Form (docteur/ docteure/ doctoresse) ergab das interessante Resultat, dass es die Form une doctoresse ist, die die Mehrheit der Befragten anstatt der offiziellen Formen bevorzugt, während die geringe Akzeptanz der Form docteure noch hinter der von une docteur zurücksteht (cf. van Compernolle 2015, 112, 120). Eine lexikalisierte negative Konnotation lässt sich davon ausgehend für doctoresse also in der Gegenwart nicht klar belegen, diese würde vermutlich auch den habitualisierten Gebrauch, wie er in der Schweiz gegeben ist, blockieren. Wie erklärt sich also die Situation, dass eine formal und referentiell funktio‐ nierende Form sich nicht kontinuierlich durchsetzt, zumal es keine feminine Form im Französischen gibt, die insgesamt erfolgreicher ist? Zweifellos liegen einige Gründe dafür in der ferneren Vergangenheit. Viennot (2018) beschreibt den Zusammenhang zwischen der Gründung der Académie Française im Jahre 1635 und dem Beginn einer die femininen Formen ausschließenden Sprach‐ lenkung (cf. Viennot 2018, 43-45). Hinzu kommen historisch belegte negativ konnotierte Verwendungen, mit der auch im 19. Jh. die Meidung zugunsten der Form docteur in Bezug auf eine der ersten in Frankreich promovierten Juristinnen begründet wird, wie das folgende nicht ironiefreie Zeitungszitat illustriert: (9) Devrais-je dire „doctoresse“? Il est possible que ce féminin soit plus correct, en même temps que plus coquet. Mais, le mot doctoresse ayant été forgé par Jean-Jacques Rousseau, qui y a attaché un sens de blâme et une intention acrimonieuse, je maintiens jusqu’à nouvel ordre le masculin: docteur. (La Souveraineté 10.12.1888, 2; z. n. BNF 2016) 301 „Doctrice, Docteuse… que m’importe! “ Vermutlich geht es um die Formulierung aus Rousseaus Rêveries du promeneur solitaire (1782), „Ce motif, qui n’agit que sur les ames [sic] vraiment aimantes, est nul pour tous nos Docteurs & Doctoresses“ (1782, 203), die sich auch im Wörterbuch von Littré (1873) findet (cf. Littré 1873/ 1878, s. v. doctoresse). Daraus ergibt sich die Frage, welche Rolle die Lexikographie in Bezug auf die Einordnung der Form doctoresse spielt. In der digitalen Version des Grand Robert de la Langue Française (2017) wird hinsichtlich doctoresse vermerkt: „Vieilli. Femme munie du diplôme de docteur en médecine. Une doctoresse. La doctoresse Madeleine X“; ergänzend heißt es anhand eines Belegs von 1855: „On dit plutôt docteur“ (Grand Robert 2017, s. v. doctoresse). Doctoresse gilt also hier nicht, so wie docteur, als polysem (1. ‘promovierte Person’; 2. ‘Arzt’), sondern ist nur für die Bedeutung ‘Ärztin’ verzeichnet (cf. Grand Robert 2017, s. v. doctoresse). Eine geringe Akzeptanz von doctoresse auch um die Mitte des 20. Jh. notiert der Trésor de la Langue Française informatisé (TLFi): „Il est peu employé en France, peut-être parce que le suffixe -esse paraît ironique ou péjoratif; aussi parce que les femmes ne semblent pas toujours désireuses de féminiser leurs titres scientifiques* (Hanse 1949)“ (TLFi 2002, s. v. doctoresse). Auch die Form doctrice wird hier als seltene Alternativform genannt (cf. TLFi 2002, s. v. doctoresse). In der aktuellen, neunten Ausgabe des Akademiewörterbuchs werden unter dem Lemma doctoresse eine ältere, aus dem 16. Jh. stammende Bedeutung („femme savante“) und eine im 19. Jh. hinzugekommene, aktuelle Bedeutung („femme médecin“) genannt, zu letzterer heißt es: „Femme possédant le diplôme de docteur en médecine (aujourd’hui, on dit plutôt Docteur)“ (Académie Fran‐ çaise 1992-, s. v. doctoresse). In der 8. Ausgabe (1935) wird von einem Lemma doctoresse auf docteur verwiesen. Dort gibt es wiederum eine Aussage, die auf alternative weibliche Formen verweist. Ein ironischer Gebrauch der Form ist (anders als für docteur) nicht vermerkt: Docteur médecin, et, par ellipse, Docteur, Celui qui professe la médecine et aussi la chirurgie, après avoir acquis le grade de docteur. Dans cette acception, il a pour féminin Doctoresse, qui est toutefois peu employé; on se sert plutôt de Femme docteur, Femme médecin ou simplement Docteur. Il s’emploie surtout pour adresser la parole. Docteur, que pensez-vous de votre malade? (Académie Française 1935, s. v. docteur; Hervorhebung ausschließlich von mir) Das strikt zitatorientierte Wörterbuch von Littré erwähnt im Supplément (1878) doctoresse mit zeitgenössischem Textbeispiel: „Ajoutez: Femme qui a reçu le doctorat en médecine. Sur la demande d’une dame médecin, Mme la doctoresse Anderson…, Journ. offic. 23 déc. 1871, p. 5205, 3 e col.“ (Littré 1873/ 1878, s. v. 302 Georgia Veldre-Gerner doctoresse). Die vorgestellten Definitionen zeigen die einhellige Bewertung von doctoresse, sofern erwähnt, als problematische oder marginalisierte Form. 4 Wortgeschichte médecin Bei der Form médecin zeigt sich hinsichtlich der Feminisierung ein morpholo‐ gisches Problem, da die Ergänzung durch -e für die feminine Personenbezeich‐ nung bekanntlich wegen störender Polysemie blockiert ist. Daher ist eine feminisierte Form nicht in Gebrauch, médecin gilt als etablierte forme épicène. Die graphische Darstellung der Frequenz von 1870-1930 im Korpus RetroNews zeigt deshalb auch einen unauffällig kontinuierlichen Anstieg, der vor allem wohl auf die absolut steigende Zahl von Pressetexten (mit einem Einbruch in der Zeit des 1. Weltkriegs) zurückgeht (cf. BNF 2016). Abb. 2: Frequenz von médecin im Pressekorpus RetroNews für den Zeitraum 1870-1930 (BNF 2016) Trotzdem werden im Guide (1999) durch die Notation médecin(e) sowohl médecin als auch médecine als Berufsbezeichnungen für akzeptabel erklärt (cf. Guide 1999, 24, 98). Das Französische Etymologische Wörterbuch (FEW) von Walther von Wart‐ burg notiert ebenfalls für das frühe Neufranzösische médecine als Berufsbezeich‐ nung (FEW 1922-1976 VI, 212: 2), u. a. gebraucht von Rabelais neben der 1. 303 „Doctrice, Docteuse… que m’importe! “ 11 U. a. mit Verweis auf den FEW-Eintrag. Zum Berufsbild ‚femme-médecin‘ im Mittelalter cf. Shatzmiller (1992). 12 Zu diesen und weiteren appositiven Formen cf. Kap. 5. Bedeutung remède (DMF 2020, s. v. médecine 2). 11 Im aktuellen Akademiewörter‐ buch (9. Auflage) erscheint für die Form médecin, analog zu docteur, die Referenz auf Männer und Frauen: „La féminisation des noms de métiers et de fonctions se développant dans l’usage, comme l’a constaté le rapport de l’Académie française rendu public le 1 er mars 2019, il est à noter que ce nom peut aussi s’employer au féminin“ (Académie Française 1992-, s. v. médecin; Hervorhebung von mir). Der Grand Robert de la Langue Française (2017) notiert zu médecin: „Personne habilitée à exercer la médecine après obtention d’un diplôme sanctionnant une période déterminée d’études (en France, le doctorat en médecine)“ (Grand Robert 2017, s. v. médecin). Außerdem wird auch die appositive Form femme-médecin erwähnt (cf. Grand Robert 2017, s. v. médecin). Der Guide (1999, 26) akzeptiert dagegen den Typ femme + N nur bei Parallelformen zu homme (de) N, wie z. B. homme-grenouille. Im Pressekorpus RetroNews ist einer der ersten Belege für femme-médecin für einen Sachkontext in einem Artikel zum Thema weiblicher Ärzte und Anwälte in den USA unter der Überschrift „Plus de femmes“ belegt: (10) On a vu au moyen âge des femmes enseigner la philosophie, on en voit de nos jours qui écrivent dans les journaux, qui font des romans, […] même des tragédies, mais nous ne connaissons pas la femme-médecin, la femme avocat, la femme dentiste etc. etc. C’est encore un progrès que nous avons à envier aux Etats-Unis. (Le Charivari 06.02.1852, 1; z. n. BNF 2016) 12 5 Das Fallbeispiel Madeleine Brès (1842-1921) Im Folgenden werden die in der Presse zu findenden Titel, Berufs- und Tä‐ tigkeitsbezeichnungen zu M. Brès von der ersten Erwähnung im Jahr 1873 bis zu ihrem Tod (1921) dargestellt. Madeleine Brès war die erste Französin, die erfolgreich im Juni 1875 im Bereich Medizin in Frankreich promovierte und als Ärztin zugelassen wurde und kurz danach, in Anbetracht diverser formaler Einschränkungen ihrer Approbation, eine Praxis für Frauen- und Kinderheilkunde eröffnete. Es lässt sich in den Pressetexten eine direkte Verbindung dieses Ereignisses mit der Frage nach der passenden Bezeichnung bzw. dem passenden Titel erkennen. Mit dem Ereignis werden außerdem auch die sprachlichen Mittel selbst häufig zum Thema gemacht. Es ist also anzunehmen, dass der starke 304 Georgia Veldre-Gerner 13 Le Petit Moniteur universel. Frequenzanstieg von doctoresse in diesem Zeitraum vor allem mit der Pressere‐ sonanz zu Brès zu tun hat. Unter der Überschrift „Les femmes-docteurs“ schreibt ein Journalist einer Pariser Tageszeitung aus Anlass der erfolgreichen Promotion von M. Brès einen umfangreichen Artikel, der Frankreich im Rückstand gegenüber anderen Ländern sieht und der direkt zu Beginn Sprach- und Sachebene argumentativ verbindet: (11) Les auteurs de dictionnaires ne tarderont pas à enregistrer le nom de Doctoresse, si, comme on l’affirme, le langage se modifie incessamment, en suivant les idées nouvelles. Ces jours-ci, la Faculté de Paris a conféré le grade de docteur en médecine à Mme Madeleine Brès, […]. D’autres nations, la Russie, l’Angleterre etc., ont des doctoresses; la France ne pouvait tarder à suivre le mouvement qui s’accentue tous les jours à l’étranger […]. (LPMU 13 09.06.1875, 1; z. n. BNF 2016) In den folgenden Jahrzehnten erscheint eine Vielzahl an Texten zu M. Brès. Sie findet Erwähnung in Überschriften, Meldungen, Berichten, Kommentaren, aber auch in Anzeigen, Interviews und in von ihr selbst publizierten populär‐ wissenschaftlichen Texten. Dabei lassen sich chronologisch die ersten, stark den Sensations- und Neuheitscharakter ihres Berufsweges widerspiegelnden Belege von später erscheinenden abgrenzen, in denen es um Informationen über Aktivitäten, Auszeichnungen und damit verbundene Aussagen Dritter zu ihrer Person geht. Bereits als Studentin wird M. Brès zum ersten Mal als „La Dame… Etudiant en Médecine“ in einer Zeitungsüberschrift erwähnt (L‘Événement 08.04.1873, 3; z. n. BNF 2016). Große Beachtung findet einige Monate nach Brès’ Promotion die Eröffnung ihrer Praxis in Paris. Hier die erste kurze Meldung mit weitgehend sachlich-informativem Charakter, die in anderen Zeitungen vielfach reprodu‐ ziert wurde: (12) Mme Madeleine Brès, docteur en médecine de la Faculté de Paris, vient d’ouvrir son cabinet de consultation. C’est le premier exemple, sans doute, d’une femme exerçant la médecine à Paris. (Le Petit Journal 27.10.1875, 2; z. n. BNF 2016) In der Folge erscheinen einige längere meinungsbetonte Texte, die die Nachricht kommentieren. In diesen Texten kommt der Form doctoresse eine prominente Bedeutung zu. Mit Bezug auf obenstehende Meldung berichtet der Figaro am 30.10.1875 aus Anlass der Praxiseröffnung in einer Art Reportage, überschrieben mit „Une Doctoresse“, ausführlich über M. Brès. Der Autor schildert seine 305 „Doctrice, Docteuse… que m’importe! “ Bemühungen, mit Brès in Kontakt zu treten, und das Zusammentreffen mit ihr in anekdotischer Form, ergänzt durch biographische Details, historische Anmerkungen und umfangreiche persönliche Wertungen. Insgesamt wird, auch durch die Wahl der Personenbezeichnungen, die Berufsausübung durch eine Ärztin als gleichzeitig ‚neu‘ und ‚kurios‘ dargestellt. Der Stil des sich über zwei Spalten erstreckenden Textes ist entsprechend dem zu dieser Zeit verbreiteten erzählerorientierten Prosastil feuilletonistisch, der Anteil der In‐ formation ist zugunsten der deutlichen Absicht, die (männliche) Leserschaft zu unterhalten, stark reduziert und grundsätzlich narrativ eingebunden. Der Grundtenor kann (vor dem historischen Kontext) trotz dieser Merkmale nicht als abwertend gelten, was der zweite der beiden folgenden Auszüge belegt (Le Figaro 30.10.1875, 1-2; z. n. BNF 2016): (13) (14) Wie lässt sich der Bewertungskontext der Bezeichnungen im Einzelnen er‐ fassen? In dem Text erscheinen folgende Benennungsvarianten zur Person von M. Brès und zum Begriff ‚Ärztin‘ allgemein (Le Figaro 30.10.1875, 1-2; z. n. BNF 2016): • „une doctoresse“ • „Le docteur …pardon… Madame Brès“ • „un docteur en jupons“ • „Mme Brès“ • „la doctoresse“ • „cette praticienne“ • „cette Arsinoe de la lancette“ • „une petite femme d’aspect intelligent“ • „Cette femme courageuse, abandonnée à l’âge de vingt ans par son mari“ 306 Georgia Veldre-Gerner 14 Zur ersten in London approbierten Ärztin heißt es: „cette femme-médecin“ (Le Consti‐ tutionnel 06.04.1864, 2; z. n. BNF 2016) sowie femme-docteur, das ebenfalls durchgängig moderat vertreten ist (hier mit der Bedeutung ‘Ärztin’), wie auch „femme doctoresse“ (Le Petit Journal illustré 13.02.1921, 3; z. n. BNF 2016). • „la première femme exerçant la médecine à Paris“ • „notre doctoresse“ • „cette question des femmes-médecins“ • „toutes les femmes-docteurs“ • „Les doctoresses“ Die Benennungen vermitteln in ihrer Gesamtheit und innerhalb des historischen Kontextes der Dritten Republik ein Bild der gesellschaftlichen Wahrnehmung, der Lesererwartungen und der damit verbundenen sprachlichen Darstellung des ‚Ereignisses‘ in einer konservativ-monarchistischen, überregionalen Pariser Tageszeitung. Die Form doctoresse mit der Bedeutung ‘Ärztin’ erfüllt dabei, insbesondere durch die Wahl als Überschrift, eine aufmerksamkeitssteigernde Funktion. Am 03.11.1875 erscheint im Figaro ein Leserbrief als Reaktion „au sujet de l’article sur la première femme-docteur exerçant la médecine à Paris“ (Le Figaro 03.11.1875, 1; z. n. BNF 2016). Der Autor, laut Unterschrift „un abonné de province“, geht kritisch auf den von ihm als „article pittoresque“ bezeichneten Text „Une Doctoresse“ ein und rügt indirekt die sprachliche Form, verbunden mit dem Wunsch „de voir épargner les railleries aux doctoresses“ (Le Figaro 03.11.1875, 1; z. n. BNF 2016). Die Form doctoresse ist in der Kopplung an das Berufsbild ‘Ärztin’ in Frank‐ reich in der 2. Hälfte des 19. Jh. als markierte Form anzusehen, oft typographisch hervorgehoben, neben anderen rhetorisch-variierenden und kategorisierenden Nominalphrasen, wie die folgenden Belege exemplarisch zeigen: • La doctoresse de la Rue de Rivoli (Le Figaro 03.11.1875, 1-2; z. n. BNF 2016) • reçue doctoresse à la Faculté de médecine de Paris (La Presse 11.06.1875, 3; z. n. BNF 2016) • une doctoresse française (Le XIXe siècle 11.07.1875, 4; z. n. BNF 2016) • La première étudiante en médecine […] aujourd’hui ‚doctoresse‘ (Le Petit Parisien 25.12.1892, 1; z. n. BNF 2016) Eine weitere Form, die zur Bezeichnung von Brès verwendet wird, ist femmemédecin, das in Bezug auf Ärztinnen außerhalb Frankreichs in der Presse ab 1860 erscheint. 14 307 „Doctrice, Docteuse… que m’importe! “ In den Jahrzehnten nach 1875 ändert sich die Situation dahingehend, dass, auch aufgrund einer kontinuierlich wachsenden Zahl von praktizierenden Ärztinnen, der Sach- und Informationsaspekt hinsichtlich der Bezeichnungen sichtbar an Bedeutung gewinnt. Die folgenden in der Presse häufig anzutref‐ fenden Syntagmen, in denen Brès’ Berufsbezeichnung zugunsten einer anderen, aktuellen Information syntaktisch und thematisch in den Hintergrund rückt, sollen dies belegen: • La doyenne des doctoresses françaises (Le XIXe siècle 11.08.1907, 1; z. n. BNF 2016) • La doyenne des docteurs femmes de France (Le Petit Parisien 30.06.1903, 1; z. n. BNF 2016) • nommée médecin du Théatre Historique (Le Petit Journal 03.04.1878, 3; z. n. BNF 2016) Als Anzeichen für die Habitualisierung von doctoresse kann gelten, dass wäh‐ rend des gesamten Zeitraums, wenn auch nur okkasionell, die Formulierung thèse de doctoresse erscheint, überwiegend in Bezug auf Ärztinnen, aber auch in Bezug auf geisteswissenschaftliche Bereiche, wie der folgende Textauszug belegt: (15) La Fronde (15.03.1903, 1; z. n. BNF 2016) Insgesamt dominiert auch um 1900 für die Bedeutung ‘Ärztin’ keinesfalls die Form doctoresse. In einem zentralen Bereich, dem Titel als Namenszusatz, überwiegt deutlich weiterhin die Form docteur, so wie auch in appositiver Nachstellung (Mme + N, docteur…). Während also in französischen Berichten über zugelassene Ärztinnen außer‐ halb Frankreichs die Bezeichnung doctoresse als Namenszusatz Mitte des 19. Jh. die erste Wahl ist, gilt dies hinsichtlich der ersten französischen Ärztin (und ihrer Kolleginnen) für längere Zeit nicht. Nur eine Zeitung (Le Petit Journal) formuliert bereits im Jahr 1877 „Mme la doctoresse Brès“ (Le Petit Journal 09.08.1877; z. n. BNF 2016), während die Frequenz generell erst ab 1890 deutlich 308 Georgia Veldre-Gerner 15 Mme la docteur + ‚Name‘ findet sich dagegen im Korpus RetroNews erst um 1900 - und nicht unbedingt für Ärztinnen. Laut TLFi wird auch für das 20. Jh. noch Mme le Docteur bevorzugt (TLFi 2002, s. v. doctoresse). Hervorhebungen (Kursivschrift, Anführungszeichen) nehmen im Zusammenhang mit doctoresse ab 1880 allmählich ab. 16 Insbesondere im juristischen Bereich gibt es um 1900 eine deutliche Entwicklung, sodass auch hier die Form doctoresse sowie zahlreiche Varianten und appositive Bildungen ausgehend von avocat/ avocate nachweisbar sind, z. B. „La femme-avocat“ (Le Guetteur 12.11.1897, 2; z. n. BNF 2016) oder „l’avocate-doctoresse“ (Le Petit Troyen 03.03.1904, 3; z. n. BNF 2016). zunimmt. 15 Die Präferenz für generisches docteur gilt auch für Brès’ Selbstbe‐ zeichnung, die sie in Zeitungsannoncen oder selbstverfassten Zeitungsartikeln wählt. In einer von ihr selbst aufgegebenen Anzeige zu Impfungen aus dem Jahr 1880 heißt es: „Madame Madeleine Brès, docteur en médecine de la Faculté de Paris, vaccine gratuitement […]“ (L’Ordre de Paris 14.03.1880, 4; z. n. BNF 2016). Eigene Artikel zu medizinischen Themen, die sie in der Zeitung La Patrie ab 1900 veröffentlicht, unterzeichnet sie mit „Dr. Madeleine Brès“ (z. B. La Patrie 29.01.1901; z. n. BNF 2016) und meidet also feminisierte Formen. Als M. Brès im Jahr 1921 stirbt, findet sich allerdings in den zahlreichen Todesanzeigen neben femme-docteur (en médecine) auch häufig doctoresse, ohne abwertende Nuance: (16) La Presse (04.12.1921, 2; z. n. BNF 2016) 6 Bilanz und Ausblick In den ersten Jahrzehnten des 20. Jh. sind Ärztinnen keine Rarität mehr, ebenso wenig wie promovierte Frauen verschiedener Disziplinen. 16 Ein Zeichen der Habitualisierung von doctoresse sind zweifellos Anzeigen mit Informationen wie der folgenden: „Maison d’accouchements: ‚Accouchements faits par docteur ou doctoresse‘“ (Le Matin 21.01.1922, 2; z. n. BNF 2016). Gleichzeitig gibt es in dem Zeitraum auch Stellenanzeigen, in denen mit doctoresse explizit auf Frauen 309 „Doctrice, Docteuse… que m’importe! “ verwiesen wird: „demande de docteur ou doctoresse“ (Le Journal 02.03.1904, 5; z. n. BNF 2016). Außerdem steigt die Zahl der Frauen, die die Form doctoresse als Teil des Namens oder zur Selbstbezeichnung wählen (z. B. „doctoresse Pelletier“, Le Libertaire 18.11.1921, 3; z. n. BNF 2016). Andererseits besteht im gesamten Zeitraum eine Bezeichnungsunsicherheit in Bezug auf Ärztinnen und promo‐ vierte Frauen, weshalb sogar in der Selbstbezeichnung („J’ai été reçue […] docteur ou doctoresse en médecine“; Le Petit Marseillais 08.10.1886, 1; z. n. BNF 2016), häufiger aber in Berichten über Ärztinnen, auf docteur ou doctoresse ausgewichen wird, wobei ein demonstrativer Effekt im Sinne konnotativer ‚Emphase‘ nicht auszuschließen ist: (17) La Presse (26.05.1906, 2; z. n. BNF 2016) Die Sichtung und Einordnung der Bezeichnungen für ‘Ärztin’ und ‘promovierte Frau’, die in der französischen Presse etwa zwischen 1870 und 1930 erscheinen, legen den Schluss nahe, dass sich die Vorbehalte gegenüber der Form doctoresse vor allem aus ihrer ideologisch motivierten Markiertheit (‚feministisch‘) über das Merkmal ‚weiblich‘ hinaus ergeben. Es ist aber ebenso plausibel, dass in dem betrachteten Zeitraum allein das Merkmal ‚weiblich‘ in Bezug auf traditionell nur von Männern besetzte Bereiche ausreichte, um in Kombination mit durch die Presse verbreiteten Kontexten der ‚Lächerlichkeit‘, wie etwa Theaterstü‐ cken, einen dauerhaften Kontext der Emphase - überwiegend negativ und als Reaktion darauf auch positiv - entstehen zu lassen und zu konservieren. Dieser Mechanismus lässt sich kontextabhängig wiederum für alle verwendeten oder diskutierten Formen nachweisen, er erschwerte die Etablierung einer neutralen Bezeichnung für ‘Ärztin’ und ‘promovierte Frau’ in Frankreich bis heute. 310 Georgia Veldre-Gerner Bibliographie Académie Française ( 9 1992-): Dictionnaire de l’Académie Française, https: / / www.diction naire-academie.fr (17.06.2021). Académie Française ( 8 1935): Dictionnaire de l’Académie Française, https: / / www.dictionn aire-academie.fr (17.06.2021). 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Na presente contribución, que inclúe unha breve panorámica xeral do sistema antroponímico galego da época, afondaremos nestas diverxencias ampliando o corpus con fontes primarias procedentes doutras zonas da xeografía galega. Con este traballo espérase contribuír ao estudo do sistema antroponímico baixomedieval e mostrar ata qué punto resulta pertinente a perspectiva de xénero neste sentido. Abstract Our study of different collections of Galician 15 th century documents has shown discrepancies in gender-based naming practices (Bouzas, in press). Disaggregating the data from this perspective and analysing women’s and men’s naming sequences separately, it was possible to find peculiarities concerning the types of sequences and differences in the distribution, presence and type of surnames. Since women’s names are not widespread in the data set, these trends are often overlooked. This study, which offers a brief overview of the Galician naming system of the time, completes the prior study with further primary sources from different Galician locations and takes a closer look at the discrepancies visible in these sources. The overall objective of this paper is to contribute to a nuanced description of the Galician naming system in the Late Middle Ages and to emphasize the relevance of a gender approach for its analysis. Keywords: Anthroponymie, Gender, Spätmittelalter, Urkunden, Galicisch 1 Einleitung: Das mittelalterliche System der galicischen Anthroponyme In der Gallaecia war das römische Personennamensystem der tria nomina (praenomen, nomen und cognomen) kaum etabliert. Epigraphische Zeugnisse zeigen - sowohl für lateinische als auch für indigene Namen -, dass sich der Name aus zwei Komponenten zusammensetzt: dem ersten Namen im Nominativ und dem Patronym - d. h. dem ersten Namen des Vaters - im Genitiv. Zudem wurde gelegentlich die Form filius/ a zusätzlich zum Patronym eingefügt. In den ersten erhaltenen galicischen Urkunden ist bereits erkennbar, dass das Patronym bald darauf jedoch wegfiel und lediglich der erste Name erhalten blieb (Boullón Agrelo 2008, 3172). Erst im 10. Jh. verbreitete sich ein neues Personenbezeichnungssystem, das einen zweiten Namen bzw. Beinamen beinhaltet. Das Hinzufügen dieses zweiten Namens lässt sich durch diverse wirtschaftliche und soziale Faktoren erklären, u. a. durch die zunehmende Homonymie infolge von Bevölkerungszunahme und der gleichzeitigen Etablierung bestimmter Modenamen (Boullón Agrelo 2008, 3172). In den ältesten frühmittelalterlichen Texten wurde dieser zweite Name mit dem Zusatz cognomento oder einer ähnlichen Form (dicitur, vocabatur) versehen (Kremer 1970, 131-139; Boullón Agrelo 1999, 69-72; Becker 2009, 30-32). Schon im Laufe des 10. Jh. wurden allerdings diese Strukturen allmählich durch das sogenannte Patronym oder Patronymikum abgelöst. Bis zum 13. Jh. wurde das Patronym in der Regel entweder im Genitiv oder durch Suffigierung des Taufnamens (mittels -ici, -izi, -it, -iz) eingefügt. Nur in einzelnen Fällen wurde dieses direkt (d. h. im Nominativ und ohne Suffix) integriert. So lautete damals das Patronym für eine Person, deren Vater Petrus hieß, für gewöhnlich Petri oder Petriz. Im 13. Jh. wurde schließlich die Genitivform durch das Suffix definitiv verdrängt (Boullón Agrelo 2008, 3172). Die ständige Verwendung einer begrenzten Anzahl von Patronymen führte im Spätmittelalter erneut zu zunehmender Homonymie, die u. a. zur Etablie‐ rung weiterer Beinamentypen beitrug (insbesondere detoponymische, aber auch delexikalische Formen). Die detoponymischen Beinamen wiesen auf die Herkunft oder den Wohnsitz der Person hin und wurden im Mittalter häufig durch die Präposition de angebunden (Boullón Agrelo 2007, 291). Die delexi‐ kalischen Beinamen stammten ihrerseits aus dem alltäglichen Wortschatz 314 Paula Bouzas 1 Im Folgenden wird auf diese Sammlungen mit den Abkürzungen RS (Ribas de Sil) und M (Montederramo) verwiesen. und bezogen sich auf verschiedene individuelle Aspekte. Trotz aller Hetero‐ genität lassen sich dabei bestimmte semantische Bereiche definieren (Boullón Agrelo 2007, 295): physische Eigenschaften, Persönlichkeitsmerkmale, Beruf, Verwandtschaft und Herkunft (d. h. Einwohnerbezeichnungen oder Ethno‐ nyme). Obwohl es heute einige Nachnamen gibt, von denen keine Spuren im Mittelalter zu finden sind, bilden die mittelalterlichen Beinamenbestände die Basis des späteren Systems der Familiennamen im Galicischen (Boullón Agrelo 2007, 286). In Bezug auf die Genderperspektive wurden in romanischen frühmittelalterli‐ chen Urkunden Unterschiede nach Geschlecht bei der Namengebung festgestellt (u. a. Becker 2009, 46-48). Bei der Analyse zweier galicischen Urkundensamm‐ lungen des 15. Jh. aus Ourense wurde auch eine gewisse Variation innerhalb des anthroponymischen Systems beobachtet (Bouzas, im Druck). Ganz konkret zeigen sich Unterschiede in folgenden Bereichen: • Strukturtypen (d. h. in Bezug auf die Form und Bestandteile der anthropo‐ nymischen Sequenzen) • Verteilung der Beinamenkategorien (d. h. in Bezug auf das Vorkommen der unterschiedlichen Beinamentypen als Zweitnamen) • Semantische Merkmale der Formen (d. h. die Herkunft, Referenz und Motivation der Benennung betreffend) Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, herauszufinden, inwiefern diese Angaben und die eventuelle Variation nach Gender in weiteren Urkunden zu belegen sind und ob sich in weiteren Sammlungen andere Merkmale oder genderbedingte Unterschiede finden lassen. 2 Korpus, Methodologie und terminologische Aspekte Das Korpus besteht aus Urkunden aus dem 15. Jh., die unterschiedlichen Sammlungen entstammen und in zwei unterschiedlichen Gebieten Galiciens verfasst wurden: • Einerseits die oben erwähnten Urkundensammlungen aus Ourense: die Sammlung aus dem Kloster von Santo Estevo de Ribas de Sil (ediert in Bouzas 2016) und diejenige aus dem Kloster von Santa María de Monte‐ derramo (ediert in Lorenzo 2016). 1 Für diese Untersuchung wurden die im Laufe des 15. Jh. verfassten Urkunden berücksichtigt. Es handelt sich 315 Zur Benennung von Frauen in galicischen Urkundensammlungen des Spätmittelalters 2 Im Folgenden wird auf diese Sammlungen mit den Abkürzungen TI (Tombo de Iria) und AP (Libro de Notas de Álvaro Pérez) verwiesen. 3 Dieses Chartular wurde noch nicht ediert und liegt im Archiv des Doms in Santiago de Compostela (unter der Signatur CF23). 4 Jede Kette kann in den Urkunden unterschiedliche Varianten aufweisen. Meistens betreffen diese Varianten die Graphie und die Morphologie (z. B. Namenkürzungen beim ersten Namen), aber häufig auch die Anzahl der Elemente. So können einige anthroponymische Elemente etwa nach wiederholter Erwähnung derselben Person wegfallen. Für jede Person wird in der Untersuchung die längste Kette als repräsen‐ tativ ausgewählt. 5 Dementsprechend werden in onomastischen Untersuchungen zum Galicischen und Portugiesischen auch die Bezeichnungen primeiro nome (ʻerster Nameʼ), segundo nome (ʻzweiter Nameʼ) und terceiro nome (ʻdritter Nameʼ) häufig verwendet, um die Bezeichnung apelido (ʻNachname oder Familiennameʼ) zu vermeiden, da die anthroponymischen Formen in dieser Epoche noch nicht unbedingt vererbt wurden. insgesamt um 515 Dokumente (166 aus der Sammlung von Santo Estevo, 349 aus der Sammlung von Montederramo), in denen den Bauernfamilien Land mit Sonderrechten zugeteilt wurde und Empfänger, Grenzen, Besitz und Forderungen festgelegt wurden. Darunter befinden sich auch einige Urkunden, die andere Angelegenheiten betreffen (wie z. B. Testamente, Leih- oder Pachtverträge zwischen Privatpersonen). • Andererseits zwei Sammlungen aus den heutigen Landkreisen Barbanza und Sar: der Tombo de Iria (1457) und das Libro de Notas de Álvaro Pérez, notario da Terra de Rianxo e Postmarcos (1457) (ediert in Tato Plaza 1999). 2 Die erste Sammlung ist ein Chartular oder Kopialbuch, in dem alle Güter der Diözese von Santa María de Iria (Padrón) erfasst sind und zahlreiche Mitglieder der Gemeinde als Pächter oder als Zeugen benannt und befragt werden. 3 Die zweite Sammlung ist eine Zusammenstellung der Notizen eines Notars, Álvaro Pérez. In der Analyse werden die sogenannten anthroponymischen Ketten unter‐ sucht. Die Bezeichnung anthroponymische Kette bezieht sich auf die von den anthroponymischen Elementen gebildete Sequenz, d. h. die Abfolge der für die Identifizierung der Person relevanten Komponenten - und zwar abgesehen von zusätzlichen erklärenden Angaben (Boullón Agrelo 1999, 16-17). 4 Diese Elemente werden im Folgenden nach ihrer Stellung in der Kette unterschieden: erster Name (oder Taufname), erster Beiname und zweiter Beiname. 5 In diesem Sinne sind im Korpus drei Kettenstrukturtypen nachweisbar: 316 Paula Bouzas 6 Im Gegensatz zu Boullón Agrelo (2007, 288) werden hier in die Kategorie der delexikali‐ schen Beinamen auch die Ethnonyme mit aufgenommen. Obwohl sich diese semantisch betrachtet auf die Herkunft beziehen und aus diesem Grund auch in die Kategorie der detoponymischen Beinamen integriert werden könnten, sind sie als Gattungsnamen (z. B. portugués ‘Portugiese’, asturiano ‘Asturianer’) Einheiten des nicht onymischen Wortschatzes und weisen auf eine besondere Eigenschaft des Individuums als Mitglied der Gemeinde hin. a) Kettenstrukturen mit einem Element (dem Taufnamen): (1) Joana, vosa muller (M, Urk. 1614) (2) os ditos Juane e Maria (AP, N. 77) b) Kettenstrukturen mit dem Taufnamen und einem Beinamen: (3) Dominga Rramos (TI, fol. 79v.) (4) Afonso Gonçalues (M, Urk. 1528) c) Kettenstrukturen mit dem Taufnamen und zwei Beinamen: (5) Juan Seoane de Maçayra (M, Urk. 1689) (6) Tareija Rrodrigues de Bandin (TI, fol. 82r.) Die Beinamen lassen sich mit Boullón Agrelo (2007, 288) in drei große Katego‐ rien klassifizieren: • Patronyme (Formen, die nach dem Taufnamen des Vaters gebildet werden): (7) Sancha Fernandes (TI, fol. 28v.) (8) Afonso Gonçalues (M, Urk. 1528) • Detoponymische Beinamen (die sich ursprünglich auf den Wohnsitz oder Herkunftsort der Person beziehen): (9) Goncaluo de Casanova (RS, Urk. 144) (10) Mayor do Curral (TI, fol. 59v.) • Delexikalische Beinamen (die ursprünglich auf individuelle Eigenschaften der jeweiligen Person verweisen): 6 (11) Afonso Pernas (RS, Urk. 133) (12) Dominga Onrrada (TI, fol. 10v.) 3 Analyseergebnisse 3.1 Kettenstrukturtypen Die insgesamt häufigste Kettenstruktur im Korpus entspricht dem Typ b, bestehend aus dem Taufnamen und einem einzigen Beinamen (cf. Abb. 1). 317 Zur Benennung von Frauen in galicischen Urkundensammlungen des Spätmittelalters 7 Frauennamen sind in den Urkunden im Vergleich zu Männernamen weniger vertreten. Im Korpus entsprechen Frauennamen dem Anteil von 16 % an den gesamten Namen. Abb. 1: Verteilung der Kettenstrukturtypen (a) nur Taufname, b) Taufname mit einem einzigen Beinamen und c) Taufname mit zwei Beinamen) nach Urkundensammlung Die Ketten des Typs a, die lediglich aus dem Taufnamen bestehen, sind besonders selten. Sie werden darüber hinaus in der Regel durch gewisse identifizierende Angaben zur Person ergänzt, wie z. B. die Verwandtschaftsbeziehung zu einer anderen Person (etwa dem Vater oder dem Bruder) oder die Tätigkeit (Mönch, Diener u. a.): (13) Antonyo, criado do señor (RS, Urk. 143) (14) meestre Guillen, clerigo (TI, fol. 62v.) In 44 % der Ketten dieser Kategorie werden die Anredeform oder der Titel vor dem Namen hinzugefügt, welche auf den Status der Person oder auf ihre Funktion in der Gemeinde verweisen (don, frei usw.): (15) frey Luys (AP, N. 174) (16) don Iohan, abade do mosteyro (M, Urk. 1581) Die Ketten des Typs c, d. h. mit drei Elementen, sind häufig Varianten, die lediglich bei der ersten Erwähnung erscheinen. Bei den darauffolgenden Erwäh‐ nungen derselben Person fällt für gewöhnlich das dritte Element weg. Die Formen, die diese Stelle in der Kette übernehmen, sind in allen Sammlungen entweder detoponymisch (in 75 % der Fälle) oder delexikalisch. Wenn wir uns ausschließlich auf die Frauennamen fokussieren (cf. Abb. 2) und den Anteil der Strukturtypen bezüglich dieser Gruppe mit dem Anteil an den gesamten Namen vergleichen, 7 fällt auf, dass bei Frauennamen in allen 318 Paula Bouzas Nach Sammlungen sieht der Anteil wie folgt aus: 18 % in RS, 17 % in M, 14 % in TI und 13 % in AP. 8 Insgesamt lediglich sechs Fälle: In einem Fall wird der Beruf (Nonne) erwähnt und in fünf Fällen tritt der Titel dona (‘Frau’) auf. Sammlungen die insgesamt häufige zweigliedrige Struktur mit Taufnamen und Beinamen noch stärker verbreitet ist, während der Strukturtyp mit drei Elementen weniger vorkommt: Abb. 2: Verteilung der Kettenstrukturtypen (a) nur Taufname, b) Taufname mit einem einzigen Beinamen und c) Taufname mit zwei Beinamen) bei Frauennamen nach Urkun‐ densammlung Gerade in Bezug auf den Kettentyp mit einem einzigen Element (Typ a) sind darüber hinaus Unterschiede hinsichtlich der in diesen Strukturen häufig als Ergänzung eingefügten Angaben zur Person zu verzeichnen. Bei Frauen handelt es sich dabei vor allem - mit wenigen Ausnahmen 8 - um Informationen zur Verwandtschaftsbeziehung, und zwar zum Ehemann (Bsp. 17) oder einem männlichen Verwandten (z. B. Vater, Bsp. 18 und 19; Bruder, Bsp. 20): (17) Joana, vosa muller (M, Urk. 1614) (18) Beatris, filla de Janes (M, Urk. 1798) (19) Juana, filla do dito Pero Pelyteyro (AP, N. 82) (20) bosa yrmaa Catalina (RS, Urk. 45) Hingegen beinhalten solche Ketten bei Männernamen eher eine Beschreibung der Tätigkeit und Angaben zum Beruf im Anschluss an die eigentliche anthro‐ ponymische Kette (Bsp. 21-23) und/ oder Anredeformen vor dem Namen, die auf sozialen Status oder Beruf hinweisen (Bsp. 23-25): (21) Rrodrigo e Aluaro, omes de Gomes Rrodrigues d’Alban (RS, Urk. 101) (22) Françisco, moordomo (M, Urk. 1512) 319 Zur Benennung von Frauen in galicischen Urkundensammlungen des Spätmittelalters 9 In TI und in AP sind einige Fälle hinsichtlich ihrer Kategorisierung unklar. Dies betrifft 9 % der delexikalischen Formen in TI und 2 % in AP. (23) frey Rrodrigo, monje de Santa Coonba de Naues (RS, Urk. 90) (24) abade dõ Garçia (AP, N. 172) (25) arçobispo don Pedro (TI, fol. 56r.) Wenn die Verwandtschaftsbeziehung als Zusatzinformation angegeben wird, handelt es sich bei den Männernamen immer um die Beziehung zum Vater (Bsp. 26 und 27): (26) Pedro, fillo de Martin Faueiro (TI, fol. 08v.) (27) Gomes, ffillo de Ares Yanes (AP, N. 171) 3.2 Verteilung der Beinamenkategorien Wie erwähnt, kommen an der dritten Stelle der Kette ausschließlich detopony‐ mische oder delexikalische Formen vor. An der zweiten Stelle sind sowohl Patronyme als auch detoponymische und delexikalische Anthroponyme belegt. Um die Verteilung der Beinamenkategorien und deren Formen zu untersu‐ chen, wurden diejenigen 3.324 anthroponymischen Ketten berücksichtigt, die zumindest einen ersten Beinamen beinhalten (d. h. alle Ketten des Typs b und des Typs c). Davon beziehen sich 523 auf Frauen und 2.801 auf Männer. Im Allgemeinen erweisen sich vor allem Patronyme und detoponymische Formen als bevorzugte Kategorien für die zweite Stelle. Die delexikalischen Formen sind an dieser Stelle dagegen seltener (wenngleich der Frequenzunterschied in den Urkunden von TI und AP geringer ist; cf. Abb. 3): Abb. 3: Verteilung der Beinamenkategorien als zweiter Name nach Urkundensammlung 9 Die Distribution der Beinamenkategorien zeigt allerdings einige Unterschiede, wenn nach Geschlechtern differenziert wird. Die in Abb. 3 dargestellten pro‐ 320 Paula Bouzas 10 Bei Männernamen konnten 9 % der Formen in TI und 4 % der Formen in AP nicht kategorisiert werden. 11 Bei Frauennamen konnten 7 % der Formen in TI nicht kategorisiert werden. zentualen Anteile stimmen mit den Befunden für Männernamen weitgehend überein (cf. Abb. 4): Abb. 4: Verteilung der Beinamenkategorien als zweiter Name bei Männernamen nach Urkundensammlung 10 Die Frauennamen weisen hingegen eine andere Verteilung der Beinamenkate‐ gorien auf. So ist in allen Urkundensammlungen an dieser Stelle eine deutlich höhere Anzahl von Patronymen festzustellen (cf. Abb. 5): Abb. 5: Verteilung der Beinamenkategorien als zweiter Name bei Frauennamen nach Urkundensammlung 11 Diese Verteilung kann auf unterschiedliche Ursachen zurückgeführt werden: Entweder wird in Bezug auf Frauen eine konservativere Form des Systems angewendet (in der das Patronym noch vorherrschend ist) oder die väterliche Beziehung prägt die Benennung von Frauen stärker als die von Männern. Diese letzte Hypothese kann überprüft werden, indem wiederum folgende Frage untersucht wird: Bezieht sich das vorliegende Patronym jeweils auf den 321 Zur Benennung von Frauen in galicischen Urkundensammlungen des Spätmittelalters 12 Im vorliegenden Beitrag wird nicht auf die Filiationsangaben nach der Mutter einge‐ gangen, denn sowohl bei Männern als auch bei Frauen ist der Einfluss des Namens der Mutter sehr ähnlich, nämlich gering: Im gesamten Korpus lassen sich insgesamt 48 Fälle identifizieren (30 davon zwischen Mutter und Sohn, 18 davon zwischen Mutter und Tochter), die sich für die Analyse eignen, und von diesen weisen insgesamt lediglich 12 (8 zwischen Mutter und Sohn; 4 zwischen Mutter und Tochter) eine Übereinstimmung zwischen dem Beinamen der Mutter und dem Beinamen des Nachkommens auf. Bei Männernamen zeigen somit 27 %, bei Frauennamen 22 % der registrierten Fälle eine anthroponymische Übereinstimmung mit dem Beinamen der Mutter. Zum Thema der Filiationsangaben nach der Mutter cf. Becker (2009, 40). Für die entsprechenden Angaben in den Urkunden von Santo Estevo de Ribas de Sil cf. Bouzas (2019, 342-343). ersten Namen des Vaters oder ist dieses Patronym vielmehr bereits eine feste, vererbbare Form, die nicht mehr auf die Beziehung zum Vater zurückzuführen ist? Auf diese Frage wird im Folgenden eingegangen. 3.3 Charakterisierung der Beinamenkategorien 3.3.1 Patronymische Formen Wie schon erwähnt, verweisen Patronyme - zumindest ursprünglich - auf den ersten Namen des Vaters und basieren somit auf der väterlichen Beziehung. In diesem Sinne stellt sich die Frage, ob in den untersuchten Quellen dieser Zeit das Vorkommen von Patronymen als Beinamen noch auf diese Beziehung zurückzuführen ist. Aus linguistischer Perspektive geht es dabei gleichzeitig um die Frage, ob die patronymische Namenbildung sich in dieser Zeit noch als produktiv erweist. Leider werden in den untersuchten Urkunden die familiären Beziehungen eher selten explizit erwähnt. Voraussetzung für die Untersuchung ist somit, dass sowohl die anthroponymische Kette des Sohnes als auch - zumindest - der Taufname des Vaters vorliegen. Insgesamt wurden im untersuchten Korpus 75 Fälle identifiziert, die dieses Kriterium erfüllen und sich für die Analyse eignen. 12 Hinsichtlich der eventuellen Relevanz des Namens des Vaters auf die Auswahl des Beinamens der Person sind dabei drei Möglichkeiten belegt: a) Der Beiname des unmittelbaren Nachkommen stimmt tatsächlich mit dem ersten Namen des Vaters überein (47 % der Fälle). Nach diesem Muster wird einer Person, deren Vater mit Taufnamen Fernando heißt, die Form Fernandez als erster Beiname zugeschrieben. Diese Fälle könnten ein Hin‐ weis für die Relevanz des Taufnamens des Vaters für die Benennung der Nachkommen und gleichzeitig für die Produktivität der patronymischen Namenbildung in dieser Zeit sein. 322 Paula Bouzas 13 In diesen und in den darauffolgenden Beispielen (Bsp. 28-44) werden die betreffenden Formen von der Verfasserin durch Kursivschrift hervorgehoben. (28) Afonso Rrodriges, fyllo de Rrodrigo de Vylla Ester (M, Urk. 1801) 13 (29) Johan Fernandes, fillo de Fernan de Vergaços (M, Urk. 1639) (30) Rroy Gonçalues, [fillo de] Gonçaluo de Casanova (RS, Urk. 144) (31) Rroý Lopes, filo de Lopo Tato (M, Urk. 1560) (32) Mayor Rrodrigues, [filla de] Rrodrigo de Myllan (RS, Urk. 93) (33) Tereija Gonçalues, [filla de] Gonçaluo da Perna (RS, Urk. 86, 94) (34) Mayor Aluares, filla de Aluaro Vasques de Valdiorres (M, Urk. 1650) (35) Johan Ares de Veles, fillo de Ares de Veles (AP, N. 132) b) Der erste Beiname des unmittelbaren Nachkommen stimmt mit dem ersten Beinamen des Vaters überein (24 % der Fälle). In diesem Fall ist eine Person mit Beinamen Fernandez nicht das Kind eines Vaters mit Taufnamen Fernando, sondern von jemandem, der den Beinamen Fernandez trägt. Nach diesem Muster haben Nachkommen und Vater dasselbe Patronym als ersten Beinamen gemeinsam, was ein Hinweis darauf sein könnte, dass die väterliche Beziehung tatsächlich relevant ist, allerdings indem der Beiname des Vaters (z. B. Lopez, Fernandez, Perez) auf das Kind ebenfalls als Beiname übertragen wird. (36) Afonso Vaasquez, fillo de Pero Vaasques (M, Urk. 1659) (37) Elujra Lopes, ffilla de Diego Lopes da Sumoça (M, Urk. 1479) (38) Juan Afonso de Petin, padre da dita Tereija Afonso (M, Urk. 1677) (39) Ynes Gomez, [filla de] Pero Gomez de Casanoba (RS, Urk. 101) (40) Juan Martis o Moço, fillo de Juan Martis (TI, fol. 08v.) (41) Martin Garçia e meu yrm-ao Rroy Garçia outorgamos [as herdades que] nos pertesçen por herança de noso padre Fernan Garçia (TI, fol. 92r.) (42) Gonçaluo Lopes, fillo de Ares Lopes de Goyaas (AP, N. 138) Jedoch wäre hier der Terminus Familienname zu vermeiden, weil der patronymische Beiname nicht unbedingt von der Gesamtheit der Nachkom‐ menschaft geteilt wird (Bsp. 43-46): (43) Johan Afonso d’Abuyme, morador a par de Lisin, e Aluaro de Pedraguda, seu yrmaao (RS, Urk. 58) (44) Gonçaluo da Barja e Afonso de Parada e Eynes Rrodrigues, yrmaaos da dita Costanca Gonçalues (RS, Urk. 147) 323 Zur Benennung von Frauen in galicischen Urkundensammlungen des Spätmittelalters (45) E [eu, Afonso Garçía de Seabra] mando et leixo a meu yrm-o Pero Afonso tódaslas herdades que eu ajo en todo Lemos (M, Urk. 1688) (46) Toda a herdade que foy de Jnes Fernandes do Burgo Nouo […] que ela avia por parte de seu padre Fernan Louç-ao e sua madre Luzia Fernandes e de seu yrm-ao Gonçaluo de Salnes (TI, fol. 78v.) c) Das Patronym ist - im Gegensatz zu den vorherigen Kategorien a und b - weder dem Taufnamen noch dem Beinamen des Vaters zuzuschreiben, d. h. zwischen den entsprechenden Ketten besteht keine anthroponymische Übereinstimmung (29 % der Fälle). (47) Padron Ffernandes, clerigo, fillo de Pero Meendes (M, doc. 1480) (48) Afonso Diiz, fillo de Aluaro Sotello (M, doc. 1810) (49) Tareija Gonçalues [filla de] Johan de Cortiñas (TI, fol. 89r.) (50) Ynes Peres, sua filla [de Gomes Lourẽço] (AP, N. 45) (51) Lusia Ferrnandes, filla de Johan Falcõ (AP, N. 88) (52) Johan de Teyra e seu fillo, Ferrnand Paas (AP, N. 109) Leider verfügen wir nicht über ausreichende Informationen zur Verwandt‐ schaft der Personen im Korpus, um herauszufinden, ob der Nachname Bezug auf andere Mitglieder der Familie (z. B. Mutter oder Großvater) nehmen könnte. Insgesamt scheint folglich im vorliegenden Korpus die väterliche Beziehung eine Rolle bei der Zuschreibung des Patronyms zu spielen, denn 70 % der Fälle weisen auf irgendeine Übereinstimmung hin: Entweder wird der patrony‐ mische Beiname weitergegeben (24 %) oder der Beiname des unmittelbaren Nachkommen wird tatsächlich auf der Basis des ersten Namens des Vaters gebildet (47 %). Wenn man die Sammlungen einzeln betrachtet, stellen sich die prozentualen Anteile allerdings anders dar, wie in der folgenden Grafik samt den jeweiligen absoluten Zahlen der Vorkommen (unten im Klammern) gezeigt wird (cf. Abb. 6): 324 Paula Bouzas Abb. 6: Relevanz des Vaternamens für das Patronym des Nachkommen nach Sammlung Die eventuelle Produktivität des Patronyms für die Bildung des Beinamens zeigt sich vor allem in den beiden Sammlungen aus Ourense (RS, M): Hier entsprechen die Fälle, in denen der Beiname der Person vom Taufnamen des Vaters stammt, der Mehrheit der untersuchten Fälle. Im Chartular von Iria (TI) ist der Anteil ebenfalls relativ hoch; in den Notizen von Álvaro Pérez (AP) lässt sich jedoch nur ein einziger Fall finden (Bsp. 35). In dieser Sammlung und im Gegensatz zu den anderen Quellen machen sogar die Patronyme, bei denen keinerlei Bezug zum Vaternamen festzustellen ist, deutlich die Mehrheit aus (64 %). Die Frequenzen unterscheiden sich aber nicht nur je nach Sammlung, sondern auch nach Geschlecht der benannten Person. In Bezug auf die Männernamen entspricht der prozentuale Anteil der Fälle in allen Sammlungen weitgehend der Gesamtberechnung, auch wenn in den Notizen von Álvaro Pérez die Abweichungen im Vergleich zur Gesamtzahl etwas größer sind (cf. Abb. 7): Abb. 7: Relevanz des Vaternamens für das Patronym männlicher Nachkommen nach Sammlung 325 Zur Benennung von Frauen in galicischen Urkundensammlungen des Spätmittelalters Auch wenn insgesamt die Zahl der Belege sehr gering ist und somit die Aussagekraft des prozentualen Vergleichs Einschränkungen aufweist, sind bei Frauennamen demgegenüber einige Unterschiede zu erkennen (cf. Abb. 8): • In den Sammlungen aus Ourense (RS, M) sind bei Frauennamen keinerlei Fälle belegt, in denen keine Übereinstimmung zwischen den Ketten von Vater und Tochter besteht; d. h. die Beziehung zum Vater spiegelt sich onomastisch in der Gesamtheit der die Frauen betreffenden Ketten aus diesen Sammlungen wider - sei es durch den gemeinsamen Beinamen, sei es durch ein produktives Patronym (Bouzas 2019, 341-342; Bouzas, im Druck). • Im Chartular von Iria (TI) ist der Anteil der Frauennamen ohne jegliche Übereinstimmung mit dem Namen des Vaters zwar relativ hoch (33 %), aber die Fälle mit einem produktiven Patronym machen 50 % aus und sind somit ebenfalls deutlich repräsentiert. • Im Gegensatz dazu betrifft in den Notizen des Notars Álvaro Pérez (AP) die Übereinstimmung mit dem Namen des Vaters ausschließlich Männernamen, während in keiner der Ketten, die sich auf Frauen beziehen, das Patronym auf den Taufnamen oder Beinamen des Vaters zurückzuführen ist. Abb. 8: Relevanz des Vaternamens für das Patronym weiblicher Nachkommen nach Sammlung 3.3.2 Detoponymische Formen Die Mehrheit der im Korpus belegten detoponymischen Formen verweist auf Orte, die zu den jeweiligen Gebieten gehören, in denen die Urkunden verfasst wurden und in denen die Bauernfamilien wohnten. Dabei handelt es sich zumeist um kleine Orte, die nur der dort wohnenden Bevölkerung bekannt waren. In anderen Fällen, wenn der Referent der detoponymischen Form weit entfernt von den betreffenden Gebieten liegt, handelt es sich um einen Ort, 326 Paula Bouzas der wegen seiner Größe und seiner wirtschaftlichen Bedeutung überregional bekannt war. In diesem Sinne ist also ein Zusammenhang zwischen Ortsgröße und Entfernung zu beobachten: Beim Bezug auf nah gelegene Ortschaften gelten als Anthroponyme kleinteilige Einheiten der Landschaft (z. B. der Hügel, die Quelle, das Feld) oder des Dorfes (z. B. die Brücke, die Kirche), bei entfernteren Ortschaften ausschließlich große kommunale Einheiten (d. h. der Name einer Stadt, eines Dorfes oder einer Gemeinde). Diese Faktoren deuten darauf hin, dass die detoponymischen Formen in den untersuchten Quellen noch den Bezug zum ursprünglichen toponymischen Referenten (dem Ort) bzw. ihre toponymische Dimension behalten. Diese Annahme wird dadurch bestätigt, dass in 90 % der belegten Fälle die Präposition de, die sich in den meisten Fällen auf die Herkunft des Namenträgers beziehen dürfte, in die anthroponymische Kette eingefügt wird: (53) Eynes de Prados (RS, Urk. 73) (54) Afonso do Souto (RS, Urk. 78) (55) Johan de Grouas (TI, fol. 05v.) (56) Costança de Soutelo (TI, fol. 48v.) (57) Rroy d’Agrelo (AP, N. 156) Dies gilt in allen vier Quellen sowohl für weibliche als auch für männliche anthroponymische Ketten. 3.3.3 Delexikalische Formen Die delexikalischen Formen sind als Beinamen zwar seltener belegt, bilden aber eine in sich stark differenzierte Kategorie: Den im Korpus registrierten 469 Ketten, die als ersten Beinamen eine delexikalische Form aufweisen, sind insgesamt 243 unterschiedlichen Formen (items oder types) zuzuordnen. Darüber hinaus weisen diese Formen eine große semantische Vielfalt auf. Die belegten Formen können zuerst nach der Art und Weise, wie der Bezug auf den ursprünglichen Referenten (z. B. eine persönliche Eigenschaft, den Beruf) erfolgt, klassifiziert werden. Nach diesem Kriterium wird mit Viejo (1998, 171- 172) zwischen Formen mit direktem Bezug und Formen mit indirektem Bezug unterschieden. Zur ersten Gruppe gehören die Formen, die sich explizit und direkt auf identifizierende Besonderheiten der Person beziehen (Berufs- und Verwandt‐ schaftsbezeichnungen, beschreibende Adjektive für körperliche Eigenschaften und Persönlichkeitszüge usw.); zur zweiten Gruppe gehören die Formen, die sich auf diese Besonderheiten metaphorisch oder metonymisch beziehen (Tier- und Pflanzennamen, Körperteilbezeichnungen, auf Gegenstände und Emotionen bezogene Substantive usw.). Zu dieser Kategorie wären auch eine Reihe von Fällen 327 Zur Benennung von Frauen in galicischen Urkundensammlungen des Spätmittelalters 14 Formen wie (de) Deus oder (dos) Santos beziehen sich wahrscheinlich auf damalige Findelkinder, deren Abstammung unbekannt war und die von bestimmten Einrichtungen aufgenommen wurden (Boullón Agrelo 2007, 296). Die anderen Formen könnten sich auf den Beruf, persönliche Umstände oder Anekdoten beziehen, die die Person betreffen und unter denen diese in der Gemeinde bekannt ist. 15 Einige delexikalische Formen sind - was den Bezug betrifft - opak und entziehen sich daher der Klassifizierung (z. B. Beturro, Brinquete, Cichorro, Cocharro). Es handelt sich insgesamt um 21 Formen (35 Ketten). 16 Zu Formen wie Alfaiate, Zapateiro oder Colmeiro und weiteren Berufsbezeichnungen als Beinamen im iberoromanischen Bereich cf. Kremer (1976/ 1977, 211, 226-228). 17 Zu Crespo und weiteren Formen, die sich auf das Haar beziehen, cf. Kremer (1972/ 1973, 126-128; 1974/ 1975, 172-173) und Viejo (1998, 173). zu rechnen, in denen bestimmte Substantive mittels der Präposition de eingefügt werden und so als Beiname fungieren (de Deus, dos Santos, das Vacas). 14 Insgesamt werden 122 Formen (die sich auf 292 Ketten verteilen) mit direktem, explizitem Bezug und 100 Formen (die sich ihrerseits auf 142 Ketten verteilen) mit indirektem Bezug belegt. 15 Die Kategorie der Formen mit direktem Bezug ist in allen vier Sammlungen etwas häufiger und bezüglich der inneren Variation auch vielfältiger (d. h. weist eine größere Anzahl von types auf). Außerdem sind in dieser Kategorie besonders oft Beinamen belegt, die sich auf den Beruf (42 Formen/ 117 Ketten: Alfaiate ‘Schneider’, Besteiro ‘Armbrustschütze’, Carpenteiro ‘Tischler’, Colmeiro ‘Imker’, Ferreiro ‘Schmied’, Zapateiro ‘Schuster’ usw.), 16 physische Eigen‐ schaften (39 Formen/ 95 Ketten: Branco ‘weiß’, Calvo ‘kahlköpfig’, Crespo ‘kraushaa‐ rig’ usw.) 17 und den Charakter (26 Formen/ 41 Ketten: Honrada ‘ehrlich, ehrenhaft’, Leal ‘treu’, Ledo ‘fröhlich’, Manso ‘zahm’ usw.) beziehen. Weniger häufig sind Formen belegt, die auf die Verwandtschaft (Sobriño ‘Neffe’, Parente ‘Verwandte’) oder die Herkunft (Ethnonyme: Galego, Asturiano, Portugués) verweisen. Was die Formen mit indirektem Bezug bzw. metaphorische oder meto‐ nymische Formen betrifft, handelt es sich um Beinamen, die bestimmten semantischen Feldern entstammen: Gegenstände des Alltags (Agulla ‘Na‐ del’, Culler ‘Löffel’, Fouce ‘Sichel’, Pote ‘Topf ’, Saco ‘Sack’ u. a.), Tierwelt (Abellón ‘Hummel’, Carneiro ‘Widder’, Coello ‘Kaninchen’, Falcón ‘Falke’, Lobo ‘Wolf ’, Xerpe ‘Schlange’ u. a.) und Körperteile (Garganta ‘Hals’, Pernas ‘Beine’, Pescozo ‘Nacken’ u. a.). Dies sind die wichtigsten Bereiche, die als Quelldomänen in unserem Korpus fungieren. Die entsprechenden Zieldomänen (d. h. die eigentlichen Referenten, die die Verwendung der Form als Beiname erklären) sind allerdings aus heutiger Perspektive schwieriger zu ermitteln. Obwohl diese drei semantischen Felder sowohl bei Frauenals auch bei Män‐ nernamen dominant sind, zeigt sich bei genauerer Betrachtung der Formen mit direktem Bezug eine unterschiedliche Verteilung der Felder nach Geschlecht (cf. 328 Paula Bouzas Abb. 9 und 10). Bei Männernamen sind eher die Formen, die sich auf physische Eigenschaften und den Beruf beziehen, vorherrschend. Bei Frauennamen ist hingegen das Wortfeld der Charakterzüge mit 50 % deutlich dominant (z. B. Beitiña ‘heilig’, Boa ‘gütig’ und Honrada ‘ehrlich, ehrenhaft’), während bei Männernamen lediglich 19 % der direkten Formen diesem Wortfeld entstammen. Abb. 9: Semantische Felder mit direktem Bezug bei Männernamen Abb. 10: Semantische Felder mit direktem Bezug bei Frauennamen 329 Zur Benennung von Frauen in galicischen Urkundensammlungen des Spätmittelalters Für Frauennamen ist darüber hinaus festzustellen, dass die Formen, wenn immer morphologisch möglich, nach Genus flektiert werden. Diese Tatsache könnte im Prinzip darauf hinweisen, dass die Formen noch nicht vollkommen als Beiname fixiert sind und daher noch einen gewissen individualisierenden Bezug zur Person implizieren. Parallel sind aber im Korpus Fälle zu finden, in denen der Beiname auf eine ganze Familie referiert, z. B.: (58) Outra cortiña dos Faueiros (TI, fol. 39v.) Dabei ist anzunehmen, dass bestimmte im Korpus erwähnte Personen, die diesen Beinamen tragen, wie Martin Faueyro (TI, fol. 05r.), Rruy Faueyro (TI, fol. 05r.) und Maria Faueyra (TI, fol. 47v.), zu dieser Familie gehören. Der Beiname kann also bereits eine ganze Familie bezeichnen, allerdings ist diese Form noch nicht so stark als Beiname fixiert, dass keine Genus- oder Numerusflexion mehr möglich wäre. 4 Fazit Im vorliegenden Beitrag wurden anhand von vier galicischen Urkundensamm‐ lungen aus dem 15. Jh. einige Ergebnisse der Namenforschung aus Genderper‐ spektive präsentiert. Dabei wurden, je nach Sammlung, gewisse Besonderheiten und Unterschiede erkannt. Die folgenden Tendenzen lassen sich in allen Urkundensammlungen beob‐ achten: 1. Die Ketten, die lediglich aus dem Taufnamen bestehen, wurden bei Män‐ nern meistens durch zusätzliche identifizierende Angaben ergänzt, die sich auf den Beruf oder den sozialen Status beziehen; bei Frauen betreffen diese Angaben Verwandtschaft oder Ehre. Die Angaben weisen somit darauf hin, dass Frauen vor allem durch den Bezug zum Ehemann oder zu Mitgliedern ihrer Familie näher charakterisiert werden, wenn im Text auf den zweiten Namen verzichtet wird. 2. In Bezug auf die Verteilung der Beinamenkategorien dominiert bei Frau‐ ennamen das Patronym als erster Beiname prozentual in allen Urkunden‐ sammlungen. 3. Was den semantischen Bezug der delexikalischen Beinamen betrifft, so erweisen sich für Männernamen Felder wie Beruf und physische Eigen‐ schaften als besonders dominant. Auch wenn das Feld des Berufs bei Frauennamen ebenfalls sehr präsent ist, sind in dieser Gruppe delexikali‐ sche Beinamen, die sich auf den Charakter beziehen, am häufigsten belegt. 330 Paula Bouzas 4. In allen Quellen des untersuchten Korpus werden die delexikalischen Beinamen (wenn möglich) nach Genus flektiert. Ziel dieses Beitrags war, mit weiteren Angaben zur Genderforschung im Rahmen der mittelalterlichen Anthroponymie beizutragen und Besonderheiten der Namengebung bei Frauen zu systematisieren. Einige Fragen bleiben noch offen: Um die Relevanz der Vater-Kind-Beziehung und den eventuellen Einfluss anderer familiärer Beziehungen auf die Benennung näher zu betrachten, wäre eine Untersuchung weiterer Quellen nötig. Diese könnten zum Beispiel weitere Informationen über die eventuelle Produktivität der patronymischen Namenbil‐ dung geben und eventuelle Unterschiede zwischen Männer- und Frauennamen hinsichtlich des anthroponymischen Einflusses der Beziehung zum Vater oder zur Mutter bestätigen oder ausschließen. In diesem Sinne kann die vorliegende Studie als Anregung für weitere Untersuchungen dienen. Bibliographie Korpus Bouzas, Paula (2016): Documentos galegos do mosteiro de Santo Estevo de Ribas de Sil (século XV), Santiago de Compostela, Consello da Cultura Galega, http: / / consellodacultura.g al/ publicacion.php? id=4346 (05.04.2021). Lorenzo, Ramón (2016): Colección documental do mosteiro de Montederramo, Santiago de Compostela, Consello da Cultura Galega, http: / / consellodacultura.gal/ publicacion.ph p? id=4340 (05.04.2021). Tato Plaza, Fernando R. (1999): Libro de notas de Álvaro Pérez, notario da terra de Rianxo e Postmarcos (1457), Santiago de Compostela, Consello da Cultura Galega. 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La igualdad de género es un tema con el que los partidos políticos pueden ganar o perder votantes. Depende de la ideología (conservadora o progresista) de los participantes de la discusión si aceptan y hacen visible la igualdad de género. Las iniciativas legislativas LGBT(i) han contribuido a que el debate ya no sea solo binario y que el tema haya pasado al centro de la agenda política en España, por ejemplo. Allí, los partidos más nuevos en el espectro político son el movimiento populista de izquierda, Podemos (o la alianza Unidos/ Unidas Podemos), y el de derecha, VOX, que destacan en su uso del lenguaje. Los populistas afirman representar las necesidades del pueblo frente a una casta política considerada elitista. Lo hacen mediante el uso de una retórica provocativa y emotiva, a menudo distanciándose explícitamente del supuesto dogma de lo ‚políticamente correcto‘. El objetivo del artículo es proporcionar una visión lingüística de cómo los movimientos populistas de izquierda y de derecha abordan las cuestiones de género. Se compararán los resultados del análisis en España con el discurso de dos partidos populistas franceses, La France insoumise (izquierda) y Rassemblement National (derecha), con el fin de ver si se pueden generalizar los resultados. Abstract Gender debates are ideological and emotional. Political parties gain or lose supporters with the topic of gender equality. The question of the acceptance and linguistic visibility of gender equality builds on whether the people discussing this issue pursue a conservative or progressive 1 Franzé (2018, 56) interpretiert die Farbwahl von Podemos als Ausdruck für Feminismus (zum Bezug zwischen morado und Feminismus cf. z. B. Huguet Pané 2021). Aufgrund der antimonarchischen Positionierung der Partei ist allerdings auch ein Bezug zu den Farben der Segunda República anzunehmen (cf. z. B. Izquierda Republicana s. a.). worldview. LGBT(i) legislative initiatives have contributed to the fact that the debate is no longer only binary-oriented. The topic has moved to the centre of the political agenda in Spain, for example. Recently founded parties of the political spectrum, the left-wing populist movement Podemos (or the alliance Unidos/ Unidas Podemos) as well as the right-wing populist VOX, are particularly striking in terms of their language use. Populists claim to represent the needs of the people against a political caste that is seen as elitist. They do this by using provocative, emotionalising rhetoric, often distancing themselves from the supposed dogma of political correctness. The aim of this article is to provide a linguistic insight into how left-wing and right-wing populist movements deal with gender issues. The findings related to Spain will be compared with French populist parties, La France insoumise (left) and Rassemblement National (right), in order to see if it is possible to transfer the results to other contexts. Keywords: Gendermarkierung, Populismus, political correctness, Provoka‐ tion, Ideologie 1 Ausgangsbeobachtungen Der Blick in aktuelle Wahlkampfprogramme, die Lektüre von Twitternach‐ richten von Partei-Accounts oder die Beschäftigung mit Debatten im Parlament machen sehr schnell sichtbar, dass der Themenkomplex Gender in der aktuellen spanischen und französischen Politik eine große Rolle spielt. Insbesondere in Spanien scheinen sich neuere Parteien wie Podemos Feminismus auf die Fahnen geschrieben zu haben, wie beispielsweise die Wahl der Farbe morado als Markenzeichen annehmen lässt. 1 Schon die oberflächliche Auseinandersetzung mit einschlägigen Dokumenten führt vor Augen, dass es der neuen linken Kraft in der Regierung nicht nur darum geht, gegen die Benachteiligung der Frau zu kämpfen, sondern eine binäre Sicht auf Geschlecht zugunsten einer plura‐ listischeren Position aufzubrechen. Die dem rechten Spektrum zuzuordnende Partei VOX hingegen, die etwa zeitgleich mit Podemos gegründet wurde und in jüngerer Zeit auf größere Wahlerfolge zurückblicken kann, nimmt in der Debatte - wenig überraschend - eine sehr konservative Position ein. Dass die Partei Podemos für Wahlbündnisse ab 2016 den Slogan Unidos Podemos nutzte, 336 Judith Visser 2 Zum Rassemblement National (vormals Front National) cf. z. B. Visser (2018), zu La France insoumise/ Jean-Luc Mélenchon cf. Issel-Dombert/ Wieders-Lohéac (2018), zu Podemos cf. Kioukpiolis (2016), zu VOX cf. Castillo Jara/ Marchena Montalvo/ Quiliche Arévalo (2019). 3 Cf. z. B. Schröter (2019): „[Es] sind […] laut AfD ‚Gender-Gagaisten‘, die mit ‚ab‐ surden sprachpolitischen Vorschlägen unsere deutsche Sprache vergewaltigen‘ (AfD hp, 8.6.2018). Geschlecht als soziale Konstruktion zu denken, wird von der AfD als abgedreht (‚gaga‘) dargestellt und Bemühungen um eine geschlechtergerechte Sprache als widersinning [sic] (‚absurd‘).“ diesen 2019 in Unidas Podemos abwandelte, bisweilen auch die Form Unid@s gebraucht oder aber in Wahlplakaten das a/ @ durch ein Herzchen ersetzt - möglicherweise in dem Versuch, Geschlechterpluralität sichtbar zu machen -, zeigt, dass sich in Spanien die Debatte um Geschlechtergerechtigkeit auch auf Ebene der Genderbezeichnungen niederschlägt, zumindest bei der linken Partei. Kann im Umkehrschluss angenommen werden, dass VOX Gendervielfalt auf sprachlicher Ebene systematisch unsichtbar bleiben lässt? Und sind die Beobachtungen zu Podemos und VOX für linke und rechte Ideologien allgemein systematisierbar, beispielsweise für den französischen Kontext und - mit Ein‐ schränkungen - vergleichbare Parteien wie La France insoumise und den Ras‐ semblement National? Eine gegenüberstellende Analyse soll erste Antworten auf diese Frage geben. Diese ist ausdrücklich deskriptiv angelegt. Die Verwendung potenziell positiv oder negativ konnotierter Adjektive des Typs ‚progressiv‘ oder ‚konservativ‘ erfüllt die Funktion, den Umgang mit Genderbezeichnungen einzuschätzen im Hinblick darauf, ob neuartigere Formen verwendet werden oder nicht, und ist nicht als Wertung des Sprachgebrauchs intendiert. Die Untersuchung auf die vier genannten politischen Parteien zu be‐ schränken, beinhaltet eine Fokussierung auf Gruppierungen, die in der Fach‐ literatur mit dem Etikett ‚populistisch‘ belegt werden. 2 Die Perspektivierung auf Links- und Rechtspopulismus begründet sich darin, dass die Forderung nach gendergerechter Sprache bisweilen als „Sprachdiktat“ (Grau 2018), als übertriebener Wunsch nach political correctness wahrgenommen wird. Political correctness aber wird in populistischen Kreisen oftmals als Stigmawort (cf. Burkhardt 2 1998, 101) gebraucht. Dies geschieht keinesfalls nur in Bezug auf geschlechtssensible Sprache, Vorgaben zur Feminisierung werden jedoch eben‐ falls - insbesondere in rechten Kreisen - nicht nur in Spanien und Frankreich an den Pranger gestellt. 3 Ergebnisse einer Untersuchung zum Sprachgebrauch der französischen extrême droite zur Jahrtausendwende (Visser 2004) untermauern die Annahme, dass es lohnenswert sein könnte, den Konnex zwischen Femi‐ nisierung und political correctness dezidiert in den Blick zu nehmen: In der Studie wurde gezeigt, dass rechtsradikale Zeitungen der Ablehnung politischer 337 Ideologie und Gender 4 Für eine umfangreichere Analyse der Inhalte und Rhetorik des Diskurses von Mélen‐ chon cf. Alduy (2017, 257-295). Korrektheit beispielsweise dadurch Ausdruck verleihen, dass sie in provozie‐ render Manier Movierungssuffixe oder feminine Artikel kursiv setzen (Madame la Ministre) oder verballhornende Ableitungen des Typs juppettes, jospinettes verwenden (cf. Visser 2004, 154-155). Ein Vergleich zwischen Links- und Rechts‐ populismus in Spanien und Frankreich hat damit das Potenzial, nicht nur sehr gegensätzliche, einer Verortung im linken oder rechten politischen Spektrum geschuldete Tendenzen in der Feminisierung aufzuzeigen, sondern gleichzeitig sichtbar zu machen, in welchem Maße der Themenkomplex Gender als so verknüpft mit einem vermeintlichen Diktat politischer Korrektheit verbunden wird, dass er in populistischen Kreisen Anlass zu provokantem Sprachgebrauch bietet. Nach einer Kurzvorstellung der Parteien (cf. Kap. 2) und einer Skizzierung der Merkmale von Populismus werden in Kapitel 3 ausgehend von den einleitenden Überlegungen Hypothesen entwickelt, die basierend auf einer systematischen Analyse repräsentativer Parteikommunikation diskutiert und weiterentwickelt werden. 2 Kurzvorstellung der Parteien Die linke Bewegung La France insoumise wurde 2016 vom ehemaligen sozialis‐ tischen Politiker Jean-Luc Mélenchon gegründet: Sie ist zwar mit der Parti de Gauche verbunden, ihr Programm erinnert jedoch an die „Cahiers de Doléances“ (Beschwerdehefte), mit denen die Bevölkerung während der Französischen Revolution Anweisungen und Wünsche an die Führer der Revolution weitergeben konnte. (Mechaussie 2017) Das als politisch im äußeren linken Spektrum anzusiedelnde Bündnis La France insoumise gilt als europaskeptisch und zeichnet sich durch eine globalisierungs‐ kritische Politik aus. Mélenchon unterhält eine von Konflikten geprägte Bezie‐ hung zu etablierten Medien (cf. Mechaussie 2017), die sich auch in einem Kampf gegen political correctness niederschlägt (cf. Visser 2019, 82). 4 Der Rassemblement National existiert unter seinem aktuellen Namen erst seit 2018. Er ist hervorgegangen aus dem 1972 gegründeten Front National. Dessen Parteichef Jean-Marie Le Pen wurde 2011 nach knapp vier Jahrzehnten von seiner Tochter Marine als Präsidentin abgelöst. Auch wenn die Tochter des Parteigründers seither eine Politik der ‚Entdiabolisierung‘ (dédiabolisation) 338 Judith Visser 5 Für einen ausführlicheren Einblick in die Geschichte des Front National cf. Visser (2005, 75-77). Zu Marine Le Pen cf. Alduy (2017, 115-162). verfolgt und die verbalen Entgleisungen, für die ihr Vater berühmt war (cf. z. B. Visser 2005, 66), tunlichst zu vermeiden sucht und in dem Zuge um eine alternative Rhetorik bemüht ist (cf. Alduy 2017, 115-162), ist die Partei nach wie vor am extremen rechten Rand des politischen Spektrums anzusiedeln. Dies zeigt sich beispielsweise an ihrer einwanderungs- und islamfeindlichen Grundhaltung. Sie vertritt ebenfalls eine deutlich ausgeprägte europakritische Haltung („le Rassemblement National défend la souveraineté, l’indépendance et l’identité de la nation“, Rassemblement National 2018, Titre 1, Article 1). 5 Die Partei Podemos wurde Anfang 2014 gegründet. Sie hat ihre Wurzeln im akademischen Milieu der Complutense, dem Bündnis Izquierda Unida sowie dem Grassroot-Movement 15-M (cf. Meyenberg 2017). Ideologisch ist die Partei durch die Theorien Ernesto Laclaus (2005) bzw. Laclaus und Mouffes ( 2 2014) geprägt (cf. Kioupkiolis 2016). Ebenso wie bei La France insoumise ist die Agendafindung durch deutliche Bottom-Up-Strukturen gekennzeichnet. Sowohl die Erfolge als auch die politischen Forderungen von Podemos stehen in deutlichem Zusammenhang mit der Finanzkrise 2008, von der sich Spanien immer noch nicht erholt hat. Neben Gendergerechtigkeit gehört Inklusion zu den wichtigen, das Parteikonzept bestimmenden Themen. Podemos bedient sich in sehr umfassendem Maße digitaler Kommunikationstools. Die Partei konnte früher nennenswerte Wahlerfolge auf sich verbuchen als die etwa zeitgleich gegründete VOX. Seit 2019 ist sie Koalitionspartnerin in der Regierung von Pedro Sánchez (PSOE). VOX wurde Ende 2013 gegründet. Ihre Wahlerfolge insbesondere seit 2019 (cf. Visser 2022, 183) verdankt die Partei der Zuspitzung der Flüchtlings- und Katalonienkrise (cf. Ferreira 2019, 77). Die Partei hat ihre Wurzeln im Partido Popular - dies gilt beispielsweise für ihre Führerfigur Santiago Abascal -, ist aber, wie Rubio-Pueyo prägnant zusammenfast, ebenfalls deutlich der Tradition des Franquismus verhaftet: VOX’s discourse basically rehashes old tropes of Spanish Nationalism and Francoist rhetoric with a postmodern twist. This includes mentions of Catholicism and Chris‐ tianity, the role of family as basic cell of society, and a clearly reactionary vision of Spanish history based on a barely veiled Imperial nostalgia. (Rubio-Pueyo 2019, 11) Im Detail differieren die Positionen der Parteien. Podemos beispielsweise arti‐ kuliert in Bezug auf die EU die Notwendigkeit von Reformen (cf. Visser 2022, 190-191), nimmt aber eine weniger europakritische Haltung ein als La France 339 Ideologie und Gender 6 Cf. z. B. Titel wie Gespenst des Populismus (Stegemann 2017). 7 In der Populismusforschung ist die These der ‚dünnen Ideologie‘ und der damit ver‐ bundenen Annahme von ‚Wirtsideologien‘ keineswegs unumstritten (cf. z. B. Khalina 2020, 230), die Debatte wird aber nach wie vor sehr kontrovers geführt und ist in hohem Maße abhängig von der Frage, ob der Fokus auf ideologischen, strukturellen oder rhetorischen Merkmalen des Populismus liegt, sodass für die vorliegende Studie auf eine ausführliche Diskussion verzichtet werden soll. Zum Verständnis der Analyse, die ausdrücklich Parteien entgegengesetzter Ideologien miteinander vergleicht, erscheint die Metapher der ‚Wirtsideologie‘ durchaus zielführend. 8 „The notion of ‚the people‘ can assume different meanings in populist discourse: it can refer to the idea of ‚plebs‘ as common, ordinary people; to the notion of ‚demos‘ as sovereign people; and to the idea of ‚community‘ in a moral, cultural or political sense“ (Khalina 2020, 231). 9 „Le leader est non seulement l’homme providentiel, le Sauveur dans sa fonction de ‚guide‘ […], mais l’incarnation individuelle du souffle collectif, son ‚esprit‘ et sa ‚voix‘: le Chef est le Peuple plutôt qu’il ne le représente“ (Alduy/ Wahnich 2015, 166; kursiv i. O.). „El líder proyecta una imagen de autenticidad, transparencia y potencia, que se traduce insoumise. Die Einstufung der vier Bewegungen als ,links‘bzw. ,rechtspopulis‐ tisch‘ erscheint aber als hinreichender Ausgangspunkt für eine vergleichende Analyse des Umgangs mit gendersensibler Sprache. 3 Populismus und Gender 3.1 Merkmale von Populismus Die Auseinandersetzung mit der Frage, ob populistische Gruppierungen gegen‐ über dem Thema Gendergerechtigkeit/ Genderbewusstheit eine spezifische Po‐ sition einnehmen, macht zunächst den Versuch einer Definition von Populismus notwendig. Populismus gilt als ein schillernder Terminus, dessen Unschärfe nicht zuletzt dadurch bedingt ist, dass er in der politischen Kommunikation oft als Stigmawort verwendet (s. o.) und seine Präsenz in der politischen Landschaft als bedrohlich wahrgenommen wird. 6 Wie den bisherigen Erläuterungen zu entnehmen ist, wird das Etikett für Gruppierungen sehr unterschiedlicher ideologischer Couleur gebraucht. Dieser Umstand spiegelt die Tatsache wider, dass dem Phänomen an sich zwar ein gewisses ideologisches ‚Minimum‘ zugestanden werden kann (s. u.), es sich ansonsten aber nicht auf eine klare Doktrin festlegen lässt, sondern sich sogenannter ‚Wirtsideologien‘ bedient (cf. Priester 2012, 3). 7 Zum ideologischen Minimum werden gemeinhin gezählt: das Selbstver‐ ständnis als ‚Bewegung‘, der Anspruch, alleiniger Vertreter des Volkswillens 8 zu sein, und die entsprechende Inszenierung, die häufig begleitet ist von einer Zuspitzung auf eine charismatische Führerfigur (Leader) 9 . Populismus gilt als 340 Judith Visser en actuaciones contundentes, irónicas, no exentas de insultos, y posturas contrarias a todo lo que ha significado una mala praxis de los adversarios, y, por supuesto, al servicio del pueblo: romperá con el pasado y salvará a la sociedad“ (Alcaide Lara 2019, 97). 10 Diese populistischen Bewegungen unterschiedlicher ideologischer Couleur eigene Konzeptualisierung der Gesellschaft wird auch als vertikal bezeichnet (cf. Khalina 2020, 231). 11 Cf. z. B. Charaudeau (2009; 2011); Decker/ Lewandowsky (2009); Priester (2012); Hartleb (2014); Issel-Dombert/ Wieders-Lohéac (2019); Visser (2018; 2019); Kranert (2020). 12 Links- und Rechtspopulismus unterscheiden sich folglich nicht in der vertikalen Konzeptualisierung der Gesellschaft (cf. Fußnote 10), sondern in der horizontalen (cf. Khalina 2020, 231). Das Nicht-Vorliegen einer vertikalen Konzeptualisierung ist ein Ansatzpunkt, Populismus von Extremismus zu unterscheiden. Krisensymptom (cf. Issel-Dombert/ Wieders-Lohéac 2018, 7). In einem Land, das sich in einer Krisensituation befindet, wird das Volk zum Opfer einer abgehobenen, korrupten Elite stilisiert (cf. Mudde 2004, 543): 10 Die als korrupt bezichtigte Elite bekommt den Part des Bösen zugeschrieben, während Populisten sich als Aufklärer von Skandalen und Verschwörungen inszenieren. Sie gerieren sich als Sprachrohr, Anwalt und Interessenvertreter des kleinen Mannes und proklamieren den hypothetisch angenommenen und als kollektiv erklärten Willen des Volkes zu vertreten. Sie sprechen für die schweigende Mehrheit, für all diejenigen, die sich nicht trauen, etwas gegen die große Politik zu tun. (Issel-Dombert/ Wieders- Lohéac 2018, 224; kursiv i. O.) 11 Auf sprachlicher Ebene schlägt sich diese Schwarz-Weiß-Dichotomie (cf. Issel- Dombert/ Wieders-Lohéac 2018, 224) in bipolaren Wortschatzstrukturen (Wir - die anderen, Fahnenvs. Stigmawörter; cf. Visser 2018, 176) sowie einer emotionalisierenden Rhetorik (cf. Decker/ Lewandowsky 2009, s. p.) nieder. Links- und Rechtspopulismus unterscheiden sich im Wesentlichen dadurch, dass Ersterer ein Konzept der Inklusion verfolgt, während Letzterer sich ideolo‐ gisch durch Exklusion auszeichnet: 12 Linker Populismus strebt nach Partizipa‐ tion und Ressourcenumverteilung und einer damit verbundenen Inklusion un‐ terprivilegierter Bevölkerungsschichten. Rechter Populismus hingegen verfolgt das Ziel, bestimmte Bevölkerungsgruppen („Sozialstaatsschmarotzer“, Priester 2012, 3; Immigranten, Asylbewerber, ethnische Minderheiten) zu exkludieren, und reserviert politische und soziale Teilhabe für diejenige Bevölkerung, die als autochthon konzeptualisiert wird (cf. Priester 2012, 3). Eine vergleichende Analyse zu den Europaprogrammen von Podemos und VOX (cf. Visser 2022) legt die Annahme nahe, dass Rechtspopulisten auf‐ grund ihres konservativen Weltbilds tendenziell eine rückwärtsgewandte, restaurative Haltung einnehmen, während Linkspopulisten gesellschaftliche, 341 Ideologie und Gender 13 Das Etikett ‚drittes Geschlecht‘ ist zweifellos zu pauschal, um die Realität adäquat abzubilden. Damit sind hier Kategorisierungen des Typs ‚divers‘ gemeint, die das Ziel verfolgen, binäre Sichtweisen zu erweitern. möglicherweise zukunftsorientierte Reformen anstreben. Diese aus lediglich einer Textsorte abgeleiteten Beobachtungen eignen sich zweifellos nicht zur Verallgemeinerung, geben jedoch Anhaltspunkte für die zu formulierenden Untersuchungshypothesen. 3.2 Hypothesen Es wurden insgesamt fünf Hypothesen erarbeitet, von denen sich 1.-4. unmit‐ telbar aus den vorangehenden Überlegungen ableiten: 1. Linkspopulismus verwendet konsequent gendergerechte Sprache. Er ist in den Feminisierungsformen progressiv, ggf. sogar unter Aufbrechen der Binarität, d. h. er gebraucht möglicherweise Bezeichnungen, die ein ‚drittes Geschlecht‘ 13 o. Ä. inkludieren. 2. Rechtspopulismus lehnt gendergerechte Sprache (weitgehend) ab und positioniert sich gegen die Integration eines ‚dritten Geschlechts‘. 3. Sowohl Linksals auch Rechtspopulismus provozieren mit einem Gebrauch von Gendermarkierungen, die als nicht der Norm entsprechend (im Fall von Rechtspopulismus: konservativ, im Fall von Linkspopulismus: gewagt oder progressiv) empfunden werden und eine Positionierung gegenüber political correctness implizieren. 4. Es gibt ‚typisch populistische‘ Tendenzen bei der Verwendung von Gender‐ kategorien. Erste Leseerfahrungen haben darüber hinaus die Formulierung einer weiteren Untersuchungshypothese nahegelegt: 5. Der Gebrauch von Genderformen variiert je nach Kommunikationsform und Textsorte. Er zeichnet sich durch Pluralität und Variation aus. Die Hypothesen sollen nun anhand eines Korpus überprüft werden. 4 Analyse Die Analyse basiert in einem ersten Schritt auf einer vergleichenden Untersu‐ chung der Programme zur Europawahl der vier Parteien (s. u.). Nachdem in dieser ersten Gegenüberstellung Erkenntnisse über Gemeinsamkeiten, Unter‐ schiede und mögliche besondere Tendenzen gewonnen wurden, werden sie in einer parteispezifischen Analyse vertieft und ausdifferenziert. Letztere wie‐ 342 Judith Visser derum beruht auf einer Auswertung weiterer, aktueller programmatischer Texte sowie Twitternachrichten der Partei-Accounts von jeweils einem Monat (inklu‐ sive Retweets, exklusive Antworten: La France insoumise: 28.10.-27.11.2020; Rassemblement National: 24.10.-23.11.2020; Podemos/ VOX: 06.11.-05.12.2020). Mündliche Produkte, z. B. Videomitschnitte, die auf Twitter gepostet wurden, wurden nicht berücksichtigt. Die systematische Beschäftigung mit genderge‐ rechtem Sprechen (Mündlichkeit) ist zweifellos ein wichtiges Desideratum, wäre im Rahmen der geplanten vergleichenden Analyse aber zu weit gefasst, u. a. deshalb, weil entsprechende Grundlagenforschung dazu bislang meines Wissens noch aussteht und eine gesprächsanalytische Transkription von einer Analyse des Bildmaterials begleitet werden müsste, um aussagekräftige Ergeb‐ nisse zu generieren. An ausgewählten Stellen soll aber ein kurzer Ausblick auf multimodale Produkte erfolgen. 4.1 Vergleichende Analyse der Programme zur Europawahl Insgesamt sechs Aspekte wurden beim Vergleich der Programme näher be‐ leuchtet: a) Enthalten die jeweiligen Programme überhaupt spezifische Ausfüh‐ rungen zum Thema Gendergerechtigkeit oder gar zu gendergerechter Sprache? b) Werden feminine Funktionsbezeichnungen verwendet, wenn explizit über weibliche Personen gesprochen wird? c) Werden weibliche Personen auf sprachlicher Ebene sichtbar gemacht, wenn die bezeichnete Gruppe zumindest potentiell auch weibliche Per‐ sonen beinhaltet? d) In welchem Ausmaß wird in solchen Fällen stattdessen auf maskuline Pluralformen (z. B. migrants zur Bezeichnung männlicher und weiblicher Migrierender) oder das generische Maskulinum im Singular (z. B. el ciudadano europeo) zurückgegriffen? e) Sind Versuche erkennbar, bei Geschlechterbezeichnungen die Binarität aufzubrechen? f) Gibt es auffällige Verwendungen von Kollektivbezeichnungen, die mög‐ licherweise ebenso dazu verwendet werden, binäre Bezeichnungsstruk‐ turen zu vermeiden? 343 Ideologie und Gender La France insoumise (2019) Rassemblement Na‐ tional (2019a) Podemos (2019a) VOX (2019a) Thematische Fokus‐ sierung auf Thema Gender nur indirekt im Kon‐ text des Themenbereichs „Égalité, non-discrimi‐ nation“ (Kap. 5.1) - „Un horizonte feminista para Europa“ (Título V) Positionierung gegen „menosprecio de la mujer“ im Islam (S. 12) Feminine Funktionsbezeichnungen - Angela Merkel = „la grande prêtresse“ (S. 16); „‚gardienne des traités‘ [scil. Comm. Europé‐ enne]“ (S. 16) - - Sichtbarmachung weiblicher Personen Feminisierung mit „·e·s“, vereinzelt „.e.s.“ (S. 7, 34); aber: bei weitem nicht durchgängig presidente-presidenta; comisario-comisaria (S. 9, passim); funcionarios-funciona‐ rias (S. 10); „los productores y pro‐ ductoras“ (S. 54); „trabajo para los euro‐ peos y las europeas“ (S. 42) - Maskulin Plural und Singular migrants (S. 32); réfugiés (S. 32, passim); auch generisches Masku‐ linum im Singular (z. B. S. 7) durchgängig generisches Maskulinum „trabajadores autó‐ nomos“ (S. 37) durchgängig generisches Maskulinum 344 Judith Visser Aufbruch der Bina‐ rität „personnes intersexes“ (S. 31); „personnes LGBTQIA“ (S. 34) - „personas LGBTI“ (S. 29, passim); „personas intersex“ (S. 30) - Kollektivbezeichnungen L’Oligarchie (S. 4, passim) alumnado (S. 24); „la ciudadanía“ (S. 42, passim) - Tab. 1: Gegenüberstellung der Programme zur Europawahl 345 Ideologie und Gender 14 Dabei handelt es sich um einen für rechte Parteien recht charakteristischen Vorwurf, der sich auch in einschlägigen Schriften des Rassemblement National (2019b) oder in Diskursen der AfD findet (z. B. Fraktion der AfD im Deutschen Bundestag 2018). Die tabellarische Auflistung der Ergebnisse macht Folgendes deutlich: a) Die beiden linken Parteiprogramme widmen dem Thema Feminismus bzw. (Gender-)Gerechtigkeit eigene Kapitel. Der Rassemblement National blendet den Themenkomplex aus. VOX greift das Thema lediglich im Kontext einer vermeintlichen ‚Geringschätzung der Frau im Islam‘ auf. 14 b) Dass fast keine sich explizit auf Frauen beziehende Funktionsbezeich‐ nungen zu ermitteln sind, ist der Textsorte geschuldet. Lediglich im Pro‐ gramm des Rassemblement National erscheint Angela Merkel, zweifellos negativ konnotiert, als „grande prêtresse“. Die Europäische Kommission wird personifiziert als „gardienne des traités“. c) Weder der Rassemblement National noch VOX machen weibliche Per‐ sonen sichtbar. Bei La France insoumise finden sich einzelne Formen mit point médian oder point (cf. Lessard/ Zaccour 2018), bei Podemos Doppelformen des Typs presidente-presidenta. d) Beide Parteien greifen aber auch auf maskuline Formen im Plural oder das generische Maskulinum im Singular zurück, feminisieren folglich nicht konsequent und durchgängig. Der Rassemblement National und VOX hingegen belassen es durchgängig bei maskulinen Bezeichnungen. e) Rassemblement National und VOX blenden auf sprachlicher Ebene eine mögliche Pluralität an Geschlechtern aus, während La France insoumise und Podemos immerhin von personnes intersexes/ LGBTQIA - personas intersex/ LGBTI sprechen. f) Die Verwendung von Kollektivbezeichnungen in den linken Programmen ist nicht besonders auffällig, dennoch ist anzumerken, dass Bezeich‐ nungen wie alumnado oder ciudadanía, evtl. auch L’Oligarchie, dazu beitragen, binäre Geschlechterkategorien zu vermeiden. 4.2 Parteienspezifische Analyse programmatischer Texte und Twitternachrichten 4.2.1 La France insoumise Bei La France insoumise basieren die Ergebnisse auf der Analyse des Pro‐ gramms L’Avenir en commun (Stand: 11.2020) sowie der Twitternachrichten. Einleitend erweist sich jedoch der Blick auf die Homepage erhellend im Hinblick auf die offenbar grundsätzlich von der Partei präferierte Form der 346 Judith Visser 15 Alle Beispiele werden in der Graphie des Originals wiedergegeben. Femininmarkierung: Dabei handelt es sich um den point médian, der sich in Beispielen des Typs (1) 17 député·e·s élu·e·s (La France insoumise s. a.) 15 manifestiert. Es wird aber direkt offensichtlich, dass der point médian nicht konsequent Anwendung findet, z. B. bei (2) [l]es député.e.s (La France insoumise s. a.). Im nationalen Programm findet sich auch die Feminisierung mit Bindestrich: (3) précarité des doctorant-e-s et jeunes chercheur-e-s (La France insoumise 2020, 55). Eine weitere Variante der Geschlechterkennzeichnung ist in Twitter belegt: die explizite Nennung der weiblichen und männlichen Form: (4) insoumises et insoumis se mobilisent (La France insoumise, Twitter, 21.11.2020). Die Verwendung der gendergerechten Formen ist ebenso wie im Europa- und nationalen Programm keinesfalls systematisch. Sowohl in L’Avenir en Commun (La France insoumise 2020) als auch auf Twitter überwiegt die Pluralform ohne ausdrückliche Sichtbarmachung des weiblichen Genus (les enseignants, les réfugiés etc.). Einige Befunde deuten darauf hin, dass die Verwendung gendergerechter Formen ein bewusster Akt ist, der umso öfter unterbleibt, je mehr sich die Äußerung aus dem Feld offizieller Parteikommunikation und stärker normierter Textsorten entfernt: Auf Twitter verlinkt die Partei häufiger Nachrichten ihrer Parteiwebseite (cf. Abb. 1). Bei diesen Verlinkungen wird das Thema des Beitrags kurz im Tweet selbst zusammengefasst (hier: „Les députés de la France insoumise […]“). Der Beitrag wird in der Regel mit einem Bild („#StopNéonicotinoïdes“), Überschrift und ersten Sätzen zitiert („Loi Néonicotinoïdes: la France insoumise continue le combat! Les député·e·s de la France insoumise […]“): 347 Ideologie und Gender Abb. 1: Tweet mit Verlinkung Wie bereits an den ausschnitthaften Zitaten ersichtlich wird, enthalten die Zitate der Webseite die Formen mit point médian, der eigentliche Tweet allerdings nicht. Twitternachrichten sind mit Blick auf ihre sprachlichen Charakteristika oftmals sehr heterogen (cf. Overbeck 2012) und nicht leicht auf dem Nähe- Distanz-Kontinuum zu verorten (cf. Koch/ Oesterreicher 2 2011, 13; auch Visser 2015, 211). Der beobachtete Befund legt aber die Annahme nahe, dass der Grad an konzeptioneller Schriftlichkeit bei den Artikeln auf der Homepage größer ist als in den Tweets und sich dies in einer Beachtung bzw. Nicht- Beachtung von Feminisierungsvorgaben niederschlägt. Unklar bleibt allerdings, wie sich diese Beobachtung mit der inkonsequenten Gendermarkierung in den Parteiprogrammen in Einklang bringen lässt. Wie in Kapitel 3.1 herausgestellt, fußen populistische Weltbilder auf einer Dichotomisierung in Volk und Elite. Auf den Wahlplakaten von La France 348 Judith Visser 16 Plakate für die Europawahl wurden der Verf. von der Partei freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Einige sind einsehbar unter Flickriver (s. a.). insoumise zu den Élections Européennes 2019 lassen sich diesbezüglich zwei interessante Beobachtungen machen. Eine Plakatserie 16 nutzt den Slogan (5) Halte aux fraudeurs fiscaux, eine weitere „Halte au travail détaché“. Auf Letzterer findet sich die Forderung: (6) Une personne employée en France par une entreprise française doit avoir les mêmes droits salariaux qu’un·e employé·e de nationalité française. Natürlich lassen sich aus diesen Einzelbeobachtungen keine generalisierbaren Annahmen ableiten, aber es ist zumindest auffällig, dass die fraudeurs als Vertreter der korrupten Elite lediglich im Maskulinum erscheinen, während das ‚einfache Volk‘ in Gestalt der employé·e im Femininum und Maskulinum aufgeführt wird. Umfassende Korpusanalysen könnten Aufschluss darüber geben, ob es sich hierbei möglicherweise um einen charakteristischen Umgang mit Genderbezeichnungen im (Links-)Populismus handelt. 4.2.2 Rassemblement National Die Analyse von Wahlplakaten, nationalen programmatischen Texten (Front National 2017; Rassemblement National 2019a; 2019b) und den zusammenge‐ stellten Twitternachrichten bestätigt die im Europaprogramm zu beobachtende Tendenz, dass der Rassemblement National (RN) konsequent maskuline Plural‐ formen und das generische Maskulinum im Singular verwendet, es sei denn, es liegt eine Referenz auf weibliche Personen vor: Marine Le Pen wird sehr wohl als la présidente bezeichnet: (7) Élection de la Présidente du RN (Rassemblement National s. a.). Auch in einem Retweet des Partei-Accounts (Autor: Jordan Bardella) ist die Rede von (8) la Ministre de la Culture (Rassemblement National, Twitter, 18.11.2020). Der (Nicht-)Gebrauch von Gendermarkierungen legt damit die Annahme nahe, dass sich die Feminisierung bei Funktionsbezeichnungen in national-konser‐ vativen Kreisen im Vergleich zur Jahrtausendwende (cf. Visser 2004) stärker durchgesetzt hat. Eine Abkehr vom generischen Maskulinum wird jedoch offenbar weiterhin abgelehnt oder für unnötig erachtet. 349 Ideologie und Gender 17 Der entsprechende Eintrag im Diccionario ist mit dem Hinweis versehen, la líder sei - mit Ausnahme zahlreicher Länder Hispanoamerikas - ‚gebräuchlicher‘ (cf. DRAE 23 2014, s.v. líder). 18 Auch jüngere, zum Teil sehr kontrovers geführte Debatten haben allerdings gezeigt, dass die Real Academia Española in ihrer Haltung gegenüber Gendermarkierung als sehr konservativ wahrgenommen wird - cf. hier beispielsweise den Disput um die Bezeichnung Consejo de Ministras Anfang 2020 (El Español 2020) -, insofern ist denkbar, dass die/ der durchschnittliche Leser*in lideresa nicht als markiert wahrnimmt. 19 Hierbei zeigt die Partei einen Sprachgebrauch, der von der Real Academia Española abgelehnt wird, cf. z. B. den entsprechenden Eintrag im Diccionario panhispánico de dudas (DPD 2005, s. v. género) oder die Erläuterung in der Kategorie Español al día (RAE 2019). 4.2.3 Podemos Der Sprachgebrauch von Podemos (2019a; 2019b; 2020; Twitter) zeichnet sich durch einen großen Variantenreichtum im Bereich der Gendermarkierungen aus. Bei femininer Referenz werden feminine Funktionsbezeichnungen ver‐ wendet, z. B. (9) (Vice-)presidenta, lideresa (Podemos, Twitter, Retweet Isabel Serra, 24.11.2020). Dass mit lideresa eine movierte Form gewählt wird, der die Real Academia Española die Form la líder vorzieht, 17 kann als Hinweis auf eine tendenziell progressive Feminisierung betrachtet werden. 18 Häufig erfolgt die Sichtbarmachung des femininen Geschlechts durch Nut‐ zung von Doppelformen. 19 Dabei ist auffällig, dass die Reihenfolge alterniert, die maskuline Form also manchmal an erster und manchmal an zweiter Stelle genannt wird: (10) el trabajo que realizan las voluntarias y los voluntarios (Podemos, Twitter, 05.12.2020), (11) el apoyo de miles de voluntarios y voluntarias (Podemos, Twitter, Retweet Vicepresidencia de Derechos Sociales y Agenda 2020, 05.12.2020), (12) Feliz día, navarros y navarras (Podemos, Twitter, Retweet Pablo Iglesias, 03.12.2020), (13) los trabajadores y trabajadoras (Podemos, Twitter, Retweet Javier Sánchez Serna, 01.12.2020), (14) los derechos de las niñas y los niños (Podemos, Twitter, 20.11.2020), (15) para todos y todas (Podemos, Twitter, 19.11.2020), (16) Todo mi apoyo a las compañeras y compañeros del movimiento antiracista (Podemos, Twitter, Retweet Rita Bosaho, 15.11.2020), (17) el trabajo que desempeñan los y las riders (Podemos, Twitter, 13.11.2020). 350 Judith Visser Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang zwei Tweets von Podemos vom 2. Dezember 2020: Im ersten wird eine Rede des Parteichefs zitiert, in der dieser über medizinisches Personal und dessen Leistungen während der Corona- Pandemie spricht: (18) […] Es lo mínimo que podíamos hacer por todas las médicas, enfermeros y profesionales que se han jugado y se siguen jugando el tipo para protegernos a todos y a todas del COVID-19 (Podemos, Twitter, 2.12.2020). Iglesias nutzt den femininen Plural zur Bezeichnung der Ärztinnen und Ärzte - hier sind zweifellos nicht nur Medizinerinnen gemeint -, aber die maskuline Pluralform für Pflegerinnen und Pfleger - auch in diesem Fall sicherlich, ohne weibliches Personal ausgrenzen zu wollen. Er scheint durch dieses Vorgehen bewusst eine stereotype Zuschreibung ‚Ärzteschaft = männlich‘ - ‚Pflegeper‐ sonal = weiblich‘ aufbrechen zu wollen. Thematisch ähnlich gelagert ist ein Tweet der Partei vom gleichen Tag, in dem es nun aber unter Verwendung der eher stereotypen Formen heißt: (19) A ver cuanto tiempo tarda en enterarse de que también hacían falta médicos y enfermeras (Podemos, Twitter, 2.12.2020). Zahlreiche Beispiele belegen, dass auch auf Twitter nicht durchgängig femini‐ siert wird und es dabei sogar innerhalb eines Tweets zu Inkonsequenzen kommt: (20) proteger a los más vulnerables [… ] aquellos y aquellas que […] (Podemos, Twitter, 03.12.2020), (21) Gracias a todos los maestros y maestras (Podemos, Twitter, 27.11.2020), (22) Los millonarios en Madrid […] al resto de madrileños y madrileñas […] los contribuyentes madrileños (Podemos, Twitter, 26.11.2020), (23) Necesitamos tener presentes a las pioneras del deporte en España. Lilí Alvarez, Carmen Valero, Miriam Blasco […]. Para las niñas, y los niños, y también para las jóvenes y las que ya no lo somos tanto. Porque el deporte también es nuestro (Podemos, Twitter, Retweet Sofía Castañón, 19.11.2020). In Beispiel (20) steht bei los más vulnerables nur der maskuline Artikel, das Indefinitpronomen aquellos wird hingegen sowohl im Maskulinum als auch im Femininum gebraucht. Bei (21) stehen Pronomen und Artikel im Maskulinum Plural, bei maestros/ maestras werden wiederum beide Formen genannt. In (22) ist analog zu (5) und (6) zu beobachten, dass die auf die ‚Elite‘ referierende Bezeichnung los millonarios im Maskulinum steht, während ‚der Rest der Madrilenen‘ in beiden Genera genannt wird. Auch hier könnte es sich abermals um einen Zufall handeln, aber eine systematischere Untersuchung der Frage, ob in populistischen Diskursen eine Verbindung zwischen ‚Elite‘ und dem Merkmal ‚männlich‘ etabliert 351 Ideologie und Gender wird - unbewusst oder bewusst -, erscheint durchaus lohnenswert. Beispiel (23) schließlich ist insofern interessant, als es zentral um Sportlerinnen zu gehen scheint, im Fall der niños, nicht aber der jóvenes, jedoch offenbar das Bedürfnis verspürt wurde, explizit auch auf männliche Sportler zu referieren. Die Beispiele (24) bis (27) belegen weitere Varianten der Geschlechterbezeich‐ nung: mit barra, einmal beginnend mit dem femininen Genusmarker, zweimal mit dem maskulinen, oder mit @-Zeichen: (24) como pasa con los riders y muchas otras tabajadoras/ es (Podemos, Twitter, Retweet Yolanda Días, 29.11.2020), (25) Es inadmisible que […] deje en la calle a más de 1000 profesores/ as (Podemos, Twitter, Retweet Isabel Serra, 18.11.2020), (26) clase trabajadora que pagan los/ as consumidores/ as (Podemos, Twitter, Re‐ tweet Alberto Garzón, 12.11.2020), (27) el trabajo fundamental que están haciendo miles de vecin@s (Podemos, Twitter, Retweet Isabel Serra, 18.11.2020). Es werden wiederholt auch nicht das Genus markierende Substantive des Typs personas verwendet: (28) las personas trabajadoras (Podemos, Twitter, Retweet Enrique Santiago, 05.12.2020), (29) las personas migrantes (Podemos, Twitter, 16.11.2020), (30) las personas migradas. […] personas extranjeras (Podemos 2019b, Maßnahme 143). In (28), (29) und (30) vermeidet die Kombination aus personas und Adjektiv bzw. Partizip den expliziten Verweis auf das Geschlecht der Arbeiter*innen und Migrant*innen. In (31) bis (34) ermöglicht die Kombination aus persona(s) bzw. colectivo mit trans und LGTBi ein Aufbrechen der Binarität bei Genderbezeich‐ nungen: (31) las personas trans (Podemos, Twitter, 21.11.2020), (32) una Persona LGTBi (Podemos, Twitter, Retweet Sofía Castañón, 18.11.2020), (33) las personas lgtbi (Podemos, Twitter, Retweet Irene Montero, 14.11.2020), (34) el colectivo LGTBi (Podemos, Twitter, 16.11.2020; Podemos 2019b, Maßnahme 145). In Beispiel (18) war beobachtet worden, dass Pablo Iglesias - vermutlich bewusst - den femininen Plural zur Bezeichnung gemischtgeschlechtlicher Gruppen verwendet. Gleiches kann für die Gleichstellungsministerin Irene Montero angenommen werden, deren Nachricht zur EU-Konferenz zu Gleichstellung am 352 Judith Visser 23.11.2020 von der Partei retweetet wird. Aus dem deutschen Beitrag und der Videoleinwand, die im Tweet zu sehen sind, ist abzulesen, dass es sich um eine gemischtgeschlechtliche Konferenz gehandelt hat - bei der Frauen allerdings deutlich in der Überzahl waren. Montero schreibt aber von einer (35) reunión con ministras europeas de igualdad (Podemos, Twitter, Retweet Irene Montero, 23.11.2021). Auch im nationalen Programm von Podemos von 2019 heißt es in der Maßnahme 86: (36) la desigualdad de base que hace que hoy solo un cuarto de las estudiantes de Ingeniería y Arquitectura sean mujeres (Podemos 2019b, Maßnahme 86). Die Belege deuten darauf hin, dass die Partei bewusst bei gemischtgeschlecht‐ lichen Gruppen zumindest bisweilen die feminine Pluralform verwendet. Sie scheint dies insbesondere bei prestigeträchtigen Berufen bzw. Ämtern (Ärzt*innen, Minister*innen, Ingenieur*innen, Architekt*innen) zu tun, mögli‐ cherweise um ausdrücklich sichtbar zu machen, dass auch weibliche Personen diese bekleiden. Wie eingangs bereits angemerkt, nutzt die Partei bei Wahlbündnissen den Slogan Unidos bzw. Unidas Podemos. Der das Genus markierende Vokal bietet sich dabei für den Ersatz durch Symbole an. Auf einem Wahlplakat (Podemos Getafe 2016) wird er beispielsweise durch ein Herz in Regenbogenfarben substituiert, das häufig für die LGTBi-Bewegung steht. Auch Twitter und andere, insbesondere digitale Kommunikationsformen bieten Potenzial für eine multimodale Elemente nutzende Markierung von Geschlechterkategorien, die die traditionelle Binarität aufzubrechen helfen. 4.2.4 VOX Verglichen mit Podemos und analog zu den Beobachtungen in Frankreich sind die Analyseergebnisse zur rechtspopulistischen Partei VOX von geringer Vielfalt geprägt. Die Auswertung bezieht sich dabei neben dem Korpus aus Twitternachrichten auf die 100 medidas para la España Viva (VOX 2019b). Bei klarer weiblicher Referenz erfolgt, wie beim Rassemblement National, eine Verwendung der femininen Form: (37) nuestra diputada (VOX, Twitter, Retweet Grupo Parlamentario de VOX, 19.11.2020), (38) Las feministas (VOX, Twitter, Retweet Carla Toscano, 19.22.2020), (39) la gobernante [scil. Isabel la Católica] (VOX, Twitter, 26.11.2020), (40) la Vicepresidenta (VOX, Twitter, Retweet Rocio Monasterio, 25.11.2020). 353 Ideologie und Gender 20 Die NGRAE (2009, §2.6c) merkt lediglich in Bezug auf den Beruf der Soldatin an: „es común también las mujeres soldado(s).“ Die Einträge im Diccionario der Real Academia führen bei allen drei Berufsbezeichnungen die Movierung auf -a an (cf. RAE 23 2014, s. v.). Recherchen im Internet zu mujer arquitecto, mujer médico führten wiederholt zu Ergebnissen, die sich explizit auf Pionierinnen in diesen Berufsfeldern bezogen, z. B. zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Auch dies deutet darauf hin, dass diese Form der Gendermarkierung heute nicht mehr usuell ist. In diesem Zusammenhang allenfalls auffällig ist der Tweet von Rocio Monas‐ terio vom 10.11.2020, in dem diese Stellung nimmt zu einer Initiative Carmen Calvos (Vize-Premierministerin in der Regierung Sánchez, PSOE), Mädchen für MINT-Fächer zu begeistern: (41) Dice Calvo que hay que ‚arrastrar a las niñas‘ a las ciencias… Qué frase más humillante; ¡nos quieren tutelar, arrastrar, controlar como si fuéramos tontas! A las diputadas arquitectos, ingenieros, médicos de @vox.asambleamad no nos ha arrastrado nadie (VOX, Twitter, Retweet Rocio Monasterio, 10.11.2020). Hier verwendet sie das feminine diputadas, aber in Kombination mit dem maskulinen Plural arquitectos, ingenieros, médicos. Inhaltlich verwahrt sie sich damit gegen Gender-Mainstreaming. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Konstruktion mujer + maskuline Berufsbezeichnung in der heutigen Nor‐ mendiskussion nahezu keine Rolle mehr spielt, 20 ist hier von einer markierten Verwendung der Form auszugehen. Eine Verwendung des generischen Maskulinums im Singular ist in den Dokumenten und Texten von VOX insgesamt üblich, z. B.: (42) esfuerzo del ciudadano (VOX, Twitter, 20.11.2020). Gleiches gilt für die maskuline Pluralform. Formen zur Bezeichnung eines ‚dritten Geschlechts‘ sind nicht belegt, allen‐ falls in abwertender Form (im vorliegenden Kontext: personas no binarias) in Gestalt einer Metonymie (opresión del color rosa; cf. Beispiel (43)), wohl aber Äußerungen, die explizit gegen die LGTBi-Bewegung Stellung nehmen: (43) se está gastando vuestro dinero en estudios sobre personas no binarias y la opresión del color rosa (VOX, Twitter, Retweet Carla Toscano, 01.12.2020), (44) no al lobby LGTB y feminista (VOX, Twitter, 19.11.2020). Die Analyse des nationalen Programms wie auch der Twitternachrichten stützt also die Erkenntnisse, die bei der vergleichenden Untersuchung der Europapro‐ gramme gewonnen wurden. 354 Judith Visser 21 Möglich wäre hier beispielsweise die Analyse der Kommunikation einzelner Poli‐ tiker*innen. Im Fall von Podemos ist beispielsweise zu bedenken, dass die prominent für die hier untersuchte Parteikommunikation verantwortlichen Mitglieder in Führungs‐ ämtern z. T. an der gleichen Universität sprachlich sozialisiert wurden, oder aber, dass Pablo Iglesias und Irene Montero im Untersuchungszeitraum ein Paar waren, drei Kinder haben und im selben Haushalt lebten. Aus der Tatsache, dass viele kommuni‐ kative Räume miteinander geteilt werden, können Ähnlichkeiten im Sprachgebrauch resultieren, die sich bei einer Ausweitung der Analyse auf andere Parteimitglieder nicht in derselben Intensität manifestieren müssen. 4.3 Gender und political correctness Bei der Auswertung der Texte der rechtspopulistischen Parteien ist deutlich geworden, dass feminine Funktionsbezeichnungen verwendet werden, die vor 20 Jahren möglicherweise noch nicht denkbar waren, die Verantwortlichen ansonsten aber konsequent auf das generische Maskulinum im Singular oder die maskuline Pluralform zurückgreifen. Dies mag angesichts aktueller Debatten als ein sehr konservatives Sprachverhalten anmuten, es kann aber nicht als gewichtiger Beleg für Provokation oder einen Kampf gegen political correct‐ ness gewertet werden. Auch die Texte von La France insoumise zeigen keine besonders gewagten Formen. Allenfalls im Fall von Podemos lässt sich eine ‚Fe‐ minisierung‘ ausmachen, die in Gestalt einer Normabweichung als provozierend und sehr markiert wahrgenommen werden könnte: Im Documento de feminismos (2020) spricht die Partei von (45) familias monomarentales (Podemos 2020, 18, passim). Parentales „relativo a los padres/ parientes/ progenitores“ (RAE 23 2014, s. v.) wird zu *marental modifiziert, wohl mit der Absicht, eine Paronymie zu madre herzustellen, die darauf verweist, dass alleinerziehende Mütter wesentlich häufiger der Realität entsprechen als alleinerziehende Väter. 5 Diskussion der Hypothesen Bei der Diskussion der Ergebnisse ist grundsätzlich zu berücksichtigen, dass nur ein Ausschnitt an Texten analysiert wurde. Es handelte sich immer um kommunikative Produkte, bei denen die Partei klar als Emittentin auftrat oder beispielsweise durch Retweets sprachliche Äußerungen als parteikonform ein‐ stufte. Daher ist davon auszugehen, dass eine Erweiterung des Emittent*innen- 21 und natürlich auch des Textsortenspektrums zu anderen Ergebnissen führen würde. Die erste Hypothese besagte, dass Linkspopulismus konsequent genderge‐ rechte Sprache verwendet, in der Feminisierungsformen progressiv sind, ggf. 355 Ideologie und Gender sogar unter Aufbrechen der Binarität, d. h. unter Verwendung von Bezeich‐ nungen, die ein ‚drittes Geschlecht‘ o. Ä. inkludieren. Die exemplarische Analyse hat deutlich gemacht, dass sowohl La France insoumise als auch Podemos das Ziel verfolgen, in ihrer Kommunikation gen‐ dergerechte Sprache zu verwenden. Im Fall der Partei Mélenchons lässt sich annehmen, dass es dabei sogar eine präferierte Form gibt, nämlich diejenige mit point médian. Gleichzeitig zeigt sich aber auch, dass die Feminisierung gerade in Wahlprogrammen alles andere als konsequent durchgehalten wird. Auch Podemos macht in der Kommunikation nicht immer Gebrauch von geschlech‐ tergerechter Sprache, das Bestreben, dies zu tun, schlägt sich aber umfassender nieder als bei La France insoumise. Gleichzeitig manifestiert sich eine erheblich größere Vielfalt an Formen, auch unter Einbezug von Symbolik und Farben. Der Versuch, im Bereich der Geschlechterbezeichnungen binäre Strukturen zu ver‐ meiden, ist bei Podemos zumindest in den untersuchten Texten ausgeprägter. Die Partei zeigt eine Affinität zum Gebrauch von Kollektiv- und genderindifferenten Bezeichnungen, deren vertiefte Analyse von Interesse sein könnte. Die Tatsache, dass Podemos dem Feminismus eine wichtige Rolle in der politischen Agenda einräumt, spiegelt sich klar auf Ebene des Sprachgebrauchs wider. Auffällig ist allerdings, dass in den untersuchten Texten keine metasprachliche Debatte über geschlechtergerechte Sprache zu finden ist. Die zweite Hypothese lautete, dass Rechtspopulismus gendergerechte Sprache (weitgehend) ablehnt und sich gegen die Integration eines ‚dritten Ge‐ schlechts‘ positioniert. Da auch in den untersuchten Texten von VOX und dem Rassemblement National keine metasprachlichen Aussagen über die Feminisie‐ rung von Amts- und Funktionsbezeichnungen ermittelt wurden, kann nicht von einer expliziten Ablehnung gendergerechter Sprache gesprochen werden. In Anbetracht der Tatsache, dass zumindest bei VOX eine sehr nachdrückliche Po‐ sitionierung gegen Forderungen der LGBTi-Bewegung erfolgt, ist anzunehmen, dass Überlegungen zur Sichtbarmachung eines ‚dritten Geschlechts‘ keinerlei Rolle spielen bzw. im Gegenteil vermutlich eher ausdrücklich abgelehnt werden. Die untersuchten Texte belegen durchgängig, dass das generische Maskulinum als geeignet erachtet werden, auch gemischtgeschlechtliche Gruppen zu be‐ zeichnen. Gleichzeitig ist aber festzustellen, dass bei weiblichen Personen feminine Amtsbezeichnungen verwendet werden. Die dritte Hypothese beruhte auf der Annahme, dass sowohl Linksals auch Rechtspopulismus mit einem Gebrauch von Gendermarkierungen provo‐ zieren, die als ‚inkorrekt‘ (im Fall von Rechtspopulismus: rückständig, im Fall von Linkspopulismus: gewagt) empfunden werden und eine Positionierung gegenüber political correctness implizieren. Eine klare Bestätigung oder ein 356 Judith Visser 22 Zu Wortspielen in der rechtsextremen Presse in Frankreich cf. Visser (2005; 2009). 23 Bei Podemos findet sich im untersuchten Textkorpus allerdings in einem Fall ein Beleg für ein provozierendes Wortspiel, nämlich corruPPto (Podemos, Twitter, 02.12.2020), ein blending („Blending can be defined as a process of word formation in which two (or, rarely, three) separate source items are telescoped into a new form, which usually exhibits overlapping and retains some of the meaning of at least one of the source items, but is rarely an exact synonym“, Cannon 2000, 952) aus corrupto und PP (Partido Popular; cf. Visser, angenommen). klares Widerlegen dieser Hypothese wäre nur dann möglich, wenn auch un‐ tersucht worden wäre - beispielsweise durch eine Analyse von Antworten auf Tweets -, ob es seitens der Rezipient*innen Reaktionen auf bestimmte Sprachverwendungen gibt. In den untersuchten Texten waren mit Ausnahme von monomarental allerdings kaum normabweichende Genderbezeichnungen zu ermitteln, bei denen die Annahme einer kontroversen Diskussion unter Leser*innen naheliegen würde. Die Textsorte ‚Wahlprogramm‘ eignet sich für Wortspiele dieser Art aber nur bedingt. Anders gelagert wäre dies z. B. bei ideologisch affinen Presseerzeugnissen 22 und vermutlich auch bei anderen kommunikativen Produkten, bei denen die Partei nicht offiziell als Emittentin auftritt. 23 Die Antwort auf die Frage danach, ob Positionierungen für oder gegen gendergerechte Sprache von links- und rechtspopulistischen Parteien als ‚Diktat der political correctness‘ wahrgenommen werden, kann damit basierend auf dem vorliegenden Material nicht beantwortet werden. Es ist allerdings anzunehmen, dass zumindest Podemos die Etablierung einer gendergerechten Sprache eher begrüßen würde. Die vierte Hypothese formulierte die Annahme, dass es ‚typisch populisti‐ sche‘ Tendenzen bei der Verwendung von Genderkategorien gibt. Einzelne Befunde zu La France insoumise und Podemos lassen das Forschungsdesiderat formulieren, Gendermarkierungen dahingehend zu untersuchen, inwiefern es charakteristische Verteilungen nach Freund-Feind-Bild gibt: Wenn Frauen, Homo-, Bi-, Trans- oder Intersexuelle im Linkspopulismus als zu inkludie‐ rende Gruppierungen konzeptualisiert werden, liegt es nahe, gendergerechter Sprache besondere Aufmerksamkeit zur Bezeichnung von Personen dieser Gruppierungen zuzugestehen. Im Umkehrschluss kann dies aber bedeuten, dass mit der Elite Attribute wie ‚männlich‘ oder ‚heterosexuell‘ assoziiert werden. Dies wiederum könnte zur Folge haben, dass eine dezidierte und konsequente Verwendung geschlechtersensibler Sprache zur Bezeichnung der Feindgruppe bewusst oder unbewusst ausbleibt. Hier manifestiert sich großes Forschungs‐ potential für korpusbasierte, aber auch für psycholinguistische Studien. Im Rahmen der fünften Hypothese wurde angenommen, dass der Gebrauch von Genderformen je nach Kommunikationsform und Textsorte variiert und 357 Ideologie und Gender 24 In Bezug auf die Debatten in Twitter ist allerdings anzumerken, dass eine alternative zeitliche Eingrenzung möglicherweise zu anderen Ergebnissen geführt hätte. So hatte Anfang 2020 eine von der Real Academia gebilligte Verfassungsänderung beispielsweise internationales Aufsehen erregt (cf. Schulze 2020; Basistext für die Änderungen war der Informe de la Real Academia Española sobre el lenguaje inclusivo y cuestiones conexas, RAE 2020). Ereignisse dieser Art dürften in sozialen Netzwerken, auch denjenigen von Parteien, Widerhall erzeugen. sich durch Pluralität und Variation auszeichnet. Einheitlichkeit und Kohärenz bei der Verwendung gendersensibler Sprache können darauf hindeuten, dass von Seiten der Parteiführung intern Vorgaben zum Sprachgebrauch gemacht werden. Es wäre denkbar, dass dies bei La France insoumise der Fall ist, weil die Sprachverwendung auf der Homepage der Partei eine gewisse Einheitlichkeit ausstrahlt. Die Motivation zur Nutzung geschlechtergerechter Bezeichnungen wäre damit eher extrinsisch. Liegt eine große Vielfalt an Feminisierungsbzw. LGTBi-Formen vor, könnte dies hingegen auf eine große Genderbewusstheit der Kommunizierenden hindeuten, die - unabhängig von der Parteilinie - bestrebt sind, Vielfalt sprachlich sichtbar zu machen. In einem solchen Fall hätte die Motivation zu gendersensibler Sprache einen deutlich intrinsischen Charakter. Für verallgemeinernde Aussagen wäre jedoch auch hier eine Ausweitung des untersuchten Korpus erforderlich. Die insbesondere bei La France insoumise zu beobachtende Tendenz, dass Gendermarkierung in Twitternachrichten geringer ausfällt als in thematisch korrespondierenden Beiträgen auf der Homepage der Partei, gibt Hinweise darauf, dass nähesprachlichere Kommunikation zur Verwendung des generischen Maskulinums neigen könnte - auch wenn sich Twitter nur bedingt als Beispiel für nähesprachliche Kommunikation eignet. Der Grad an Normiertheit der Textsorte scheint dagegen eine Zunahme an gendersensibler Sprache mit sich zu bringen. 6 Fazit Die vorliegende Untersuchung hat erste Antworten auf Fragen gegeben, dabei aber gleichzeitig sehr viele Forschungsdesiderata aufgezeigt. Aus den gewon‐ nenen Erkenntnissen lässt sich Verschiedenes ableiten: In den Jahren 2019 und 2020 hat in der politischen Debatte in Frankreich und Spanien die Frage nach gendersensibler Sprache keine so große Rolle gespielt, dass dies in Wahlprogramme aufgenommen worden wäre oder in Twitterdebatten zu metasprachlichen Diskursen geführt hätte. 24 Das Thema 358 Judith Visser 25 Cf. z. B. Podemos (2021), hingegen VOX (Congreso de los Diputados 2020): „VOX defiende a gritos que ‚la violencia no tiene género‘ y que la ley de 2004 es ‚puro hembrismo‘“. Für die französischen Parteien cf. z. B. Rassemblement National (2019c) und im Gegensatz dazu La France insoumise (2020). 26 Cf. exemplarisch s. a. (2014). 27 Cf. Echenique, Pablo, Facebook, Twitter; MEPs European Parliament (s. a.). Gender war allerdings durchaus präsent. Der Fokus lag dabei jedoch auf ‚Gewalt gegen Frauen‘. 25 Im konkreten Sprachgebrauch manifestiert sich bei den untersuchten links‐ populistischen Parteien der Wille zur Verwendung gendergerechter Bezeich‐ nungen. Podemos zeigt sich dabei sensibler gegenüber der Gruppe der LGTBi als La France insoumise. Der Sprachgebrauch der spanischen Partei ist charakteri‐ siert durch kreative Züge, sowohl auf der Ebene von Wortspielen als auch durch den Einbezug von Multimodalität. Die Frage nach der Berücksichtigung gender‐ gerechter Sprache ist damit - wenig überraschend - deutlich ideologisch moti‐ viert. Anzumerken ist allerdings, dass die extreme Rechte zumindest bei klarer weiblicher Referenz auf feminine Formen zurückgreift. Vor dem Hintergrund der Erkenntnisse aus Visser (2004) liegt der Wunsch nach (mikro-)diachronen Studien nahe: Sie würden Einsichten dahingehend erlauben, inwiefern bzw. in welchem Ausmaß durch gesellschaftliche Entwicklungen induzierte sprachliche Veränderungen Eingang in konservative Diskurse erhalten. Ob die Fokussierung von Analysen auf populistische Parteien einen Mehr‐ wert gegenüber einer vergleichenden Betrachtung unterschiedlicher ideologi‐ scher Gruppierungen allgemein hat, kann auf der Basis der vorliegenden Studie noch nicht beantwortet werden. Eine nach Freund-Feind-Kategorien ausdifferenzierte Untersuchung von geschlechtssensiblem Sprachgebrauch in populistischen Diskursen verspräche aber aufschlussreiche Erkenntnisse über die Art und Weise, wie das Feindbild der ‚Elite‘ in Bezug auf Gender konzeptu‐ alisiert wird. Zumindest in Bezug auf den Sprachgebrauch von Podemos muss auch die Frage gestellt werden, inwiefern der Fokus von Studien auf gendersensibler Sprache liegen sollte, oder ob nicht eine Auseinandersetzung mit diversitäts‐ sensibler Sprache allgemein eine angemessenere Perspektivierung darstellt. Podemos positioniert sich, beispielsweise über die Gestaltung von Wahlpla‐ katen, 26 als eine politische Bewegung, die jegliche Form von Diskriminierung aktiv bekämpft und sich jeder benachteiligten Minderheit annimmt. Körperlich Beeinträchtigte wie Pablo Echenique 27 spielen z. B. eine aktive Rolle und machen potentiell diskriminierte Personen nach außen hin deutlich sichtbar. Gerade im Zusammenspiel zwischen Text und Bild wäre die Auseinandersetzung mit der 359 Ideologie und Gender 28 Bis 2017 unter Carnets d’Espérances (2016). 29 Z. B. mit theoretischen Ansätzen der Bildlinguistik (cf. Diekmannshenke/ Klemm/ Stöckl 2011). Frage aufschlussreich, inwiefern gendersensible Sprache und eine gendersen‐ sible Darstellung einhergehen mit nach außen getragener Diversitätsbewusst‐ heit. Elementar für weitere Analysen zur ideologischen Prägung geschlechtssen‐ sibler Sprache dürfte auch die Beschäftigung mit einer größeren Pluralität an Textsorten und Gesprächstypen sein. Die Auswertung der Texte von La France insoumise hat untermauert, dass der Grad an Formalität der Situation Auswirkungen auf das Ausmaß des Gebrauchs gendersensibler Formen hat. Gerade populistische Parteien arbeiten umfassend mit Videomaterialien, d. h. sie verlinken auf ihren Webseiten, Twitteraccounts, Facebook usw. Mitschnitte von Reden, statt Comunicados/ Communiqués, Blogbeiträge o. Ä. in schriftlicher Form zu verbreiten, wie dies beispielsweise lange für den Front National (cf. Visser 2005), Marine Le Pen 28 oder Jean-Luc Mélenchon (cf. Visser 2019) üblich war. In der Mündlichkeit ergeben sich andere Herausforderungen und Möglichkeiten gendersensiblen Sprechens, die umfassender Untersuchungen bedürften. In Bezug auf Podemos haben Beobachtungen zur Integration von Regenbogenfarben, der Herzsymbolik, zur Farbe der Partei (morado), zum Gebrauch von Emojis auf Twitter u. Ä. deutlich gemacht, dass Text-Bild- Beziehungen bzw. multimodale Analysen 29 eine substantiellere Rolle bei der Untersuchung gendersensiblen Sprechens spielen sollten. Bibliographie Korpus Front National (2017): 144 engagements présidentiels, https: / / rassemblementnational.fr/ p df/ 144-engagements.pdf (31.12.2020). La France insoumise, Twitter: https: / / twitter.com/ franceinsoumise (02.01.2021). La France insoumise (s. a.): Les parlementaires de La France insoumise, https: / / lafrancein soumise.fr/ les-parlementaires-de-la-france-insoumise (28.12.2020). 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Os políticos profissionais rejeitam a igualdade de direitos para LGBTIQ* (Lésbicas, Gays, Bissexuais, Trans*, Inter* e Queer) e assumem uma posiç-o anti-feminista, por exemplo, opondo-se à liberalizaç-o da lei do aborto, que é mais restritiva no Brasil do que na Alemanha, por exemplo. Chegam ao ponto de conceituar LGBTIQ* e feministas como estando fora do povo que desejam representar. Em sua campanha anti-queer e anti-feminista, os Bolsonaros usam exaustiva‐ mente o termo ideologia de gênero, alinhando-se com outros oponentes da igualdade. A partir da genealogia deste termo, que revela alguns aspectos amplamente desconhecidos, seu uso nos textos do ,cl- Bolsonaro‘ é analisado linguisticamente. A análise é baseada em posts em blogs e tweets a partir de 2015, ano em que os políticos começaram a usar o termo nas formas textuais analisadas. Abstract The article focuses on the rhetoric of Brazil’s current president, Jair Messias Bolsonaro (2019-2023), and his sons Flávio, Carlos, and Eduardo Nantes Bolsonaro, who also hold high-level political offices. In Brazil, they are also referred to as the cl- Bolsonaro, the ‘Bolsonaro clan’. The professional politicians reject equal rights for LGBTIQ* and take an anti-feminist position, for example by opposing the liberalization of abortion law, which is more restrictive in Brazil than it is in Germany. They go so far as to conceptualize LGBTIQ* and feminists as outside the people they wish to represent. In their anti-queer and anti-feminist campaign, the Bolsonaros use the term gender ideology exhaustively, aligning themselves with other 1 Eine umfassende Analyse der antiqueeren Rhetorik von Jair Bolsonaro und seinen Söhnen Flávio, Eduardo und Carlos Nantes Bolsonaro nimmt Leschzyk (2022) vor. 2 ‚Heteronormativität‘ meint die Vorgabe von Heterosexualität als Norm. Die ‚Bina‐ rität der Geschlechter‘ bezeichnet die Existenz von genau zwei Geschlechtern: Mann und Frau. Ausführliche Definitionen dieser und anderer relevanter Begriffe beim Sprechen über Gender sind beispielsweise dem Gender Glossar (2021) zu entnehmen. Es handelt sich dabei um „ein transdisziplinäres Online-Nachschlagewerk, das wis‐ senschaftliche Beiträge zu Begriffen, Themen, Personen und Institutionen aus dem Bereich der Gender Studies beinhaltet“, wie auf der Startseite ausgeführt wird. opponents of equality. Starting from the genealogy of this term, which includes some widely unknown aspects, its use in texts of the Bolsonaros is analyzed linguistically. The analysis is based on blog posts and tweets from 2015, the year in which the Bolsonaros began to use the term in the text forms that are analyzed. Keywords: Genderideologie, Anti-Gender-Diskurs, Bolsonaro, Diskrimi‐ nierung, Politische Rhetorik 1 Einleitung Am 1. Januar 2019 trat Jair Messias Bolsonaro das Amt als 38. Präsident Brasiliens an. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich bereits einen zweifelhaften Ruf als misogyn, rassistisch und homophob erworben. Neben extremen Äuße‐ rungen wie der, dass es ihm lieber wäre, einer seiner Söhne sterbe bei einem Unfall, als dass er sich als schwul oute (Bolsonaro, zitiert nach Sebba 2011), ist seine politische Alltagskommunikation geprägt von vielfältigen verbalen Abstufungen der Ablehnung einer Gleichstellung der Geschlechter und sexu‐ ellen Orientierungen. So wird beispielsweise inklusiver sexualpädagogischer Unterricht diskreditiert, Diskriminierung relativiert und behauptet, Gleichstel‐ lungsmaßnahmen seien Privilegien, die marginalisierte Personen(-gruppen) über die Mehrheitsgesellschaft stellten. 1 Teil dieses vielschichtig negativen Bilds sexueller Orientierungen und Genderidentitäten, die binären und heteronormativen Vorstellungen nicht entsprechen, ist die Verwendung des Terminus Genderideologie als verkürzte Argumentation gegen die Gleichstellung. 2 Wie Werner Holly (1990, 86) in seinem Werk Politikersprache feststellt, ist das, „[w]as Begriffe so bedeutsam für die Propaganda macht, […] außer ihrem Appellcharakter ihre Funktion als elementare kognitive Raster für die Wahrnehmung von historischen und politischen Prozessen.“ Bei ‚Kampfbegriffen‘ - und als solcher lässt sich Gen‐ derideologie kategorisieren - handelt es sich um Ausdrücke, denen unterstellt 368 Dinah K. Leschzyk 3 Siehe z. B. Baader (2020), Geuchen/ Walther (2018), Hinsken (2015), Knobloch/ Vogel (2015), Mayer et al. (2018). werden kann, zur Instrumentalisierung für partikulare Interessen verwendet zu werden (cf. Nullmeier 2009, 9). Wie Frank Nullmeier (2009, 9) ausführt, werden diese Zwecke „im Begriff selbst verdeckt und verborgen.“ Das allge‐ meinsprachliche Wörterbuch Duden online (s. a.) definiert, ein Kampfbegriff ist ein „als Instrument des politischen Meinungskampfes dienender Begriff.“ In der Fachliteratur wird der Terminus häufig nicht näher bestimmt, selbst dann nicht, wenn er im Titel der jeweiligen Publikation verwendet wird, sodass von einem alltagssprachlichen Begriffsverständnis auszugehen ist. 3 Dezidiert setzt sich hingegen Fritz Hermanns (2012, 17) mit Kampfbegriff auseinander, wenn er darauf hinweist, dass Reinhart Koselleck (1972) diesen als einen von mehreren „Begriffsbegriffen […] en passant [kursiv i. O.] verwendet, ohne diese (sprechenden) Begriffe eigens zu erklären […].“ Hermanns (2012, 17; kursiv i. O.) erläutert wie folgt: Als ein Kampfbegriff ist offensichtlich ein Begriff ein Faktor der historischen Entwick‐ lung, insofern er als ein Instrument, als Waffe in der Politik benutzt wird, weil die Qualität der Waffe und die Art des Umgangs mit der Waffe mitentscheiden über Sieg und Niederlage. Mit Kampfbegriff ist die pragmatische Funktion bezeichnet, die ein Wort in der politischen Auseinandersetzung hat. Mit diesem Terminus empfiehlt sich also die „Begriffsgeschichte“ der besonderen Beachtung durch die soziopragmatisch interessierte Sprachgeschichte. Teresa Toldy und Júlia Garraio (2021, 544) definieren Genderideologie als „a concept adopted by a global movement to articulate opposition to gender equa‐ lity, abortion, sexual education, and LGBTQ rights in areas such as marriage, adoption, surrogacy, and reproductive technologies.“ Wie diese Definition zeigt, ist das Phänomen nicht auf Brasilien beschränkt. In Abschnitt 2 wird erläutert, wie der Terminus bekannt wurde, welche Akteur*innen für seine Verbreitung verantwortlich zeichnen und welche Konnotationen mit der Verwendung von Genderideologie als Kampfbegriff vermittelt werden. Unter 3. wird das Korpus vorgestellt, anhand dessen der Gebrauch von Genderideologie in den Texten der Bolsonaros analysiert wurde. Jair Bolsonaro gilt als ‚brasilianischer Donald Trump‘ und verdankt den sozialen Medien seine Bekanntheit. Seine Söhne verfügen ebenfalls über eine erhebliche Reichweite im Internet: Allein auf seinem persönlichen Twitter-Account verzeichnen Jair Bolsonaro 6,8 Millionen Follower, Flávio 1,6 Millionen, Carlos 2,1 Millionen und Eduardo Bolsonaro 2 Millionen (Stand: 31.05.2021), sodass die Tweets aller vier Politiker in das Korpus 369 Der Begriff ‚Genderideologie‘ im brasilianischen Anti-Gender-Diskurs aufgenommen wurden. Daneben umfasst das Untersuchungsmaterial Beiträge des Blog Família Bolsonaro. Dieser wird seit 2010 betrieben und umfasst 351 Einträge (Stand: 31.05.2021), die in der Regel nicht personalisiert, sondern im Namen der ‚Familie Bolsonaro‘ verfasst sind. Unter 4. werden die Ergebnisse der Analyse vorgestellt, untergliedert in Blogposts (cf. 4.1) und Tweets (cf. 4.2). Dabei stehen Kookkurrenzen, Kollokationen und Konnotationen im Mit‐ telpunkt. In Abschnitt 5 wird ein Fazit gezogen. 2 Begriffsgeschichte Das Lexem Gender geht etymologisch zurück auf das lateinische G E N U S ‘Abstam‐ mung, Geschlecht, Gattung, Art und Weise’ (cf. DWDS 2021a). Genus wird seit Beginn des 17. Jahrhunderts im Deutschen als grammatische Kategorie verwendet (cf. DWDS 2021b). Mitte des 20. Jahrhunderts (1955) führten John Money, Joan G. Hampson und John Hampson das englische Wort Gender zur Unterscheidung gesellschaftlich bedingter Aspekte von Geschlecht gegenüber dem biologischen Geschlecht (sex) in den Diskurs ein (cf. Toldy/ Garraio 2021, 2). Sie bezeichneten mit Gender „all those things that a person says or does to disclose himself or herself as having the status of boy or man, girl or woman“ (Money/ Hampson/ Hampson 1955, zitiert nach Toldy/ Garraio 2021, 544). Fortan wurde Gender als Analysekategorie in der Forschung verwendet (cf. Maier 2015, 50) und aufgrund seiner Operationalisierbarkeit für die Gleichstellungspolitik geschätzt (cf. Chołuj 2015, 219). Größere Bekanntheit erlangte der Terminus Gender in den 1970er Jahren durch die feministische Theorie (cf. Haig 2004, zi‐ tiert nach Toldy/ Garraio 2021, 544) und internationale Organisationen begannen damit, ihn in ihren Sprachgebrauch aufzunehmen (cf. Toldy/ Garraio 2021, 544). In den 1990ern wurde der Terminus Gender Studies in der Forschung gegenüber anderen Bezeichnungen wie zum Beispiel Women’s Studies und Feminist Studies bevorzugt, da er eine größere Neutralität aufwies (cf. Toldy/ Garraio 2021, 544, unter Verweis auf Purvis/ Weatherill 1999). Einem breiteren Publikum wurde der Terminus durch die Vierte Weltfrau‐ enkonferenz der Vereinten Nationen, die 1995 in der chinesischen Hauptstadt Beijing stattfand, bekannt. Auf der Frauenkonferenz wurden das Konzept des Gender Mainstreaming vorgestellt und „die Institutionen des Systems der Vereinten Nationen verpflichtet[…], den Gleichstellungsaspekt bei der Politikgestaltung zu berücksichtigen“ (Europäisches Parlament 2011, 10). Nicht alle Teilnehmer*innen der Konferenz befürworteten das Konzept, wie Bożena Chołuj (2015, 219) aufzeigt. Demnach sprachen sich vor allem Vertreter*innen des Vatikans sowie islamischer Staaten „[g]egen die Verwen‐ 370 Dinah K. Leschzyk dung des Begriffes gender“ (Chołuj 2015, 219) im Abschlussdokument aus. Das Jahr 1995 bildet folglich den Ausgangspunkt für die Entwicklung von Gender „zu einem politisch relevanten, bis heute umkämpftem [sic] Begriff […]“ (Chołuj 2015, 219). Wie der Ausdruck Genderideologie bekannt wurde, lässt sich fast ebenso punktgenau bestimmen wie im Falle von Gender. Zunächst - und das wird in der Auseinandersetzung mit dem Terminus vielfach nicht erwähnt - wurde gender ideology(ies) als analytisches Konzept in der Gender-Forschung verwendet, „with the meaning of sociocultural imaginaries which frame and construct gender roles“ (Toldy/ Garraio 2021, 545). Ideologie wurde hierbei als ‚kulturell konstruiert‘ - in Abgrenzung zu ‚natürlich‘ - verstanden (cf. Garraio/ Toldy 2020, 133, unter Verweis auf Philips 2001). Genderideologie wurde in feministi‐ schen Kreisen geschätzt „[a]s a terminology that sheds light on the socially constructed and unequal dimension of gender roles […]“ (Toldy/ Garraio 2021, 545). In der Forschung wurden u. a. ‚Genderideologie-Skalen‘ zur Differenzie‐ rung verwendet (cf. Toldy/ Garraio 2021, 545, unter Verweis auf Kroska 2000) und es wurde gezeigt, welche Aspekte den Geschlechtern in verschiedenen Gesellschaften zugeschrieben werden (cf. Toldy/ Garraio 2021, 545). Offengelegt werden konnte so, „how these constructions tend to rely on the heteronormative binary masculine/ feminine; to silence, discriminate, oppress, and/ or persecute nonbinary gender identities; and to legitimate the traditional subordination of women in patriarchal societies“ (Toldy/ Garraio 2021, 545). Chołuj (2015, 220) stellt heraus, dass es die katholische Kirche war, die ab 2000 „einen Anti-Gender-Diskurs beförderte, in dem der Begriff ‚Gender-Ideologie‘ als Negativfolie zur Gleichstellungspolitik kreiert und verankert wurde.“ Auch Toldy/ Garraio (2021, 544) sehen „the origins of the attacks on ‚gender ideology‘ in Vatican documents“, verorten den Beginn des pejorativen Gebrauchs mit Mitte der 1990er Jahre aber etwas früher (cf. Toldy/ Garraio 2021, 545). Sie explizieren, „a conotaç-o negativa subjacente ao termo ‚ideologia de género‘ foi inventada pela Igreja Católica como uma forma de associar ‚questões críticas‘, como ‚a ordem de género, família e sexualidade‘“ (Garraio/ Toldy 2020, 134). Unter Verweis auf Korolczuk (2016) führen Garraio/ Toldy (2020, 134) aus, es handle sich um „uma forma de se opor tanto à emergência do debate sobre os direitos de reproduç-o das mulheres, o aborto, a homossexualidade, o casamento entre pessoas do mesmo sexo, como a programas de educaç-o que incluem questões relacionadas com o género.“ Wie Garraio/ Toldy (2020, 134) weiter bemerken, spiegle sich in den Dokumenten des Vatikans „o ‚pânico‘ [wider,] que a Igreja sente de perder o controlo sobre as sociedades.“ 371 Der Begriff ‚Genderideologie‘ im brasilianischen Anti-Gender-Diskurs Als ersten Beleg der Pejorativbildung „Gender-Ideologie“ verweist Chołuj (2015, 220-221) auf den Päpstlichen Rat für die Familie und seinen Text Ehe, Familie und ‚faktische Lebensgemeinschaften‘ (2000). Im Kapitel „Die ‚faktischen Lebensgemeinschaften‘“ unter der Überschrift „[d]ie persönlichen Gründe und der kulturelle Faktor“ wird ausgeführt: In diesem Prozeß kultureller und menschlicher Entstrukturalisierung der Ehe als Institution darf man die Auswirkung einer gewissen „Gender-Ideologie“ nicht unter‐ schätzen. Das Mann- oder Frausein sei grundsätzlich nicht geschlechts-, sondern kulturbedingt. Diese Ideologie höhlt die Fundamente der Familie und der zwischen‐ menschlichen Beziehung aus. Aufgrund ihrer Bedeutung in der heutigen Kultur und aufgrund ihres Einflusses auf das Phänomen der faktischen Lebensgemeinschaften, empfiehlt es sich daher, sie eingehender zu untersuchen. (Päpstlicher Rat für die Familie 2000) An anderer Stelle im Dokument heißt es, „[g]ewisse radikale kulturelle Einflüsse (wie die ‚Gender-Ideologie‘, von der bereits oben die Rede war) schaden der Familie als Institution“ (Päpstlicher Rat für die Familie 2000). Über die zitierte Stelle hinaus wird ‚Genderideologie‘ in den Kontext von Radikalität gesetzt. Zudem habe u. a. „der Marxismus […] zur Gender- Ideologie beigetragen“ (Päpstlicher Rat für die Familie 2000), wie in einer Fußnote behauptet wird. Teil dieser Anmerkung ist die Nennung einer Reihe von Autor*innen, die die sogenannte ‚Genderideologie‘ beeinflusst hätten. So wird „in arbiträrer Weise die ‚Gender-Ideologie‘ an einige Autor_innen ge‐ bunden und dadurch vordergründig historisch verankert“ (Chołuj 2015, 221). Wie Garraio/ Toldy (2020, 136) erläutern, wird der konstruierte Zusammen‐ hang von ‚Genderideologie‘ und Marxismus wie folgt begründet: „O objetivo final da ‚ideologia de género‘ como uma nova configuraç-o do marxismo seria acabar com a família e o casamento monogâmico, a fim que as mulheres possam ocupar o seu lugar na produç-o económica.“ Der Wortbestandteil Ideologie trage, wie Richard Miskolci und Maximiliano Campana (2017, 727) bemerken, zu negativen Konnotationen bei, da er Genderideologie mit „di‐ versos totalitarismos, incluindo o nazismo e o comunismo“ gleichsetze. Wie im Diskursatlas Antifeminismus (2021) konstatiert wird, „[folgt] [d]er Ideo‐ logie-Vorwurf […] dabei einem eher umgangssprachlichen Verständnis von Ideologie.“ Ideologie meine, wie Stefanie Mayer, Edma Ajanovic und Birgit Sauer (2018, 41) herausstellen, in diffamierender Absicht verwendet, ‚falsches Bewusstsein‘ und verweise „assoziativ auf Bedeutungsfelder um Begriffe wie ‚realitätsfremd‘, ‚praxisfern‘ und ‚gegen den gesunden Menschenverstand‘, aber auch auf ‚autoritäre‘ und ‚undemokratische Durchsetzung‘.“ Den Aspekt 372 Dinah K. Leschzyk 4 Damals noch unter dem Namen Conselho Episcopado Latino-americano e do Caribe. Der Teil e do Caribe ist mittlerweile entfallen und die Schreibung von Latino-americano erfolgt ohne Bindestrich, wie der Homepage www.celam.org entnommen werden kann (Stand: 30.05.2021). Der Lateinamerikanische Bischofsrat wurde 1955 als „Regionalor‐ ganisation der katholischen Kirche“ (Werz 2013, 168) gegründet. Auch in aktuellen Dokumenten, wie dem Plan Global 2015-2019, stellt CELAM (2015, 32) ‚Genderideo‐ logie‘ überaus negativ dar. So findet beispielsweise eine Parallelisierung mit Gewalt und Drogenhandel statt, wenn es heißt, „[l]a juventud inmersa en el mundo urbano tiene grandes posibilidades de desarrollo, pero al mismo tiempo se enfrenta a grandes obstáculos como la falta de oportunidades en educación y empleo, así como el peligro latente de ser presa fácil de los grupos violentos y del narcotráfico. La ideología de género está influyendo fuertemente en su manera de concebir las relaciones con sus semejantes.“ des unterstellt Zwanghaften bringen auch Sabine Hark und Paula-Irene Villa (2015, 18) zum Ausdruck, wenn sie feststellen: Diese Ideologie, so die Unterstellung, dränge den Menschen wahlweise Vorstellungen von Geschlechterrollen auf oder wolle diese aberziehen und intendiere insgesamt, die Gesellschaft ihrer natürlichen Fundamente - Zweigeschlechtlichkeit und Hetero‐ sexualität - zu berauben. In Lateinamerika eröffnete der Consejo Episcopal Latinoamericano (CELAM) 4 in seinem Abschlussbericht einer Konferenz im Jahr 2007 den ‚Kampf ‘ gegen die ‚Genderideologie‘, wie Miskolci/ Campana (2017, 728) herausarbeiten. In dem 300-seitigen Documento de Aparecida, benannt nach dem brasilianischen Tagungsort, nennt CELAM (2007, 30) ‚Genderideologie‘ „[e]ntre os pressupostos que enfraquecem e menosprezam a vida familiar […].“ Ausgeführt wird, ‚Gen‐ derideologie‘ besage, „cada um pode escolher sua orientaç-o sexual, sem levar em consideraç-o as diferenças dadas pela natureza humana“ (CELAM 2007, 30). Dies habe zu Gesetzesänderungen geführt, „que ferem gravemente a dignidade do matrimônio, o respeito ao direito à vida e a identidade da família“ (CELAM 2007, 30). Verwiesen wird an dieser Stelle auch auf das bereits zitierte Dokument Ehe, Familie und ‚faktische Lebensgemeinschaften‘ des Päpstlichen Rats für die Familie (2000), was die Rezeption dieses Textes in Lateinamerika belegt. Weiter heißt es, die Familie sei „um dos tesouros mais importantes dos povos latinoamericanos e caribenhos e é patrimônio da humanidade inteira“ (CELAM 2007, 193). Da die Familie ‚bedroht‘ sei, betrachtet CELAM ihre ‚Verteidigung‘ als „um eixo prioritário de luta“ (Miskolci/ Campana 2017, 728). Das Bild eines ‚Kampfes‘ gegen die vermeintliche ‚Genderideologie‘ ist seitens katholischer Autoritäten in Lateinamerika also bereits seit fünfzehn Jahren angelegt. Miskolci/ Campana (2017, 728) stellen folglich fest, „com o documento de Aparecida, a batalha contra a ‚ideologia de gênero‘ era declarada em toda a América Latina.“ Dieser 373 Der Begriff ‚Genderideologie‘ im brasilianischen Anti-Gender-Diskurs 5 Zur Verwendung des Terminus Genderideologie als Kampfbegriff in Österreich cf. Mayer/ Ajanovic/ Sauer (2018), in Deutschland cf. Schmincke (2016) und Diskursatlas Antifeminismus (2021). Gabriele Kuby beispielsweise titelt 2014 Gender - Eine neue Ideologie zerstört die Familie. Die AfD behauptet in ihrem Bundestagswahlprogramm (2017, 40) u. a., ‚Genderideologie‘ sei verfassungsfeindlich, ein Topos, der auch durch die Bolsonaros bedient wird, wie die folgende Analyse zeigt. 6 Die hierin dargelegte strategische Ausrichtung der brasilianischen Bildungspolitik gilt für eine ganze Dekade (2014-2024). Der Plan ist abrufbar über die Homepage des Bildungsministeriums (cf. Ministério da Educaç-o 2014). ‚Kampf ‘ sei „uma forma de resistência contra os recentes avanços que vêm se dando na América Latina em matéria de direitos sexuais e reprodutivos“ (Miskolci/ Campana 2017, 728). Zur Verbreitung des Ausdrucks Genderideologie - und zum damit verbun‐ denen Widerstand gegen sexuelle und reproduktive Rechte - trug in Latein‐ amerika ein 2010 erschienenes Buch des Argentiniers Jorge Scala mit dem Titel La ideología del género. O el género como herramienta de poder bei (cf. Miskolci/ Campana 2017, 725). Wie Miskolci/ Campana ausführen, beschreibt Scala ‚Genderideologie‘ als um instrumento político-discursivo de alienaç-o com dimensões globais que busca estabelecer um modelo totalitário com a finalidade de „impor uma nova antropologia“ a provocar a alteraç-o das pautas morais e desembocar na destruiç-o da sociedade. (Scala 2010, 8, zitiert nach Miskolci/ Campana 2017, 725) Als Zielsetzung seiner Publikation nannte Scala, „despertar consciências ador‐ mecidas, e ajudá-las a trabalhar por um mundo melhor“ (Scala 2010, 8, zitiert nach Miskolci/ Campana 2017, 725). In der Folge beriefen sich die unterschied‐ lichsten Protestbewegungen, „desde movimentos a favor da família tradicional até manifestações contra políticas de governos de esquerda“ (Miskolci/ Campana 2017, 726), auf Scala und den Kampf gegen die ‚Genderideologie‘. In Brasilien wurde ‚Genderideologie‘ 2011 zum Kampfbegriff, dem Jahr, in dem die gleichgeschlechtliche Partnerschaft als Uni-o estável homoafe‐ tiva gesetzlich verankert und als entidade familiar anerkannt wurde (cf. Supremo Tribunal Federal 2011; Miskolci/ Campana 2017, 738). 5 Im Zuge der Diskussionen um den Landesbildungsplan (Plano Nacional de Educaç-o, PNE, cf. DIRED 2015) in den Jahren 2013/ 2014 wurde der Terminus dann einem breiteren Publikum bekannt (cf. Menezes 2019). 6 Fortan wurde er auch zur Diskreditierung sexualpädagogischer Aufklärungskonzepte verwendet - und wird es bis heute. Sogar in seiner Amtsantrittsrede am 1. Januar 2019 bezieht sich Jair Bolsonaro auf ‚Genderideologie‘ und kündigt an, diese in seiner Regierungszeit zu bekämpfen: „Vamos unir o povo, valorizar a família, 374 Dinah K. Leschzyk 7 Zur Darstellung von Familien, die nicht den heteronormativen Vorstellungen des amtierenden brasilianischen Präsidenten entsprechen, cf. Leschzyk (2020b). 8 Darüber hinaus wird expliziert, es gelte die Ehe zu schützen. So wird beispielsweise Papst Franziskus mit den Worten zitiert, „[d]er große Feind der Ehe ist die Gender- Theorie“ (zitiert nach Staub 2016). Der Ausdruck Gender-Theorie wird teilweise parallel zu Genderideologie verwendet, ersetzt letzteren bisweilen aber auch ganz. Weiter heißt es, es gäbe „einen Weltkrieg, um die Ehe zu zerstören“, der durch „ideologische Kolonisierung“ geführt werde (Papst Franziskus, zitiert nach Staub 2016). respeitar as religiões e a nossa tradiç-o judaico-crist-, combater a ideologia de gênero, conservando nossos valores. O Brasil voltará a ser um país livre de amarras ideológicas“ (Bolsonaro 2019). Der Auszug zeigt, dass ein Gegensatz zwischen ‚Gender‘ und ‚der Familie‘ - gedacht als heterosexuelle Kleinfamilie - erzeugt wird. 7 Die mit dieser Inszenierung verbundene Schlussfolgerung, es gelte, ‚die Familie‘ vor ‚Gender‘ zu schützen, ist eine Argumentationsweise, die von den höchsten Stellen der katholischen Kirche in der Vergangenheit wiederholt verwendet wurde (cf. Chołuj 2015, 219). 8 Dass es sich dabei um eine antifeministische Darstellungsweise handelt, verdeutlichen Garraio/ Toldy (2020, 135), indem sie feststellen: A proteç-o da definiç-o da família como uma entidade radicada na natureza significa a rejeiç-o do feminismo, uma vez que este é identificado com combates para uma compreens-o da igualdade como o desejo de as mulheres se tornarem homens, algo que é considerado um eclipse da mesma. In seinen Analysen The language of oppression spricht Haig A. Bosmajian (1983, 9) von „‚silly words and expressions‘ which have been used to justify the unjustifiable, to make palatable the unpalatable, to make reasonable the unreasonable, to make decent the undecent.“ Diese gelte es zu identifizieren, eine Aufforderung, der hier gefolgt werden soll, indem gezeigt wird, wie strategisch Jair, Flávio, Carlos und Eduardo Bolsonaro den Terminus ideologia de gênero im Rahmen ihrer antiqueeren Rhetorik verwenden. 3 Korpus Die Analyse des Gebrauchs des Terminus ideologia de gênero im brasilianischen Anti-Gender-Diskurs ist Teil einer größeren Studie zu antiqueerer Rhetorik in Brasilien. Das Korpus dieser Studie umfasst knapp 37.000 Tweets (1,5 Mil‐ lionen Wörter), 72 Blogbeiträge (31.000 Wörter) und 139 Kongressreden (89.000 Wörter) aus einem Zeitraum von zehn (Tweets und Blogbeiträge) bzw. zwanzig 375 Der Begriff ‚Genderideologie‘ im brasilianischen Anti-Gender-Diskurs 9 Der erfasste Zeitraum endete am 31.12.2019. 10 Für eine Darstellung der Genres ‚Blog‘ und ‚Twitter‘ aus pragmatischer Sicht cf. Yus (2011). 11 Flávio Bolsonaro richtete seinen Twitter-Account im Mai 2009 ein, Carlos Bolsonaro im August und Eduardo Bolsonaro im September des jeweils selben Jahres. 12 Zum Vergleich: Die geringste Anzahl (ca. 14 %) war bei Guilherme Boulos (PSOL - Partido Socialismo e Liberdade) zu verzeichnen, die höchste (ca. 64 %) bei Álvaro Dias (PODE - Podemos). Bei Luiz Inácio Lula da Silva (PT - Partido dos Trabalhadores) waren es ca. 22 % (cf. Lago/ Massaro 2018a). Das Studiendesign sowie weitere Ergebnisse werden in Lago/ Massaro (2018b) erläutert. Jahren (Kongressreden). 9 Im vorliegenden Beitrag findet eine Fokussierung auf den Online-Diskurs statt. 10 Für die Wahl des Microblogging-Dienstes Twitter spricht die Selbstinszenierung Jair Bolsonaros als ‚brasilianischer Trump‘. Ähn‐ lich wie Trump in seiner Amtszeit als US-Präsident (2017-2021) nutzt Bolsonaro Twitter regelmäßig zur Kommunikation (12.000 Kurzmitteilungen im Zeitraum April 2010 bis Juni 2021). Für seine Söhne gilt dies noch verstärkt: Flávio Bolsonaro lancierte bereits fast 14.000 Tweets, Carlos Bolsonaro über 18.000 und Eduardo Bolsonaro sogar 27.000 im Zeitraum 2009 bis 2021. 11 Den vier brasilianischen Politikern folgen jeweils zwischen 1,5 (@FlavioBolsonaro) und 6,8 Millionen (@jairbolsonaro) Twitter-Nutzer*innen. Zu berücksichtigen ist bei diesen Angaben allerdings die hohe Zahl an Fake-Profilen, von der in der politischen Kommunikation - wie auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen - auszugehen ist. Im Vorfeld der brasilianischen Präsidentschaftswahlen 2018 konnte beispielsweise nachgewiesen werden, dass ein Drittel aller Twitter-Ac‐ counts, die Jair Bolsonaro folgten, „perfis falsos controlados por computadores“ (Lago/ Massaro 2018a) waren. 12 Andererseits ist es nicht erforderlich, einem Account zu folgen, um die Tweets öffentlicher Profile wie die der Bolsonaros zu lesen. Gleiches gilt für eine Registrierung bei dem Microblogging-Dienst. Die Anzahl der Follower hat folglich nur eine bedingte Aussagekraft für die Ermessung der Reichweite publizierter Texte. Neben Tweets besteht das Korpus für die Analyse des Gebrauchs von ideologia de gênero in diesem Artikel aus Beiträgen des ‚Familienblogs‘ (http: / / familia bolsonaro.blogspot.com). Im Kontrast zu den anderen Profilen der Politiker in den sozialen Medien wirkt die Handhabung des Blog Família Bolsonaro unprofessionell: Immer wieder wird der Blog über längere Zeiträume nicht aktualisiert; der Zähler für Seitenaufrufe funktionierte zwischenzeitlich nicht; die Texte sind genreuntypisch lang. Anders als über Facebook und Co. folgen dem Blog nur einige Tausend registrierte Nutzer*innen. Die Posts werden kaum kommentiert. Oft liegt die Anzahl der Kommentare bloß im zweistelligen Be‐ reich - und das, obwohl sie anonymisiert vorgenommen werden können, sodass 376 Dinah K. Leschzyk 13 Der erfasste Zeitraum endete am 31.05.2021. gerade bei brisanten Themen keine Sanktionierung zu befürchten ist. Dies erstaunt mit Blick auf andere Kommunikationsformen wie Twitter, Facebook und Instagram, bei denen Posts der Bolsonaros schnell Reaktionen im fünfbis sechsstelligen Bereich erzeugen. Für die Analyse hingegen ist der beschriebene Umstand vielversprechend: Je weniger ein Kanal von einem professionellen Kampagnenteam moderiert wird, desto ungefilterter sind die veröffentlichten Texte. Der erfasste Zeitraum von Tweets und Blogposts beginnt mit der ersten Nutzung des zu untersuchenden Terminus ideologia de gênero in einem Tweet von Eduardo Bolsonaro im Juni 2015 und endet am 31.05.2021. Das Korpus, auf dem die im Folgenden vorgestellte Analyse beruht, setzt sich aus knapp 120 Belegen von ideologia de gênero in Texten der Bolsonaros zusammen: Zwölf Belege stammen aus Blogposts und über 100 Belege aus Tweets aller vier Politiker. Ihre Verteilung auf die Personen und Jahre zeigt Tabelle 1: Jahr/ Teilkorpus 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 13 ∑ Blog 1 7 3 1 - - - 12 Twitter 107 Carlos Bolsonaro 5 13 9 - - 2 - (29) Eduardo Bolsonaro 6 2 12 7 16 10 1 (54) Flávio Bolsonaro - 5 3 1 - - - (9) Jair Bolsonaro - 6 4 1 3 1 - (15) ∑ 12 33 31 10 19 13 1 119 Tab. 1: Zusammensetzung des Korpus Die Analyse der Gebrauchsweise von ideologia de gênero in Texten der Bolso‐ naros ist Gegenstand des folgenden Abschnitts. 377 Der Begriff ‚Genderideologie‘ im brasilianischen Anti-Gender-Diskurs 14 Der damalige CDU-Generalsekretär äußerte sich wie folgt: „Sprache, liebe Freunde, ist nicht nur ein Mittel der Kommunikation. Wie die Auseinandersetzung mit der Linken zeigt, ist Sprache auch ein wichtiges Mittel der Strategie. Was sich heute in unserem Land vollzieht, ist eine Revolution neuer Art. Es ist die Revolution der Gesellschaft durch die Sprache. Die gewaltsame Besetzung der Zitadellen staatlicher Macht ist nicht länger Voraussetzung für eine revolutionäre Umwälzung der staatlichen Ordnung. Revolutionen finden heute auf andere Weise statt. Statt der Gebäude der Regierungen werden die Begriffe besetzt, mit denen sie regiert, die Begriffe, mit denen wir unsere staatliche Ordnung, unsere Rechte und Pflichten und unsere Institutionen beschreiben“ (Biedenkopf 1973, 61, zitiert nach Girnth 2015, 73-74). 15 Siehe Klein (1989, 11, 15) auch zur Rolle von Schlagwörtern in der politischen Kommu‐ nikation; außerdem Spitzmüller/ Warnke (2011, 142-144), die u. a. eine Kategorisierung von Schlagwörtern (unter Verweis auf Armin Burkhardt 1998, 103) präsentieren. 16 Der Soziolinguist Norman Fairclough (2001, 93-95) erläutert, dass Kookkurrenzen das der Texterstellung zugrundeliegende Weltbild widerspiegeln und gleichzeitig zu dessen Erzeugung beitragen. Ihre Analyse ist dementsprechend zentraler Bestandteil einer Diskursanalyse, wie u. a. in Leschzyk (2016) am Beispiel des kolumbianischen Präsidentschaftswahlkampfs 2010 gezeigt wird. 17 Walther Dieckmann (1975, 77) legt die Bedeutung von Konnotationen mit Blick auf eine persuasionsorientierte Sprachbetrachtung im Rahmen der semantischen und pragma‐ tischen Analyse von Sprache in der Politik dar. Werner Holly (1985, 199-200) erläutert, dass „[e]ine der Aufgaben sprachwissenschaftlicher Analyse […] die Explizierung mitgemeinter, nur implikativ oder kompakt ausgedrückter Inhaltskomponenten […] [ist].“ 4 Ergebnisse der Analyse Wie Heiko Girnth (2015, 74) unter Verweis auf das in der Politolinguistik berühmte Zitat Kurt Biedenkopfs (1973, 61) zum Begriffe Besetzen  14 erläutert, „besteht Macht in der Politik vornehmlich auch darin, die Semantik von Wörtern parteispezifisch festzulegen, um die Deutungshoheit und zugleich auch die Verwendungshoheit über diese Wörter zu erlangen.“ Josef Klein (1989, 17, zitiert nach Girnth 2015, 74) spricht später von „Wortkampf “ und „Bedeutungskonkurrenz“. 15 Im Folgenden wird gezeigt, wie die Bolsonaros ideologia de gênero in Blogposts der Jahre 2015 bis 2018 (cf. 4.1) und Tweets der Jahre 2015 bis 2021 (cf. 4.2) verwenden. Der Fokus der Analyse liegt auf definitionsartigen Begriffsklärungen, etwa in Form erläuternder Zusätze in Klammern, die sich als Ausdruck höchsten Anspruchs auf Deutungshoheit verstehen lassen, sowie Kookkurrenzen, die u. a. die Anschlussfähigkeit an andere Diskurse eröffnen. 16 Weitere semantisch-pragmatische Kategorien, die bei der Analyse eine Rolle spielen, sind Kollokationen, Konnotationen und Implikationen. 17 Darüber hinaus wird auf Neologismen und semantische Felder eingegangen, die den Gebrauch des Terminus prägen. Zudem wird ein Einblick in die Nutzungsweise von Blog und Twitter sowie in die brasilianische Debatte 378 Dinah K. Leschzyk 18 Was die genauen Daten betrifft, ist zu bemerken, dass diese in den Blogposts fehlerhaft ausgewiesen sind. Dies zeigt sich u. a. an den Daten der Kommentare, die teilweise vor den Blogeinträgen liegen. 19 Die Textstelle lautet: „[…] contra ideias de implementaç-o da ideologia de gênero nas escolas, bem como o Projeto Escola Sem Partido […]“ (Blogpost 06.12.2016). Im erwähnten Projekt ‚Schule ohne Partei‘ wird gefordert, Schulbildung ‚ideologiefrei‘ zu gestalten. Dies beinhaltet die Ablehnung von Unterrichtsmaterialien zu sexueller Diversität. Schüler*innen sind darüber hinaus aufgefordert, ihre Lehrer*innen zu denunzieren, wenn diese das Thema Gender ansprechen. 20 2011 hatte Carlos Bolsonaro ein Gesetz angestoßen, „cujo conteúdo proíbe basicamente a circulaç-o de qualquer material que fale em diversidade sexual para o ensino fundamental (crianças de 6 a 12 anos) […]“, wie es in der Eigendarstellung heißt (Blog‐ post 24.03.2012). Der genaue Wortlaut des Gesetzesentwurfs (PL 1082/ 11, zitiert nach Chevalier 2012; Majuskeln im Original) lautet: „VEDA A DISTRIBUIÇÃO, EXPOSIÇÃO E DIVULGAÇÃO DE MATERIAL DIDÁTICO CONTENDO ORIENTAÇÕES SOBRE A DIVERSIDADE SEXUAL NOS ESTABELECIMENTOS DE ENSINO FUNDAMENTAL E DE EDUCAÇÃO INFANTIL DA REDE PÚBLICA MUNICIPAL DA CIDADE DO RIO DE JANEIRO E DÁ OUTRAS PROVIDÊNCIAS.“ um die Einbeziehung von Genderdiversität in den Unterricht und weitere Antidiskriminierungsmaßnahmen gegeben. 4.1 Blogposts In den Blogposts der Bolsonaros wird das Lexem ideologia de gênero insgesamt zwölfmal genutzt (cf. Tab. 1). Die Belege finden sich in einem Text aus dem Jahr 2015, vier Texten aus dem Jahr 2016 sowie jeweils einem Text aus den Jahren 2017 und 2018. 18 Zwei der Beiträge sind insofern untypisch für den Blog Família Bolsonaro, als spezifische Urheber*innen ausgewiesen werden - i. d. R. steht entweder der Hinweis Postado por FAMÍLIA BOLSONARO oder es findet keine Kennzeichnung statt. Der erste dieser Beiträge ist auf den 06.12.2016 datiert. Der gepostete Text wird als E-Mail ausgewiesen, verfasst von Patrícia Alessandra und adressiert an Jair Bolsonaro. In Syntax, Wortwahl und Argumentationsweise gleicht dieser jedoch den anderen Blogbeiträgen. Es ist daher zu vermuten, dass es sich um eine fingierte Verfasserin handelt und der Text von denselben Urheber*innen stammt wie der Rest des Blogs. Die Gebrauchsweise von ideologia de gênero beschränkt sich darin auf die Verortung in der Schulbildung. 19 Dass sich Carlos Bolsonaro, Stadtrat von Rio de Janeiro seit 2001 (laufende Amtszeit 2020-2024), gegen die Einführung inklusiven Sexualkundeunterrichts gewendet hat, wird ihm in dem Text hoch angerechnet. 20 Der zweite dieser Blogposts stammt vom 12.11.2017. Es handelt sich dabei um den Auszug eines Artikels, der zwei Tage zuvor in der brasilianischen Zeitschrift Veja erschienen ist und gemeinsam von fünf Journalist*innen verfasst 379 Der Begriff ‚Genderideologie‘ im brasilianischen Anti-Gender-Diskurs 21 2018 wurde Lula da Silva aufgrund von Korruptionsvorwürfen verurteilt, sodass er nicht kandidieren konnte. Später wurde das Urteil revidiert und der Schuldspruch annulliert. 22 Die Bolsonaros sprechen sich für eine Liberalisierung des Waffenrechts aus. Sie vertreten die Ansicht, „[s]ó um cidad-o de bem armado pode parar um criminoso armado. […] os bandidos sempre encontrar-o um jeito de obter ilegalmente suas armas“ (Tweet E. Bolsonaro, 21.03.2018). 23 Der dritte Beleg wird weiter unten erläutert. 24 Die Hervorhebungen in Kursivdruck in diesen sowie allen folgenden Beispielen stammen von mir. Majuskeln, die von den Verfasser*innen in den Blogposts und Tweets gesetzt wurden, wurden beibehalten. wurde (cf. Venaglia et al. 2017). In diesem wird der Sprachgebrauch von fünf brasilianischen Politikern analysiert, die für die Präsidentschaft 2019-2023 kandidieren wollten, darunter Luiz Inácio Lula da Silva und Jair Messias Bolsonaro. 21 Ideologia de gênero wird in dem im Blog zitierten Auszug, der sich ausschließlich auf die Rhetorik Jair Bolsonaros bezieht, insgesamt dreimal verwendet, beim ersten Mal als Teil einer Aufzählung von ‚heiklen Themen‘, bei denen der Politiker kontroverse Positionen vertrete - neben Homosexualität werden Einkommensverteilung und Entwaffnung 22 genannt -, beim zweiten Mal in einem Zitat Bolsonaros. 23 In diesem behauptet er, ‚Genderideologie‘, die mit Sexualkundeunterricht gleichgesetzt wird, ziele auf die ‘Sexualisierung unserer Kinder’, die als ‘das Heiligste, das wir haben’ attribuiert werden: 24 (1) Esse pessoal do PSOL que defende essas porcarias de ataque à família brasileira de levar a sexualizaç-o para as nossas crianças. Nossas crianças s-o os bens mais sagrados que nós temos. A criança tem que ser respeitada em sala de aula, n-o tem que ficar aprendendo essa porcaria de ideologia de gênero. A criança tem um ‚piu-piu‘ e esses vagabundos falam que ela pode ser uma mulher no futuro. Pode o cacete! (Blogpost 12.11.2017) Diese Darstellungsweise von ‚Genderideologie‘ ist im antiqueeren Diskurs konstitutiv: Sie findet sich in allen Blogtexten. Gleichsetzungen und Paralleli‐ sierungen von ideologia de gênero und sexualidade para crianças nas escolas werden dabei auf unterschiedliche Weise vermittelt: über einen Schrägstrich, etwa im Titel des Blogposts vom 04.05.2016 (2), durch Klammersetzung (3) oder durch Reihung über die Konjunktion e (dt. ‘und’) (4): (2) MAIS DETALHES SOBRE AS BATALHAS: IDEOLOGIA DE GÊNERO/ SEXUALIDADE PARA CRIANÇAS NAS ESCOLAS. (Blogpost 04.05.2016) (3) […] que já entendem a necessidade de se por um fim na ideologia de gênero (sexualidade para crianças) nas escolas da Prefeitura […]. (Blogpost 04.05.2016) 380 Dinah K. Leschzyk 25 Nahezu wortgleich in einem Blogpost, der auf den 26.10.2016 datiert ist: „[…] IDEO‐ LOGIA DE GÊNERO E SEXUALIDADE PARA AS CRIANÇAS NAS ESCOLAS DO RIO.“ 26 Im selben Stil ist ein Blogpost vom 26.08.2018 gestaltet, allerdings ausgerichtet auf Jair Bolsonaro und dessen Tätigkeit als Abgeordneter. In diesem wird ‚Genderideologie‘ erneut im Schulkontext verortet, jedoch nicht weiter erläutert: „14 BOLSONARO: COLÉGIO PEDRO II - IDEOLOGIA DE GÊNERO.“ 27 Weitere diskursprägende Kollokationen in diesem Bereich sind aprender a ser homosse‐ xual, ensinar a ser homossexual und estimular a ser homossexual (cf. Leschzyk 2022, 372). 28 In zwei anderen Blogposts (21.08.2016 und 26.10.2016), in denen sich nahezu identische Absätze zum Thema ‚Genderideologie‘ finden, wird das Alter sogar nur noch mit fünf Jahren angegeben und erneut die Darstellung in Klammern gewählt, um eine eigene Definition des Terminus zu platzieren: „[…] a IDEOLOGIA DE GÊNERO (ensino da temática sexualidade para crianças de 5 anos de idade).“ (4) […] IDEOLOGIA DE GÊNERO E SEXUALIDADE PARA AS CRIANÇAS NAS ESCOLAS DO RIO DE JANEIRO […]. (Blogpost 26.09.2016) 25 Nach demselben Muster erfolgt die Darstellung in einem Blogbeitrag vom 30.11.2015, in dem ein chronologischer Überblick der Arbeit Eduardo Bolsonaros in der brasilianischen Abgeordnetenkammer gegeben wird: 26 (5) Estive presente pressionando a Câmara Municipal de S-o Paulo que votaria a ideologia de gênero no Plano Municipal de Educaç-o. Covardia ensinar sexualidade/ homossexualidade para crianças de 5 e 6 anos de idade. (Blogpost 30.11.2015) Verwendet werden die Kollokationen ensinar sexualidade und ensinar homos‐ sexualidade als Doppelbegriff. Letztere geht über das Bild des ‚Lehrens von Sexualität‘ hinaus und stellt die sexuelle Orientierung als etwas ‚Erlernbares‘ dar. 27 Angesprochen wird damit der Topos von ‚Homosexualität als Verhalten‘. Dieser bildet die Basis bolsonarischer Argumentation gegen Antidiskriminie‐ rungsmaßnahmen und wird besonders oft als Rechtfertigung der Ablehnung einer Thematisierung von Gender im Unterricht angeführt. Impliziert wird dabei stets, dass Homosexualität etwas Unerwünschtes ist. Wie Gustavo Venturi (2010) erläutert, trägt die Konstruktion von sexueller Orientierung als Verhalten, die mit der Annahme, es handle sich um eine freie Entscheidung, einhergeht, zur Diskriminierung von LGBTIQ* bei. Prototypisch für den antiqueeren Diskurs der Bolsonaros ist über diesen Aspekt hinaus die Altersangabe der Zielgruppe sexualpädagogischer Aufklärung mit fünf und sechs Jahren. 28 Dass beispiels‐ weise die Unterrichtsmaterialien des Projekts ‚Schule ohne Homophobie‘, die die Bolsonaros fortwährend als kit gay diffamieren und mit Pädophilie in Verbindung bringen, für ältere Schüler*innen konzipiert sind, wird in der 381 Der Begriff ‚Genderideologie‘ im brasilianischen Anti-Gender-Diskurs 29 Siehe etwa ein Begleitheft für Lehrkräfte des Kit anti-homofobia (Escola sem Homofobia 2011, 16), in dem einige der Materialien für Kinder ab zehn oder sogar erst zwölf Jahren empfohlen werden. 30 Katrin M. Kämpf geht dieser Verbindung nach, indem sie das „Motiv der Beförde‐ rung von Pädophilie in Argumentationen des Antigenderismus“ analysiert sowie „Traditionen diese[r] Argumentationslinien“ (Kämpf 2015, 110) nachzeichnet. Daneben untersucht Kämpf, inwiefern „mit der Thematisierung der Kategorie Pädophilie An‐ schlussfähigkeit an gesamtgesellschaftlich geführte Debatten produziert wird, die den antifeministischen Krisendiskursen breitere Zustimmung verschaffen kann.“ Ihre These dazu lautet, „dass Pädophilieargumentationen die Imagination einer gefährdeten und unbedingt zu schützenden heteronormativen Ordnung stützen und sie plausibel erscheinen lassen“ (Kämpf 2015, 110). In ihrem Beitrag zeichnet sie Pädophilie-Dis‐ kurse ab 1896 nach und analysiert Pädophilie in ‚antigenderistischen‘ Diskursfeldern. Dabei arbeitet sie „die Aufrechterhaltung heteronormativer familiärer Ordnung“ als zentralen Punkt „in den meisten antigenderistischen Pädophilie-Argumentationen“ heraus (Kämpf 2015, 118-119). 31 Die Weltgesundheitsorganisation (WHO 1990, Code: ICD-10-GM, F65.4) definiert Pädophilie in der Kategorie ‚Störungen der Sexualpräferenz‘ als „[s]exuelle Präferenz für Kinder, Jungen oder Mädchen oder Kinder beiderlei Geschlechts, die sich meist in der Vorpubertät oder in einem frühen Stadium der Pubertät befinden.“ Wie Scherner et al. (2018, 11) erläutern, führt Pädophilie nicht unweigerlich zu Kindesmissbrauch. Gleichzeitig betonen die Autor*innen, dass nicht jeder sexuelle Missbrauch von Kindern pädophil motiviert ist. Diskussion konsequent ausgeblendet. 29 Die Fälschung von Altersangaben spielt für die Konstruktion eines Angstszenarios eine zentrale Rolle, wie Elisabeth Tuider (2016, 180) mit Blick auf die Debatte in Deutschland und unter Verweis auf die Berichterstattung 2014/ 2015 feststellt: Um diese Sorgen und Ängste zu schüren, wurde die schulische Sexualerziehung vom Jugendalter weit ins Kindesalter verlegt: im Verlauf eines halben Jahres wurden die Altersangaben der Jugendlichen in den sexualpädagogischen Methodensammlungen von den Medien von 14 auf 7 Jahre reduziert, d. h. die für die außerschulische und schulische Bildungsarbeit konzipierten Methoden auf Kinder projiziert und damit das scheinbare Argument der „Frühsexualisierung“ als solches erst durch die medial heruntergespielten Altersangaben ‚belegt‘. Das Alter ist für die systematische Konstruktion einer diskursiven Verbindung von Sexualkundeunterricht und Pädophilie zentral. 30 Pädophilie wird in dieser Darstellungsweise synonym gesetzt zu sexuellem Kindesmissbrauch. Es handelt sich dabei um eine undifferenzierte, umgangssprachliche Begriffsverwendung. 31 Aufklärungsunterricht - und die mit diesem gleichgesetzte ‚Genderideologie‘ - wird im antiqueeren Diskurs als ataque à família brasileira (dt. ‘Angriff auf die brasilianische Familie’, cf. Beispiel 1) betrachtet. Jair Bolsonaro bezeichnet ‚Genderideologie‘ dabei wiederholt als porcaria (dt. ‘Sauerei’) - indirekt sowie 382 Dinah K. Leschzyk 32 Durch die blaue Schrift, mit der die Aufzählung vom Fließtext abgesetzt wird, was im Blog i. d. R. auf eine Verlinkung hinweist, sowie den einleitenden Hinweis „Sobre o que Jair Bolsonaro tem falado“ wirkt es, als seien andere Seiten verlinkt. Diese lassen sich jedoch nicht (mehr) aufrufen (Stand: Juni 2021). 33 Wie in Fußnote 16 erläutert, sind die angegebenen Publikationsdaten der Blogbeiträge nicht korrekt. Dies zeigt sich auch bei der Verknüpfung von Tweets und Blogposts. So twittert Eduardo Bolsonaro am 02.09.2016: „BLOG FAMÍLIA BOLSONARO: IDEO‐ LOGIA DE GÊNERO E SEXUALIDADE PARAS AS [sic] CRIANÇAS NAS ESCOLAS DO RIO DE JANEIRO“ und verlinkt den genannten Eintrag, der auf den 26.10.2016 datiert ist. Carlos Bolsonaro twittert am 15.09.2016: „EM QUE PÉ ANDA A IDEOLOGIA DE GÊNERO E SEXUALIDADE PARAS CRIANÇAS NAS ESCOLAS DO RIO DE JANEIRO“ und verlinkt denselben Blogbeitrag. In einem Tweet am 26.10.2016 zitiert Carlos Bolsonaro den Blogtitel erneut, diesmal mit einem vorangestellten „VENCEREMOS“ (dt. ‘wir werden gewinnen’), das auf den evozierten Kampf gegen die ‚Genderideologie‘ verweist (cf. die folgenden Ausführungen zur Kriegsrhetorik der Bolsonaros), und verlinkt den Blogpost abermals. 34 Dt. ‘Wo stehen wir mit der Genderideologie und Sexualität für Kinder in den Schulen Rios’. direkt - und nennt diejenigen, die sich für einen inklusiven Sexualkundeunter‐ richt einsetzen, vagabundos (dt. ‘Penner’) - ein Schimpfwort, das er regelmäßig gebraucht (cf. Leschzyk 2022, 202). Teil des zitierten Zeitungsartikels aus Veja ist eine Aufzählung der zentralen Themen Bolsonaros, darunter „Defesa da família tradicional brasileira, sem ideologia de gênero“ (Blogpost 12.11.2017). 32 Die Behauptung, dass ‚Genderideologie‘ eine ‚Gefahr‘ für die Familie darstellt und es gelte, diese zu verteidigen, ist ein zentrales Muster in den Texten der Bolsonaros, wie die im Folgenden vorgestellte Analyse der Twitter-Kommunikation zeigt. 4.2 Tweets Während bei den Blogtexten i. d. R. die Família Bolsonaro als Verfasserin in Erscheinung tritt, ermöglicht die Analyse der Twitter-Kommunikation eine differenziertere Sicht auf die Rhetorik der einzelnen Familienmitglieder. Im antiqueeren Diskurs stechen vor allem die Tweets von Carlos Bolsonaro hervor - sowohl im Hinblick auf ihre Quantität als auch auf die ausfallende Wortwahl (cf. Leschzyk 2022, 285-287). Carlos und Eduardo Bolsonaro beginnen 2015 damit, den Terminus ideologia de gênero in ihren Tweets zu nutzen; Jair und Flávio Bolsonaro folgen 2016. Alle vier Politiker äußern sich entsprechend der Muster, die bereits aus der Bloganalyse bekannt sind. An zwei Stellen ver‐ knüpfen sie die beiden Kommunikationsformen direkt miteinander: Carlos und Eduardo Bolsonaro verlinken denselben Blogpost, datiert auf den 26.10.2016, 33 und zitieren dessen Überschrift, „EM QUE PÉ ANDA A IDEOLOGIA DE GÊNERO E SEXUALIDADE PARA AS CRIANÇAS NAS ESCOLAS DO RIO.“ 34 Die Parallelisierung von ‚Genderideologie‘ und ‚Sexualität für Kinder‘ findet 383 Der Begriff ‚Genderideologie‘ im brasilianischen Anti-Gender-Diskurs 35 Flávio Bolsonaro twittert am 30.08.2016: „Sexualidade e ideologia de gênero para crianças nas escolas. #AquiN-o“. Gepostet wird zusätzlich ein Foto des Politikers mit demselben Text. 36 Die zitierten Beispiele 1 bis 14 sind in einer Tabelle im Anhang erfasst, in der zusätzlich zu Datum und Accountname die Twitter-ID angegeben ist, über die der Tweet direkt aufgerufen werden kann. 37 Im Queer Lexikon (2021) wird Transition definiert als „Prozess […], in dem eine trans Person soziale, körperliche und/ oder juristische Änderungen vornimmt, um die eigene Geschlechtsidentität auszudrücken. Dazu können Hormontherapien und Operationen gehören, aber auch Namens- und Personenstandsänderungen, ein anderer Kleidungsstil und vieles andere.“ sich auch in einem Tweet von Senator Flávio Bolsonaro, der ideologia de gênero mit neunmal (bei insgesamt 107 Belegen) am seltensten gebraucht. 35 Wie in 4.1 gezeigt, geben die Bolsonaros das Alter der Zielgruppe von ‚Genderideologie‘ im Unterricht mit 5 bis 6 Jahren an. Diese Altersangaben macht auch Carlos Bolsonaro in seinen Tweets: (1) hj na TV falando da importância ao combate à ideologia de gênero p/ crianças d 5 anos. Saiba + sobre nosso trabalho. (Tweet C. Bolsonaro, 14.11.2015) 36 (2) É ISSO Q VC QUER Q SEU FILHO DE 6 ANOS APRENDA NA ESCOLA? A ideologia de gênero continua sendo implementada pelos doutrinadores ideológicos! (Tweet C. Bolsonaro, 30.05.2017) In einer seiner Kurzmitteilungen geht der Politiker sogar noch weiter und behauptet, ‚Genderideologie‘ in der Schule sei auf Vierjährige ausgerichtet: (3) Ideologia de gênero p/ crianças de 4 anos de idade nas escolas. Junto de dezenas de parlamentares, vamos derrubá-la. (Tweet C. Bolsonaro, 04.04.2017) Jair Bolsonaro retweetet diesen Text seines Sohnes am 05.04.2017 und kom‐ mentiert: „Falou Moleque! “ Über die genannten Aspekte hinaus, die für den antiqueeren Diskurs typisch sind, ist die Twitter-Kommunikation von Carlos Bolsonaro durchzogen von Anfeindungen gegenüber Trans* - ein Phänomen, das auch für die Tweets von Eduardo Bolsonaro charakteristisch ist. Das Credo der beiden Brüder lautet, eine Person könne ihr Geschlecht nicht ‚ändern‘, nur weil sie dies ‚wolle‘. Unter Referenz auf verschiedene Tierarten sowie Objekte delegitimiert Carlos Bolsonaro in seinen Tweets wiederholt die Transition 37 - und dehumanisiert Trans*: 384 Dinah K. Leschzyk 38 Die explizite Gleichsetzung von LGBTIQ* mit einer Ideologie ist aus der Rhetorik polnischer Politiker*innen bekannt. Diese führte zu einer Kampagne, die Alice Bota in Zeit Online (2019) als „hoffnungsvoll[…] und zugleich erschütternd[…]“ bezeichnet. Unter dem Hashtag #JestemLGBT (‚#IchBinLGBT‘) schilderten LGBTIQ* Persönliches, um zu zeigen, dass sie Menschen und keine Ideologie sind. Das Lemma ‚Wir sind keine Ideologie‘ wird seither immer wieder verwendet, um der Dehumanisierung von LGBTIQ* entgegenzutreten. 39 Cf. den Beitrag „Corona-Kommunikation. Wie Jair Bolsonaro die Wissenschaft diskre‐ ditiert und Verschwörungstheorien befeuert“ (Leschzyk 2020a). (4) Segundo a ideologia de gênero esse c-o é um gato! Por quê? PORQUE ELE QUIS! (Tweet C. Bolsonaro, 13.06.2017) (5) Segundo a ideologia de gênero, o papel-o pode sim ser considerado carne! Basta querer e pronto! (Tweet C. Bolsonaro, 13.06.2017) Die Genderidentität wird in diesen Darstellungen mit äußeren Fremdzuschrei‐ bungen binärer Geschlechtlichkeit gleichgesetzt. Der Gebrauch des Terminus ideologia de gênero fungiert in der Interpretation des Stadtverordneten als affirmative Behauptung eines angeblich unzutreffenden Sachverhalts. Diese Darstellungsweise ist auch im Kontext des absoluten Wahrheitsanspruchs der Bolsonaros zu sehen, nach dem die konstruierte Gegenseite notorisch lüge, manipuliere und heuchle (cf. Leschzyk 2020b). Darüber hinaus findet sich in den Tweets von Carlos Bolsonaro eine in dieser Explizitheit im analysierten Korpus singuläre - und gleichermaßen folgenreiche - Umdeutung des Terminus ideologia de gênero: Der Stadtverordnete setzt diesen mit LGBT gleich: 38 (6) 1 milh-o de italianos v-o às ruas contra a ideologia de gênero (LGBT). http : / / goo.gl/ 7osrpw (via @revoltadoonline). (Tweet C. Bolsonaro, 23.06.2015) Das in Beispiel (6) angewandte Prinzip, nach dem auf einen zu definierenden Terminus eine in Klammern gesetzte erläuternde Ergänzung folgt, wird auch in den Blogtexten genutzt (cf. 4.1). Umdeutungen erscheinen auf diese Weise als Tatsachen, die nicht zur Diskussion stehen. Regelmäßig und in den unterschiedlichsten Kontexten fördern die Bolso‐ naros Verschwörungstheorien, so auch im antiqueeren Diskurs. 39 Sie stellen beispielsweise sexualpädagogischen Unterricht als eine Strategie der Linken dar, um Wähler*innenstimmen zu generieren. Carlos Bolsonaro behauptet in einem Tweet, die Linke ziele mit ‚Genderideologie‘ darauf, Referenzpunkte zu zerstören, um gescheiterte Militante zu erzeugen: 385 Der Begriff ‚Genderideologie‘ im brasilianischen Anti-Gender-Diskurs 40 Zur Begriffsgeschichte cf. Rudman (2012). 41 Cf. Beispiel 1 sowie einen Tweet von Eduardo Bolsonaro vom 19.09.2019, in dem der Abgeordnete schreibt: „Assisti e falei hoje na audiência pública requerida pela Dep. Fed. Chris Tonietto @ToniettoChris (PSL-RJ) sobre combate à ideologia de gênero e educaç-o.“ (7) E acham que ideologia de gênero e etc é falta do que fazer! A esquerda é inteligente: destrói referências e forma militantes fracassados. (Tweet C. Bolsonaro, 23.06.2015) Zu diesem Bild trägt auch Vokabular wie doutrinadores ideológicos (dt. ‘ideolo‐ gische Indoktrinierer’) und doutrinaç-o ideológica (dt. ‘ideologische Indoktrina‐ tion’) bei, das sowohl Carlos (cf. Beispiel 2) als auch Jair Bolsonaro in ihren Tweets in unmittelbare Nähe zu ideologia de gênero setzen: (8) Contra ideologia de gênero e doutrinaç-o ideológica nas escolas […] (Tweet J. Bolsonaro, 16.08.2018) Im Kontext der unterstellten Nähe zu totalitären Ideologien, die der Verwendung von ideologia de gênero in vielen Fällen inhärent ist (cf. Abschnitt 2), ist auch die Kontamination feminazismo erwähnenswert, die Eduardo Bolsonaro in direkter Abfolge auf ideologia de gênero nennt (cf. Tweet vom 23.09.2019). Die Wortbil‐ dungen feminazismo und feminazi werden in antifeministischen Diskursen verwendet; unterstellt wird, Feminist*innen seien totalitär und bedienten sich derselben Methoden wie die Nazis - ein Vergleich, der eine Verharmlosung des Holocaust bedingt und auf die grundsätzliche Disqualifizierung von Gleichstel‐ lungsbestrebungen zielt. 40 Es handelt sich dabei um eine rhetorische Strategie, die Johannes Volmert (2009 [1989], 141) in seinem Beitrag Politische Rhetorik des Nationalsozialismus beschreibt. Demnach werden „Verbindungslinien zwischen den Vertretern bzw. Intentionen der Fremdgruppe und einer dritten, von allen als ‚Feind‘ angesehenen Gruppe […]“ konstruiert, mit dem Ziel, „die Angehörigen der Fremdgruppe […] zwangsweise auf die ‚gemeinsamen‘ Normen und Werte (d. h. die der Eigengruppe) zu verpflichten, die Fremdgruppe darüber hinaus zu veranlassen, ‚inkriminierte‘ Teilgruppen zu denunzieren und schließlich auszustoßen“ (Volmert 2009 [1989], 141). Neben Eduardo Bolsonaro verwenden auch Carlos und Flávio Bolsonaro den Ausdruck feminazi in ihren Tweets (nicht allerdings zusammen mit ideologia de gênero). Eine Parallele in der Rhetorik aller vier Bolsonaros betrifft die Verwendung martialischen Vokabulars. So sprechen Carlos und Eduardo Bolsonaro beispiels‐ weise vom combate à ideologia de gênero (dt. ‘Bekämpfung der Genderideolo‐ gie’). 41 Carlos Bolsonaro verwendet die Kollokation derrubar a ideologia de gênero (dt. ‘die Genderideologie vernichten’) zweimal, Jair und Eduardo Bolso‐ 386 Dinah K. Leschzyk 42 Es handelt sich um eine Wortmischung aus esquerdo ‘Linker’ und dem aus dem Griechischen stammenden -pata, das „a noç-o de doença ou sofrimento“ (Dicionário Priberam 2008-2021, s. v. -pata) zum Ausdruck bringt. 43 Zur Positionierung der Bolsonaros bezüglich einer Liberalisierung des Waffenrechts cf. Fußnote 20. naro jeweils einmal (cf. Beispiel 3). Darüber hinaus spricht Carlos Bolsonaro von einer ‚Schlacht‘, die begonnen habe, und referiert damit auf den Bildungsplan für den Bundesstaat Rio de Janeiro, den er als ‚Genderideologie‘ versteht: (9) PLANO MUNICIPAL DE EDUCAÇÃO DO RIO DE JANEIRO - IDE‐ OLOGIA DE GÊNERO - A batalha começou (Tweet C. Bolsonaro, 18.03.2016) Flávio Bolsonaro evoziert sogar einen ‚Krieg gegen die Genderideologie‘ und wundert sich: (10) E ainda tem gente que n-o entendeu nossa guerra contra ideologia de gênero nas escolas para crianças. Bizarro! (Tweet F. Bolsonaro, 22.11.2017) Diesem ‚Krieg‘ setzt der amtierende Senator (2019-2027) antonymisch die folgende Forderung entgegen: (11) Deixem nossas crianças em paz, fora ideologia de gênero nas escolas […]. (Tweet F. Bolsonaro, 12.10.2016) Dieser Ausruf wird wörtlich und in leicht modifizierter Variante (deixem as crianças em paz) versatzstückartig in den Texten der Bolsonaros gebraucht (cf. Leschzyk 2022, 199). Jair Bolsonaro retweetet die Kurzmitteilung seines Sohnes (11) und kommentiert an die esquerdopatas  42 gerichtet, „deixem nossas crianças serem crianças, deixem nossas crianças em PAZ! “ (Tweet J. Bolsonaro, 13.10.2016). Weiterhin auffällig ist, dass sowohl Jair als auch Carlos und Eduardo Bol‐ sonaro ‚Genderideologie‘ mit Abtreibung in Verbindung bringen: Das Lexem aborto findet sich siebenmal in den 107 Tweets. In allen Fällen handelt es sich um Aufzählungen. Dreimal wird dabei auch die ‚Verteidigung der Familie‘ genannt (defendor da família, defesa da família, defender a família). Darüber hinaus werden mit ‚Entwaffnung‘ (desarmamento, desarmamentista) 43 und ‚Drogen‘ (je zweimal drogas und maconha, dt. ‘Marihuana’) auf diese Weise zwei Themen in Bezug gesetzt, die keine inhaltliche Nähe zu Gender haben. Eduardo Bolsonaro beispielsweise nutzt eine dieser Aufzählungen, um, unter Verweis auf das als fortschrittlich attribuierte Japan, ‚Genderideologie‘ im Unterricht als einen 387 Der Begriff ‚Genderideologie‘ im brasilianischen Anti-Gender-Diskurs Grund für das Zurückfallen Brasiliens in Technik und Bildung hinter andere Länder zu implizieren: (12) Após inserir a ideologia de gênero nas escolas, fala de sexo para crianças, proibir a entrada da PM [polícia militar, Anmerk. D. L.] em universidades e liberar a maconha para uso recretivo [sic], Jap-o dá salto tecnológico! (ironia, ok). (Tweet E. Bolsonaro, 16.12.2019) Auch Carlos Bolsonaro bringt das Lehren von ‚Genderideologie‘ mit einem Bildungsmissstand (hier: Analphabetismus) in Verbindung: (13) A EDUCAÇÃO PATROCINADA PELO PT: PROFESSOR S/ MORAL, LEI DA PALMADA, IDEOLOGIA DE GÊNERO, KIT GAY, ANALFABETISMO… (Tweet C. Bolsonaro, 30.12.2015) Bedient wird auf diese Weise einerseits der Topos der ‚Zeitverschwendung‘ einer Beschäftigung mit Gender im Unterricht sowie andererseits der Topos der ‚Unwissenschaftlichkeit‘ von Gender Studies. Letzteres hebt vor allem Eduardo Bolsonaro immer wieder hervor, der den Ausdruck ideologia de gênero in seinen Tweets auffallend oft verwendet. Dabei zeigt sich der Abgeordnete unversöhnlich: (14) Pessoal da ,direita light‘ que aceita fazer concessões a esquerda em temas como ideologia de gênero nada mais faz do que repetir os erros daqueles que achavam que a esquerda era democrática e o problema era apenas ceder em alguns pontos. Se deram mal. (Tweet E. Bolsonaro, 28.10.2019) 5 Fazit Seit über zwei Jahrzehnten wird der Terminus Genderideologie durch Gleichstel‐ lungsgegner*innen auf globaler Ebene verwendet, „para articular oposiç-o à igualdade de género, aos direitos reprodutivos da mulher, ao acesso ao aborto em segurança, à educaç-o sexual nas escolas e aos direitos das pessoas LGBTQ em áreas como casamento, adoç-o, maternidade de substituiç-o e tecnologias reprodutivas“ (Garraio/ Toldy 2020, 131). In Brasilien wurde der Terminus ab 2011 populär, dem Jahr, in dem die gleichgeschlechtliche Partnerschaft als Uni-o estável homoafetiva institutionalisiert und als entidade familiar anerkannt wurde (cf. Supremo Tribunal Federal 2011; Miskolci/ Campana 2017, 738). Ein zweites diskursives Ereignis bildet die Debatte um den Landesbildungsplan in den Jahren 2013/ 2014, in der Sexualkundeunterricht als ideologisch motiviert 388 Dinah K. Leschzyk diffamiert wurde, was zu einer Streichung des Wortes gênero aus dem Plan führte. Der rechte Kampfbegriff ideologia de gênero wird nicht nur in den Blogposts der Família Bolsonaro genutzt, sondern auch auf den persönlichen Twitter- Accounts aller vier Politiker. Die Bolsonaros verwenden den Terminus undiffe‐ renziert und setzen ihn u. a. mit inklusiver Bildungspolitik und Sexualkunde‐ unterricht gleich, von dem behauptet wird, er ziele auf die Sexualisierung der Schüler*innen. Ideologia de gênero wird in Folge dieser Konzeptualisierung mit ‚Sexualität für Kinder‘ gleichgesetzt. Die Inszenierung von ‚Genderideologie‘ umfasst aber nicht nur das ‚Lehren von Sexualität‘, sondern auch das ‚Lehren von Homosexualität‘, eine Kollokation, die die Sichtweise widerspiegelt, die sexuelle Orientierung sei ein Verhalten, das frei gewählt werden könne. Da Homosexualität in der Darstellung der Bolsonaros stark negativ konnotiert ist - u. a. durch einen kontinuierlich präsenten Pädophilievorwurf -, wird so die Ablehnung einer Thematisierung von Gender im Unterricht legitimiert. Für die systematische Konstruktion einer diskursiven Verbindung von Sexualkundeun‐ terricht und Pädophilie, die synonym zu sexuellem Kindesmissbrauch gesetzt wird, sind dabei falsche Altersangaben der Zielgruppe der Aufklärungskonzepte zentral. ‚Genderideologie‘ wird auf diese Weise als Gefahr für Kinder und die Familie inszeniert. Dass an einer Stelle im Korpus eine Gleichsetzung von ideo‐ logia de gênero und LGBT erfolgt, führt zu einer Übertragung dieser Inszenierung auf Menschen, die sich außerhalb der binären und heteronormativen Vorstel‐ lungen verorten - oder dort verortet werden. Dass eine ‚Gefahr‘ antonymisch nach ‚Schutz‘ und ‚Verteidigung‘ verlangt, ist semantisch naheliegend. Diese versprechen die Bolsonaros zu leisten. Das Lexem Genderideologie ist im antiqueeren Diskurs omnipräsent und bildet vielfach die Prämisse von Argumentationen. Die Dekonstruktion des Begriffs ist daher essenziell und zeigt, dass Auseinandersetzungen, die auf fal‐ schen Annahmen aufbauen, mittels logischer Argumentationen nicht entkräftet werden können. Wie die Analyse gezeigt hat, wird der Terminus Genderideologie strategisch genutzt, um Diversität zu diskreditieren und Bildungs- und Gleich‐ stellungspolitiken zu delegitimieren. Bibliographie Korpus Blog Família Bolsonaro, http: / / familiabolsonaro.blogspot.com (31.05.2021): (2018): ESTE É JAIR BOLSONARO, 26.08.2018, http: / / familiabolsonaro.blogspot.com/ 20 15/ 11/ bolsonaro-economia-e-das-relacoes.html (09.06.2021). 389 Der Begriff ‚Genderideologie‘ im brasilianischen Anti-Gender-Diskurs (2017): JAIR BOLSONARO: O QUE FALAM OS POSTULANTES À PRESIDÊNCIA, 12.11.2017, http: / / familiabolsonaro.blogspot.com/ 2017/ 11/ jair-bolsonaro-o-que-falam -os.html (09.06.2021). 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Diese lauten wie folgt: • Carlos Bolsonaro (@CarlosBolsonaro): https: / / twitter.com/ CarlosBolsonaro / status/ • Eduardo Bolsonaro (@BolsonaroSP): https: / / twitter.com/ BolsonaroSP/ status/ • Flávio Bolsonaro (@FlavioBolsonaro): https: / / twitter.com/ FlavioBolsonaro/ status/ • Jair Bolsonaro (@jairbolsonaro): https: / / twitter.com/ jairbolsonaro/ status/ 396 Dinah K. Leschzyk Nr. Account Datum Beitrag Tweet-ID 1 @CarlosBolsonaro 14.11. 2015 hj na TV falando da im‐ portância ao combate à ideologia de gênero p/ cri‐ anças d 5 anos. Saiba + sobre nosso trabalho. 665652319195934720 2 @CarlosBolsonaro 30.05. 2017 É ISSO Q VC QUER Q SEU FILHO DE 6 ANOS APRENDA NA ESCOLA? A ideologia de gênero con‐ tinua sendo implementada pelos doutrinadores ideo‐ lógicos! 869323590835077120 3 @CarlosBolsonaro 04.04. 2017 Ideologia de gênero p/ cri‐ anças de 4 anos de idade nas escolas. Junto de de‐ zenas de parlamentares, vamos derrubá-la. 849377832102973442 4 @CarlosBolsonaro 13.06. 2017 Segundo a ideologia de gê‐ nero esse c-o é um gato! Por quê? PORQUE ELE QUIS! @marisa_lobo 874685497876021248 5 @CarlosBolsonaro 19.03. 2017 Segundo a ideologia de gênero, o papel-o pode sim ser considerado carne! Basta querer e pronto! 843595248068673536 6 @CarlosBolsonaro 23.06. 2015 1 milh-o de italianos v-o às ruas contra a ideologia de gênero (LGBT). http: / / g oo.gl/ 7osrpw (via @revol‐ tadoonline). 613338000890679296 7 @CarlosBolsonaro 31.10. 2017 E acham que ideologia de gênero e etc é falta do que fazer! A esquerda é inteli‐ gente: destrói referências e forma militantes fracas‐ sados. 925293292706844672 8 @jairbolsonaro 16.08. 2018 O brasileiro desta vez tem a opç-o de escolher um Presidente que pegue FIRME CONTRA A BAN‐ DIDAGEM que apavora a populaç-o; Contra sai‐ dinha nas prisões; A favor do LIVRE MERCADO; Contra ideologia de gênero e doutrinaç-o ideológica 1030195503907196929 397 Der Begriff ‚Genderideologie‘ im brasilianischen Anti-Gender-Diskurs Nr. Account Datum Beitrag Tweet-ID nas escolas; CONTRA O DESARMAMENTO; 9 @CarlosBolsonaro 18.03. 2016 PLANO MUNICIPAL DE EDUCAÇÃO DO RIO DE JANEIRO - IDEOLOGIA DE GÊNERO - A batalha começou 710792296036495360 10 @FlavioBolsonaro 22.11. 2017 E ainda tem gente que n-o entendeu nossa guerra contra ideologia de gênero nas escolas para crianças. Bizarro! 933311306068905984 11 @FlavioBolsonaro 12.10. 2016 Feliz Dia das Crianças! Deixem nossas crianças em paz, fora ideologia de gênero nas escolas, #Fo‐ raFreixo 786276185722458112 12 @BolsonaroSP 16.12. 2019 Após inserir a ideologia de gênero nas escolas, fala de sexo para crianças, proibir a entrada da PM em uni‐ versidades e liberar a ma‐ conha para uso recretivo, Jap-o dá salto tecnológico! (ironia, ok). 1206541319012802560 13 @CarlosBolsonaro 30.12. 2015 A EDUCAÇÃO PATROCI‐ NADA PELO PT: PRO‐ FESSOR S/ MORAL, LEI DA PALMADA, IDEO‐ LOGIA DE GÊNERO, KIT GAY, ANALFABETISMO… http: / / twixar.me/ kTR 682288279417417728 14 @BolsonaroSP 28.10. 2019 Pessoal da ‚direita light‘ que aceita fazer conces‐ sões a esquerda em temas como ideologia de gênero nada mais faz do que re‐ petir os erros daqueles que achavam que a esquerda era democrática e o prob‐ lema era apenas ceder em alguns pontos. Se deram mal. 1188772542217105408 Tab. 2: Zitierte Tweets 398 Dinah K. Leschzyk Romanistisches Kolloqium Bisher sind erschienen: Frühere Bände finden Sie unter: https: / / elibrary.narr.digital/ Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Romanistik und neue Medien Romanistisches Kolloquium XVI 2004, 344 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-5121-4 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweikard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Lengua, historia e identidad - Sprache, Geschichte und Identiät Perspecitva espanola e hispanoamericana Spanische und hispanoamerikanische Perspektiven Romanistisches Kolloquium XVII 2006, 355 Seiten €[D] 78,00 ISBN 978-3-8233-6132-9 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweikard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Englisch und Romanisch Romanistisches Kolloquium XVIII 2005, 378 Seiten €[D] 74,00 ISBN 978-3-8233-6133-6 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Historische Pressesprache Romanistisches Kolloquium XIX 2006, 292 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-6261-6 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Was kann eine vergleichende romanische Sprachwissenschaft heute (noch) leisten? Romanistisches Kolloquium XX 2006, 427 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-6213-5 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Romanische Sprachwissenschaft und Fachdidaktik Romanistisches Kolloquium XXI 2009, 219 Seiten €[D] 48,00 ISBN 978-3-8233-6311-8 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Zur Bedeutung der Namenkunde für die Romanistik Romanistisches Kolloquium XXII 2008, 287 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-6407-8 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Romanistik und Angewandte Linguistik Romanistisches Kolloquium XXIII 2011, 320 Seiten €[D] 78,00 ISBN 978-3-8233-6669-0 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Die romanischen Sprachen als Wissenschaftssprachen Romanistisches Kolloquium XXIV 2010, 389 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-6595-2 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Südosteuropäische Romania Siedlungs-/ Migrationsgeschichte und Sprachtypologie Romanistisches Kolloquium XXV 2012, 235 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-6740-6 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) America Romana Romanistisches Kolloquium XXVI 2012, 395 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-6751-2 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Romanische Kleinsprachen heute Romanistisches Kolloquium XXVII 2016, 449 Seiten €[D] 98,00 ISBN 978-3-8233-6881-6 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Zur Lexikographie der romanischen Sprachen Romanistisches Kolloquium XXVIII 2014, 276 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-6912-7 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Christina Ossenkop, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Sprachvergleich und Übersetzung Die romanischen Sprachen im Kontrast zum Deutschen Romanistisches Kolloquium XXIX 2017, 436 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-6982-0 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Claudia Polzin- Haumann, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Sprachkritik und Sprachberatung in der Romania Romanistisches Kolloquium XXX 2017, 427 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-8104-4 Lidia Becker, Julia Kuhn, Christina Ossenkop, Anja Overbeck, Claudia Polzin-Haumann, Elton Prifti (Hrsg.) Geschichte des Fremdsprachenstudiums in der Romania Romanistisches Kolloquium XXXI 2020, 280 Seiten €[D] 98,00 ISBN 978-3-8233-8251-5 Lidia Becker, Julia Kuhn, Christina Ossenkop, Anja Overbeck, Claudia Polzin-Haumann, Elton Prifti (Hrsg.) Fachbewusstsein der Romanistik Romanistisches Kolloquium XXXII 2020, 327 Seiten €[D] 98,00 ISBN 978-3-8233-8418-2 Lidia Becker, Julia Kuhn, Christina Ossenkop, Claudia Polzin-Haumann, Elton Prifti (Hrsg.) Romanistik und Wirtschaft Romanistisches Kolloquium XXXIII 2020, 272 Seiten €[D] 98,00 ISBN 978-3-8233-8420-5 Lidia Becker, Julia Kuhn, Christina Ossenkop, Claudia Polzin-Haumann, Elton Prifti (Hrsg.) Digitale romanistische Sprachwissenschaft: Stand und Perspektiven (noch nicht erschienen) Romanistisches Kolloquium XXXIV ca. 300 Seiten €[D] 98,00 ISBN 978-3-8233-8506-6 Lidia Becker, Julia Kuhn, Christina Ossenkop, Claudia Polzin-Haumann, Elton Prifti (Hrsg.) Geschlecht und Sprache in der Romania: Stand und Perspektiven Romanistisches Kolloquium XXXV 2022, 398 Seiten €[D] 98,00 ISBN 978-3-8233-8584-4 ISBN 978-3-8233-8584-4 Die hier versammelten Beiträge des XXXV. Romanistischen Kolloquiums widmen sich aktuellen Fragestellungen zum Thema ‚Geschlecht und Sprache‘ unter besonderer Berücksichtigung der Diskussion in unterschiedlichen Gebieten der Romania. Dabei wird auch der gesellschaftspolitischen und interdisziplinären Dimension des Themas Rechnung getragen. Nach einer kritischen Präsentation aktueller Debatten und Forschungsfelder der Genderlinguistik und Queeren Linguistik befassen sich drei Beiträge aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit Leitfäden zur sprachlichen Gleichbehandlung der Geschlechter. In fünf weiteren Artikeln wird die Geschlechterreferenz in der italienischen und französischen Pressesprache sowie in galicischen Urkunden des Spätmittelalters untersucht, bevor abschließend der Zusammenhang zwischen Genderdiskursen und Ideologien in unterschiedlichen Kontexten thematisiert wird. ROMANISTISCHES KOLLOQUIUM XXXV